Kulturhauptstadt 2000:Helsiniki - Das finnische Gefühl

Unterwegs in den Straßen und Kneipen von Helsinki auf der Suche nach einem vielgestaltigen Geheimnis.

Alexander Menden

Im Zentrum Helsinkis leuchtet vom Gebäude gleich neben dem Bahnhof eine Neonreklame auf die Stadt herab. Sie taucht die vier nordisch strengen Granitgestalten, die den Haupteingang des Bahnhofs bewachen, in weißes Licht: "Sampo", sagt die Schrift.

Sampo.

Unten, im "Wanhan Kellari", dem Keller des alten Prüfungshauses, tanzen am Freitag Abend sehr viele Menschen. Erst tanzen sie zwei Tangos - die etwas schwermütige finnische Variante - dann tanzen sie zwei Walzer. Dann erklingt die erste Humppa, ein Ableger der Polka. Die Menschen, gekleidet in Erbsgrün und Perlonblau, bewegen den Oberkörper vor und zurück, ihre Beine schieben sich in einer Art Trippeln voran.

Eine Frau wird vom Türsteher freundlich, aber bestimmt hinausbefördert. Sie hat ihren Tanzpartner tätlich angegriffen. Bei der zweiten Humppa merkt der Besucher, der mit Käse gefülltes Hühnerfilet isst statt zu tanzen, dass er im Geiste begonnen hat, der Humppa-Melodie seinen eigenen, monotonen Text hinzuzufügen: "Sampo, Sampo, Sampo."

Sehr gute Englisch-Kenntnisse

Das Wort ist keineswegs das fremdartigste, das dem der finnischen Sprache Unkundigen hier begegnet. Im Gegenteil, aufgrund seiner Kürze, seiner Doppelvokal- und Umlautfreiheit, schmiegt es sich gleich ins Klanggedächtnis. Es summt und hüpft im Kopf herum. Summt noch, als der "Wanhan Kellari" sich derart füllt, dass der Besucher Helsinkis Nachthimmel vorzieht, unter dem jetzt Grüppchen fast ausschließlich blonder Jugendlicher umherschlendern.

Da steht es wieder. Über einem Geldautomaten diesmal: Sampo. "Entschuldigung, ich meine: anteeksi, was ist denn das, ein ,Sampo'?" Die zwei angesprochenen Mädchen bleiben tatsächlich stehen; sie verstehen und sprechen sehr gut Englisch, wie viele Finnen: "Das? Oh, das ist eine Bank." Lächelnd sagen sie's und gehen weiter. Ach so, eine Bank. Ein banales Geldinstitut. Wie enttäuschend.

Das erste Bier im "Zetor", einer geräumigen Kneipe, in der tschechische Traktoren die Rolle von Tischen übernommen haben, lässt die ohnehin schon schwindenden Sampo-Gedanken für diesen Abend endgültig verfliegen. Man nimmt auf dem Fahrersitz eines "Zetor"-Trekkers Platz und trinkt sein Bier. Ein bärtiger Mann tritt hinzu; sein Oberhemd schmückt ein mit der amerikanischen Flagge gemustertes Herz.

Helsiniki - Das finnische Gefühl

Er ist sehr mitteilsam. Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, Finnen seien wortkarg? Sie sprechen sogar ziemlich viel, Englisch oder Schwedisch. Viele sprechen auch Deutsch, und wenn man einen Übersetzer dabei hat, stellt auch Finnisch kein Problem dar. "So einen Traktor hatte ich auch mal", sagt der bärtige Mann auf Finnisch und schwankt etwas. "War ein guter Traktor. Nur ein bisschen zu laut." Alle auf dem Traktor und um den Traktor herum trinken Bier für fünf Euro das Glas; zwischendurch dreht man zum Zeitvertreib am Lenkrad. Das "Zetor" ist ein gutes Lokal.

Ein Mann, dessen Bartwuchs noch kräftiger ist als der des Zechkumpans der vergangenen Nacht, beugt sich vor und bläst in seinen Schmiedeofen. Nicht Alberich und auch nicht Hephaistos bringt auf dem Deckenfresko in der Eingangshalle zum "Kansallismuseo" die Esse zum Glühen. Dieser Schmied, so erfährt der Besucher, heißt Ilmarinen. Der erst nationalromantische, später dann den finnischen Jugendstil prägende Maler Akseli Gallen-Kallela setzte das Gemälde 1928 ins Kreuzgewölbe des massigen Nationalmuseums. Sein Titel lautet "Wie der Sampo geschmiedet wurde". Wieder dieses Wort.

Obwohl man den Ofen nur von hinten sieht, ist eines klar: Eine Bank schmiedet Ilmarinen da sicher nicht. Keine zum Hinsetzen und auch keine zum Geldaufbewahren. Wer so bläst, der bereitet etwas nie Dagewesenes vor, etwas Einmaliges, Wunderbares.

Blick ins Nationalepos

Ersten Aufschluss bringt der Blick in die "Kalevala", das von Elias Lönnrot aus vielen Mythen zusammengesetzte und in Verse gebrachte finnische Nationalepos. Dessen zehnter Gesang berichtet davon, wie der Meisterschmied Ilmarinen an die Grenze des wilden Nordlands Pohjola kam. Louhi, des Nordlands Wirtin, versprach, ihm ihre Tochter zur Frau zu geben, wenn er für sie den Sampo schmiede.

Ilmarinen baute eine Esse, legierte viele Metalle und schließlich, nach einigen Fehlversuchen, gelang es ihm, den Sampo herzustellen. Der Sampo konnte laut "Kalevala" "auf einer Seite Mehl, auf der andern Salz, auf der dritten Geld in Fülle" ausspucken. Außerdem hatte er einen "Deckel von vielen Farben". Es heißt, dass demjenigen, der den Sampo besitzt, allenthalben nur Gutes widerfährt. Der Sampo - eine Art Glück spendende, mechanische, eierlegende Wollmilchsau mit einem bunten Käppchen?

Vielleicht hat ja Akseli Gallen-Kallela, der so viele Geschichten der "Kalevala" illustrierte, den Sampo irgendwann einmal gemalt? Auf seinen Hauptwerken im Ateneum, der Finnischen Nationalgalerie, findet sich nichts. Doch neben Gallen-Kallela entdeckt man bei dieser Gelegenheit noch weitere faszinierende, in Deutschland wenig bekannte finnische Künstler. Vor allem Magnus Enckel, der sich als Erster vom Naturalismus abwandte und dem französischen Symbolismus Eingang in die finnische Kunst gewährte; einen düsteren Charme hat auch der Gallen-Kallela-Schüler Hugo Simberg mit seinen ironisch-versponnenen Teufels- und Todesbildern. So mythisch ihre Themen jedoch auch sein mögen: Der Sampo taucht nirgends im Bild auf.

Helsiniki - Das finnische Gefühl

Hinaus also nach Tarvaspää. Akseli Gallen-Kallela selbst entwarf dieses Atelier- und Wohnhaus an der Grenze zwischen Helsinki und dem Vorort Espoo; beim Bau zwischen 1911 und 1913 fasste er auch mit an. Heute beherbergt Tarvaspää das Gallen-Kallela-Museum und bietet wechselnde Ausstellungen mit Grafiken und Gemälden des Künstlers.

Eine enge Wendeltreppe führt aus dem marmorgefliesten Portikus bis in ein kleines Turmgelass. Es gibt den Blick in alle vier Himmelsrichtungen frei, auf Wald, See und die nahe Autobahn. Auf halber Höhe zwischen dem geräumigen Erdgeschoss und dem ersten Stock ist ein Bad mit Bidet eingelassen - eins der ersten in Finnland, wie das Info-Blättchen verrät. "Ist hier im Hause irgendwo der Sampo abgebildet?" "Ich glaube nicht." Die Dame an der Museumskasse lächelt. "An Ihrer Stelle würde ich in der Stadt nachsehen. Da sieht man den Namen Sampo überall."

Naja, soweit waren wir schon. Tarvaspää ist trotzdem ein höchst lohnendes Ausflugsziel.

Helsinki - Paradies für Flaneure

Wenn die Sonne scheint, ist Helsinki auch spät im Jahr noch ein Paradies für den Flaneur. Erhebend ist es, die Esplanade zum Hafen hinabzuschlendern. Viele Juweliere und Modegeschäfte gibt es, besonders einladend wirkt jedoch das Café "Kappelli" mitten auf dem Boulevard.

Auch vor diesem nobel wirkenden Pavillon regulieren, wie in fast allen Restaurants Helsinkis, Türsteher den Gästeandrang. Ein Besuch in dem weitläufigen Café verschafft Zeit und Gelegenheit, Sampos aufzulisten. Einige sind dem Besucher mittlerweile begegnet auf seinem Gang durch die innerstädtischen Viertel Ullanlinna und Katajanokka mit ihren herrlichen Jugendstilensembles und ihren breiten Gebäuden im Stil der Neuen Sachlichkeit.

Was für Sampos es nicht alles gibt: Sehr beliebt ist zum Beispiel der so genannte Sampo-Schmuck. Er ist dem alten, mittelalterlichen Silberschmuck nachempfunden, der 1887 im Südwesten Finnlands, in Halikko, von einem Bauern ausgegraben wurde. Heute kann man ihn im Nationalmuseum bewundern.

Helsiniki - Das finnische Gefühl

Es gibt aber auch Sampo-Elektronik und Fitness-Sampo, Foto-Sampo und Sampo-Teppiche. Wahrscheinlich kann man auch irgendwo ein Sampo-Shampoo kaufen. Fragt man aber die Einheimischen, die die "Kalevala" sämtlich aus der Schule kennen, was denn der Sampo sei, erntet man ein Achselzucken. Keiner hat je das Original gesehen. Alle wissen nur, dass der Sampo etwas Gutes ist.

Der Besucher hat in der alten, backsteinernen Markthalle am Hafen gerade ein wenig Rentierfleisch gekauft und Moltebeeren-Marmelade, eine finnischen Spezialität, da winkt ihm der Kapitän eines kleinen Motorboots. Es fährt hinaus zur Saunainsel Saunasaari. Dass das Klischee über die Schweigsamkeit der Finnen nicht stimmt, hat der Besucher ja bereits erwähnt. Dass sie aber alle gern und ständig in die Sauna gehen, das ist die lautere Wahrheit. Auf der Saunainsel, in Rufweite der Seefestung Suomelinna aus dem 18. Jahrhundert, setzt man sich in die traditionelle Rauchsauna. Da sitzt der Besucher und schwitzt und springt anschließend direkt aus der Tür in die Ostsee.

Und dann, im Warmwasser-Zuber mit Blick auf die Bucht, verdichtet sich eine Ahnung zur Gewissheit: Jeder Finne, jeder Mensch hat seinen eigenen Sampo. Ein nicht zu teures Bier vielleicht. Einen Nachmittag im "Kapelli" oder im Ateneum. Einen Abend mit freundlichen Leuten im "Zetor". Ein Bidet im Zwischengeschoss. Oder einen Zuber mit 45 Grad warmem Wasser, den Regen auf den bloßen Schultern und in der Ferne die Hafenansicht von Helsinki. Der Sampo ist kein Gegenstand. Der Sampo ist ein Zustand.

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