Kulturhauptstadt 2000:Prag - Angekommen in der Heimatstadt

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Franz Kafka wurde in Prag lange verkannt und erst spät entdeckt - inzwischen ist er Museumsobjekt und eine Art Popstar.

Klaus Brill

Alles dunkel hier, logisch: Boden, Wände, Aktenschrankgebirge; keine Buntheit, keine Fenster und kein Tageslicht. Wer Kafka inszeniert, spielt nicht mit Frühlingsfarben oder Sonnenkringeln, sondern mit dem Unanheimelnden, dem leisen Schauder von Schattenrissen, Kohlenhaufen, Labyrinthen.

Kafka und Prag - eine Symbiose, die heutzutage besondere Bedeutung hat (Foto: Foto: AP)

Mesto K. heißt diese dreisprachig präsentierte Ausstellung, The City of K. K. ist Kafka, seine Stadt ist Prag, und die Verbindung der beiden ist in der Literaturgeschichte ein Paradebeispiel dafür, wie einem Autor sein familiäres und heimatliches Umfeld zum künstlerischen Kosmos wird, in diesem Falle zum absurden, angsteinflößenden Gehäuse der Moderne.

Kafkas Prager Zeitgenosse und Kollege Johannes Urzidil brachte es auf die schlichte Formel: "Kafka war Prag und Prag war Kafka."

Prag sah das anders, und so kommt es, dass erst jetzt, 81 Jahre nach seinem Tod, in dieser seiner Heimatstadt, in der er fast sein ganzes Leben verbrachte, ein richtiges Kafka-Museum eröffnet worden ist - "beschämend spät", wie die deutschsprachige Prager Zeitung befand.

In einer früheren Ziegelei, der Hergetova Cihelna am Kleinseitner Moldau-Ufer, unweit der Karlsbrücke, werden durch Darbietung von Dokumenten sowie mit Hilfe modernster audiovisueller Installationen Kafkas Welten ausgelotet: sein konkreter Lebensraum in Prag vor 100 Jahren ebenso wie die imaginäre Topografie seiner Dichtungen, in denen die Stadt mitunter durchschimmert.

"Zu 98 Prozent Ausländer"

Bilder des Judenviertels, an dessen Rand der Dichter 1883 geboren wurde, verschwimmen in Wasserbecken, in ähnlicher Weise lösen Filmaufnahmen des Straßenverkehrs in der multikulturellen Metropole der Jahrhundertwende sich im Ungefähren auf.

Seit Anfang Juli ist die Ausstellung jetzt schon zu sehen, an die 20.000 Menschen haben sie besucht, "zu 98 Prozent Ausländer", wie Hana Lastovickova sagt, die zuständige Kulturmanagerin der Gesellschaft Copa, die das Projekt auf die Beine gestellt hat.

Eine bezeichnende Besonderheit: Nicht die Stadtverwaltung Prags ist Trägerin dieses Museums, sondern die Gesellschaft Copa, die der Schweizer Unternehmer Sebastian Pawlowsky 1996 gegründet hat, um von der Stadt auf lange Sicht historische Gebäude zu mieten, sie zu restaurieren und kulturell wie ökonomisch zu nutzen.

Auch die eigenwillige Kafka-Präsentation ist keine Prager Idee, sondern eine Schöpfung des argentinischen Künstlers Juan Insua, der sie 1999 für das Zentrum zeitgenössischer Kultur in Barcelona entwickelte, in Serie mit Parallelprojekten über James Joyce und Dublin sowie Fernando Pessoa und Lissabon.

2002 und 2003 wurde die Kafka-Exposition mit großem Erfolg im Jüdischen Museum in New York gezeigt, die Ziegelei an der Moldau ist also die dritte Station. So ist es eben mit Kafka und Prag: Der große Sohn musste erst in aller Welt berühmt werden, ehe ihm auch die Vaterstadt ihre Anerkennung zollt. Falls überhaupt.

Unerwünschter Bourgeois

Dies hat natürlich Gründe. Zu Lebzeiten war Dr. jur. Franz Kafka, Versicherungsangestellter, in Prag nur einem Kreis von Freunden ein Begriff, wiewohl bei seinem Tod 1924 kurze Nachrufe in deutschen und tschechischen Lokalblättern erschienen, aus der Feder der Freunde Max Brod und Milena Jesenska.

Die Nazis ächteten Kafka dann als Juden, auch in der kommunistisch regierten Tschechoslowakei war er als literarischer Bourgeois anfangs unerwünscht, erst 1957 erschienen nach früheren Kleinversuchen erste tschechische Ausgaben seiner Werke.

Als 1963 in Liblice eine legendäre Expertenkonferenz, die vom argwöhnischen Zentralkomitee der KP bis hin zur Tischordnung überwacht wurde, sich mit ihm befasste, war dies der Beginn eines Wandels, der 1964 einen Auftritt des aus Tel Aviv angereisten Kafka-Freundes Max Brod und eine erste Kafka-Ausstellung im Museum der tschechischen Literatur im Prager Kloster Strahov nach sich zog.

"Seit dieser Zeit wurde Kafka zu einem Mythos hier", sagt Nadezda Macurova, die Archivleiterin des Literaturmuseums.

Prag
:Die Heimatstadt von Franz Kafka

Allerdings nur für Intellektuelle, wie anderswo auch. Der "Prager Frühling" gab Kafka neuen Auftrieb, der Einmarsch der Panzer 1968 beendete auch diesen, und erst die revolutionäre Wende von 1989 ebnete ihm auch in Tschechien den Weg.

Bald danach gründete sich in Prag eine Franz-Kafka-Gesellschaft, die nicht nur Kafkas Erbe, sondern überhaupt die einzigartige Tradition der Prager deutschen Literatur und ihres pluralistischen kulturellen Umfelds pflegt.

"Immer, immer mehr Sachen"

Nach 15 Jahren geht nun im eigens gegründeten Franz-Kafka-Verlag die erste tschechische Gesamtausgabe seiner Werke der Vollendung entgegen, auch in der Erforschung der tschechischen Aspekte von Kafkas Leben und Werk gibt es noch Nachholbedarf.

"Wir finden immer, immer mehr Sachen", sagt der Prager Literaturhistoriker Josef Cermak, der vor 1989 illegal unter Pseudonym über Kafka schrieb und dafür verfolgt und verhört wurde. Er ist einer der vier Gründer der Kafka-Gesellschaft und hat auch die Ausstellungsmacher in Barcelona beraten, weshalb bereits viel Tschechisches eingeflossen ist.

Erst jüngst hat Cermak ein Buch über falsche Kafka-Mystifikationen veröffentlicht, ein weiteres über Kafkas Tätigkeit bei der Versicherung Assicurazioni Generali am Wenzelsplatz bereitet er vor, mit exklusiven Fotos.

Das ist der Stoff, aus dem die Träume der Kafka-Enthusiasten sind. Sie bringen seit Jahren schon Kafkas weltweite Bekanntheit auch in Prag zum Widerhallen, zu all ihren anderen Sehenswürdigkeiten hat die Stadt an der Moldau auch den Dichter zurückbekommen, der von ihr sagte: "Dieses Mütterchen hat Krallen."

Der Scheueste der Scheuen

Jenseits der seriösen Kennerschaft hat eine gnadenlose Kommerzialisierung seinen Namen, sein Porträt und seine signifikanten Strichzeichnungen auf Tassen und T-Shirts ausgestreut.

Seit es das Kafka-Museum gibt, erhascht man seinen ängstlichen Blick auch von Litfaßsäulen und Zeitungsannoncen, wo sein Foto für die neue Attraktion wirbt. Der Scheueste der Scheuen wird zur allgegenwärtigen Ikone einer globalisierten Kultur, die auch von seiner Vaterstadt Prag Tribut verlangt.

So gibt es seit ein paar Jahren einen Franz-Kafka-Platz und im Geburtshaus das Franz-Kafka-Restaurant, auch eine Statue wurde aufgestellt.

Prag und Kafka - es ist ein Fall von automatischer Selbstvermarktung. Wo sonst lässt sich eine Stadterkundung so bequem mit der Spurensuche im Leben und Werk eines großen Künstlers verbinden?

Man braucht ja bloß den Katalog des Kafka-Museums oder eines der anderen verfügbaren einschlägigen Werke zu studieren, in denen noch einmal die Schwarz-Weiß-Fotografie grandiose Triumphe feiert.

Im Prager Stadtplan aus der Zeit um 1900 lassen Wohnungen und Lebensstationen erkennen, dass Kafka sich Tag für Tag in vielen jener Gassen rund um den Altstädter Ring bewegte, die heute aus anderen Gründen zu Trampelpfaden des Tourismus verkommen sind.

Ein Leben eingeschlossen in einem Kreis

Und ist man eine Weile in seinem Leben herumgeschlendert, hat gar auch das Hotel gesehen, das im Gebäude der einstigen Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen zu finden ist (Kafkas angebliches Büro ist heute Zimmer 214), dann begreift man rasch, was der Dichter meinte, als er seinem Hebräischlehrer vom Fenster aus sein Gymnasium, die Universität und das Büro zeigte und sagte: "In diesem kleinen Kreise ist mein ganzes Leben eingeschlossen."

Das Interesse an solchen Informationen ist groß. Der Österreicher Harald Salfellner, der sich vor Jahren als Autor und Verleger in Prag niederließ, hat ein Buch über Franz Kafka und Prag in drei Jahren mehr als 80.000 Mal verkauft, in sechs Sprachen, die deutsche Ausgabe geht im Frühjahr in die sechste Auflage.

Eine tschechische kam bisher mangels Nachfrage nicht zustande, und dass möglichst viele Tschechen, junge zumal, ins neue Kafka-Museum kommen mögen, ist vorerst auch nur eine Hoffnung. Als in einer tschechischen Fernseh-Show vor einigen Monaten der größte Tscheche gesucht wurde, kam Kafka bei der Abstimmung der Zuschauer auf Platz 55.

Vor dem Museumseingang an der alten Ziegelei steht übrigens, wie ein Monument, ein großes K. Es ist vor kurzem frisch gestrichen worden. Schwarz.

© SZ vom 26. 9. 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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