Kulturhauptstadt 1990:Glasgow - Das begehbare Gürteltier

Neue Hülle für die schmutzige Haut: Die Schmuddelstadt Glasgow wird zum strahlenden Exempel kosmopolitischer Eleganz. Entdecken Sie eine Stadt, der eine zweite Chance gewährt wird - und die sie auch nutzt.

Anna Schaffner

Das Viadukt, unter dem der Hintereingang von "The Arches" liegt, schimmert nur schwach. Über dem Kopf verlaufen angerostete Stahlstreben und stützen rußgeschwärztes Holz. Müll und zersplittertes Glas liegen am Gehsteig. Menschliches Strandgut fließt stadtauswärts vorbei.

Kulturhauptstadt 1990: Ein Ort, an dem man sein sollte: Glasgow ist weit vor London und Edinburgh zum beliebtesten Reiseziel der Insel gewählt worden. Die Stadt gilt als cool und schnell.

Ein Ort, an dem man sein sollte: Glasgow ist weit vor London und Edinburgh zum beliebtesten Reiseziel der Insel gewählt worden. Die Stadt gilt als cool und schnell.

(Foto: Foto: seeglasgow.com)

Nur ein Irrtum führt einen hierher, abseits von Glück und Zeit. Ein paar Meter weiter, ein Schwenk nach links, und das Szenario des Abgesangs wandelt sich in das edle Design des Erfolgs: Glasgows schickster Szeneclub. Grün glitzert der Schriftzug über dem vorderen Eingang der einst ausrangierten Fabrikhalle. Kein zufälliges Ereignis in Glasgow, vielmehr ein fortwährendes Déjà-vu.

Glasgows Gesicht zeigt Züge einer noch unvollendeten Operation. Viel Geld wird investiert, damit das Hässliche dem Schönen weiche, und das Ergebnis soll nicht nur dem Auftraggeber gefallen. Falten werden retuschiert, und nicht immer gelingt, was der Architekt dem Gesicht verspricht.

Paralleluniversum von Alt und Neu

Aus der Oberfläche treten dann die Reliquien des Vergangenen und gaukeln einem unverdrossen und vielfach renoviert ihren Anspruch auf Repräsentation vor. Die Geschichte hat Narben hinterlassen, und wer das Messer schlecht gesetzt hat, starrt nach der Operation in ein Paralleluniversum von Alt und Neu.

Unter Glasgows neuer Hülle gibt es auch Geschichte. Versteckt taucht sie an Straßenecken, am Hafenquai, in den Gassen des Kaufmannsviertels auf, weshalb sich die Mehrzahl der Fremden erst gar nicht die Mühe macht, dort abzusteigen. Ein Industriemoloch, dessen Glaubenskämpfe nicht in Kathedralen ausgetragen werden, sondern in Fußballstadien.

Eine Stadt, verkommen wie die 80er Jahre im Großbritannien der Eisernen Lady. Was dem Staat auf der Tasche liegt, wird wegrationalisiert; und das gilt beinahe für ganz Glasgow. Die Stadt verkommt. Die Dimension der Verödung ist in Europa ohne Vergleich.

Seit wenigen Jahren vernimmt man einen anderen Ton. Glasgow wird, weit vor London und nur von Edinburgh geschlagen, zum beliebtesten Reiseziel der Insel gewählt. Vielmehr noch gilt die Stadt jetzt als cool und schnell. Ein Ort, an dem man sein sollte; dem eine zweite Chance gewährt wird, und der sie auch nutzt.

"In den Arches", erzählt Ian, "ist der Underground längst zum Establishment geworden"; man zelebriert sich selbst. Designerklamotten reiben sich an Designermöbeln, das neueste Album von den Delgados schiebt sich durch Stimmengewirr. Ian ist Maler, vor Jahren von den Schafheiden der Lowlands in die Metropole gezogen.

"Die Bedingungen für uns sind besser als in den anderen britischen Städten. Edinburgh ist gut, Glasgow besser. Man muss hier kein Erbe antreten, weil keines hinterlassen wurde; kein Mittelalter, höchstens ein bisschen Mackintosh. Niemand quatscht hier rein. Du triffst dauernd neue Leute, die neue Sachen machen, neue Läden gründen und neue Projekte laufen lassen."

Und so fällt ihm als Vergleich einzig New York ein, das er nicht kennt. Aber er weiß, dass man es dort mit demselben Gemisch aus Multikultur, Weltbürgertum und Offenheit für neue Konzepte zu tun hat.

Glasgow - Das begehbare Gürteltier

Ein erster gewagter Schnitt: Um den endgültigen Niedergang zu vermeiden, initiiert man Mitte der 70er Jahre das damals größte Sanierungsprojekt Westeuropas. Der Ostteil der Stadt, mit seinen ruinösen viktorianischen Bürgerhäusern, soll vor der vollkommenen Verslummung gerettet werden. Die Zeichen stehen auf Abbruch, doch entschließt man sich zuletzt zur Restaurierung.

glasgow science centre

Symbiose aus Glas und Stahl: Auch das Glasgow Science Centre wartet mit moderner Architektur auf.

(Foto: Foto: seeglasgow.com)

Ein erster Tropfen auf einem sehr heißen Stein. Ein Farbfleck im Grau des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Thatcher-Jahre lassen die Stadt bluten; in einem Jahrzehnt verlieren knapp 200.000 Menschen ihre Arbeit. Ganze Industriezweige werden sukzessive geschlossen, der Schiffbau kollabiert.

Die Queen Elizabeth 2, Britanniens Flaggschiff, verlässt die Glasgower Werft und muss in Deutschland mit neuen Motoren bestückt werden. Die Stadtherren jedoch sanieren weiter. Ein neues Konzept soll das Image der morbiden Industriestadt ändern - das Projekt "Architektur" soll die Stadt neu konturieren.

Eine Beziehung zwischen räumlichen Abständen und wirtschaftlicher Dynamik schwebte bereits Charles Rennie Mackintosh vor, dem Giganten schottischer Architektur. Das war vor 100 Jahren. Seine Position im heutigen Stadtbild Glasgows ist der Antoni Gaudís in Barcelona ähnlich. Die Zeit, das Fin de siècle, teilen sie sich, und so verwundert es nicht, dass der Jugendstil noch heute das Straßenbild prägt.

Mackintoshs Aufstieg überschneidet sich mit einer Welle schottischen Konjunkturwachstums. Der folgt ein zunehmender Zuzug, eine massive Urbanisierung Glasgows. Die Werften am Clyde, Glasgows Wasserweg, gehören zu den produktivsten der Welt. Der imperialen Ausdehnung des Königreichs folgt ein Industrialisierungsschub. Goldene Zeiten für Architekten. Auch für Mackintosh. Er baut Schulen, eine Kirche, Wohnhäuser und seine berühmten Teestuben.

Der Willow Tea Room in der Sauchiehall Street ist die Kehrseite der "Arches". Ein baumwollweißes Perückenmeer beugt sich über ein paar Tassen "Earl Grey". Mackintosh sitzt in der Ecke und rührt den Zucker - frisch importiert aus Indien - mit dem Silberlöffel. Oder doch nicht? Es riecht nach Kandis, und so war es vermutlich schon vor hundert Jahren. Das Teehaus soll ein Treffpunkt der marginalisierten Abstinenzlergemeinde sein. Entworfen hat es ein notorischer Alkoholiker, dem man die Heuchelei nicht ansieht.

Von der Lampe bis zum Löffel, alles stammt von Mackintosh. Sogar die Kellnerinnen könnten auf Originalentwürfe zurückgehen. Zeit ist doch zyklisch. Die Künste müssen in Symbiose treten, behauptete Mackintosh, zuerst miteinander und später auch mit den neuen Wissenschaften und Technologien; und später dann mit uns, dem nostalgischen Publikum. Architektur muss, so Mackintosh, auf die Umwandlung der Werte reagieren.

Ähnliches, wenn auch in anderer Form, forderte man in der Architektur der Postmoderne, in den beginnenden 80er Jahren und später. Ausgehend von Mackintoshs Arbeiten, soll sich eine neue Architektur im Stadtinneren entwickeln. Kunst soll sich mit den wirtschaftlichen und historischen Fakten Glasgows verflechten.

Glasgow, weiß man im Stadtrat, genießt die Reputation, langweilig, dreckig und bedrückend zu sein. Also versucht man, den strengen Kontext vorgegebener Architektur zu brechen; reißt manchmal nieder und restauriert zuweilen vorsichtig. Den wenigen existierenden Gebäuden der "Scottish Renaissance" und der "Art Nouveau" wird integrativ die Postmoderne zugesellt. Chirurgen werden verpflichtet. Dabei forciert man vorerst kaum große Namen.

Eine Vision schwirrt durch die Köpfe

"Das neue Glasgow setzt vollends auf die Belebung der Innenstadt, auf kleinere finanzierbare Projekte", erklärt man in den "Arches". Zufrieden registriert man die Cafés, Läden und Bars, die entstanden sind - und nicht sofort wieder zugesperrt haben.

Eine post-industrielle kosmopolitische Vision schwirrt durch die Köpfe. So verändert die Stadt allmählich ihre Erscheinung. Das "Italian Center", eine ehemals schmuddelige Markthalle, treibt heute die Schickeria von Glasgow in seine Boutiquen - "früher flog sie nach London; heute jetten die Londoner hierher, shoppen tagsüber und gehen abends ins umgebaute Tron Theatre. Urlaub in Glasgow, unvorstellbar", lacht Ian.

Studenten haben die Stadt als erste für sich entdeckt - die Caledonia University ist beizeiten erweitert worden - mutige Entwürfe, allesamt einen Besuch wert. Nichts Langweiliges und Zahmes - im Gegenteil: Neue Material- und Formerkundungen triumphieren. Architekten für die Vielzahl der Projekte lassen sich leicht finden. Es reicht schon ein Gang in die "Glasgow School of Arts", eine der renommiertesten Ausbildungsstätten für Architekten in Europa.

Glasgow - Das begehbare Gürteltier

Kulturhauptstadt 1990: Glasgows neues Architektur-&-Design-Center - das Lighthouse

Glasgows neues Architektur-&-Design-Center - das Lighthouse

(Foto: Foto: seeglasgow.com)

Am Ende der Renfrew Street fallen zuerst die vielen jungen Menschen auf, die im scheinbaren Nichts herumstehen. Ihr Tribut an die seltene Sonne. Grau ist Glasgow oft, die gewöhnliche Wohnstraße hier allemal, ein paar hässliche Häuser, Relikte der 60er Jahre, als man die Schule zum zweiten Mal ausbaute.

Die gleiche Intention hatte man einige Jahrzehnte zuvor, als die wachsende Zahl der Studenten zunehmend Probleme verursachte. Mackintosh gewann die Ausschreibung. Er baute Glasgow sein berühmtestes Gebäude. Streng und nüchtern schaut das aus, vertikal, schön durchbrochen vom asymmetrischen Toreingang.

Mackintoshs Schule wurde, anders als der größte Teil seiner Architektur, nie zweckentfremdet. Hinter hohen und langgezogenen Fenstern debattieren angehende Architekten neue Eingriffe. Beim Denken zuschauen kann man ihnen nicht; dafür einen Blick in die Verlassenheit des vielleicht schönsten Bibliothekssaals Großbritanniens werfen, eines dunkel getäfelten Raums, elegant, hochmodern, jedoch ohne Leser - mit dem schmucklosen Wissen um Funktionalität gebaut, die immerhin von den Besuchern bewundert wird.

Die tiefe Verehrung, die Mackintosh entgegengebracht wird, zeigt sich jedoch in einem anderen Gebäude. In einer engen Gasse gelegen, in vertikalem Lettern steht "The Lighthouse" an die Wand geschrieben. Glasgows neues Architektur & Design Center, erbaut von Mackintosh, umgebaut 1999, dem Jahr, in dem Glasgow zur Architekturstadt des Jahres ernannt wird.

Die Stadt dokumentiert sich darin selbst. Regeneration ist längst zum Credo der Glasgowegians geworden, Architektur und ihre Rezeption sind nicht mehr beiläufig. Im "Lighthouse" dürfen sie Zukünftiges und Abgeschlossenes betrachten. Das "Project5Spaces" zum Beispiel, fünf Groß- Installationen an der bisher vernachlässigten Peripherie. Entwürfe des Architekturnachwuchses in einem anderen Stock. Und natürlich auch die Großprojekte, die sich die Stadt am Clyde seit einigen Jahren leistet.

Dunkel treibt der Fluss unter der Glasgow Bridge. Dampf steigt von der Oberfläche, die dreckig und ölig schimmert. Vom alten Hafen sind nur die Narben sichtbar - die riesigen Ruinen der alten Bilstands Bakeries Fabrik und Washington Flour Mills. Doch auch der Fluss soll wiederbelebt werden - zuviel hängt an der Symbolik der einstigen Glasgower Lebensader.

"Glasgow made the Clyde and the Clyde made Glasgow". Schiffe aller Art begannen hier den Weg über den Atlantik, machten, dass New York oft näher lag als das Hinterland. Auf Gedeih und Verderb war man auf die Schiffe voll Tabak, später dann Wolle und Tuch, angewiesen - und auf die Arbeitskräfte, vor allem aus Asien, die in den Zechen und Werften Arbeit fanden. "Edinburgh war zwar die Kapitale, aber Glasgow besaß das Kapital."

So soll es wieder werden, mit anderen Mitteln versteht sich. Die letzten Sonnenstrahlen fallen über das "Armadillo", ein riesiges Gürteltier aus stählernen Schalen, gebaut von Sir Norman Foster für 3000 Menschen, die noch immer Elton John hören und "Cats" sehen wollen. So trostlos auch der Zweck sein mag, das "Armadillo" hat Klasse. An der Peripherie ist man immer am mutigsten.

Direkt am Fluss ist es der Mittelpunkt eines Ausstellungs- und Konferenzzentrums, dass sich über kurz oder lang zu Glasgows neuem Wahrzeichen entwickeln wird. Am ehemaligen Queens Dock gelegen, zollt es auch der Vergangenheit Tribut; gleicht ineinander geschobenen Schiffsrümpfen und stellt dann derart die tiefe innere Beziehung zu seinem Standort und zur lokalen Geschichte wieder her.

Auf dem Weg zurück in die Innenstadt ist nicht zu übersehen, dass auch hier eine erstaunliche architektonische Freiheit herrscht. Hier gibt es keine mittelalterliche Vorgabe wie in Edinburgh. Glasgow besitzt keine Einheitlichkeit im Gefüge der Stadt. Mackintoshs Linearität wird sofort durch die Schnörkel der Postmoderne gebrochen, denen wiederum ein Turm aus der schottischen Renaissance gegenübersteht. Glasgow ist nicht in sich geschlossen und auch nicht sonderlich originell, bietet also Platz für Innovation und Experiment.

Dieses Gefühl bekommt man bei der letzten Pint in den "Arches" vermittelt. Hier tut sich was, nicht nur architektonisch. Der Pop aus Schottland überspült Europa, und die Glasgower Filmlandschaft heimst nicht erst seit "Trainspotting" Preise ein. Nur London produziert mehr. Und wer A. L.Kennedy noch nicht gelesen hat, sollte damit anfangen. Das Projekt Kultur scheint sich in Glasgow bezahlt zu machen. Die permanente und positive Präsenz in den britischen Medien lockt nun auch Investoren in die Stadt. Das Silicon Glen, Schottlands Pendant zu Kaliforniens Computeragglomeration, ist am Entstehen.

Oder aber die "Homes for the future", ein Wohnbauprojekt am Saltmarket, einer einst verrotteten Gegend der Innenstadt. Keine Monolithen, wie man sie am Stadtrand zur Genüge findet, vielmehr organische Formen, lebenswert für die, die sie sich leisten können. Hier scheint allerdings auch ein Problem der Neugestaltung Glasgows zu liegen. Der Mietspiegel der Innenstadt explodiert. An Mietern ist freilich kein Mangel, die Klientel besteht jedoch zumeist aus Wahlglasgowern.

Dort, am Saltmarket, genauer am Gallowgate, dem einstigen Henkersplatz von Glasgow, ist am nächsten Morgen Flohmarkt. Der ausgestoßene Rest der Vorstadt, der durch das Sieb der Projektfreude fließt, verkauft die Überreste der Operation.

An einem Holzgerüst hängen Kugellampen, seit Menschengedenken ohne Birne und Funktion, verstaubte angerostete Rohre, zwecklos wie die gelben Helme ehemaliger Werftarbeiter. Die Essenz dessen, was die Stadt abgewiesen hat. Und so bleibt für den Fremden, der die Stadt verlässt, nicht nur der schöne Schein eines gelungenen kosmetischen Eingriffs.

INFORMATIONEN

Das Glasgow Tourist Board befindet sich am 11, George Square, Telefon: 0044/1412044480, E-Mail: www.seeglasgow.com. Es vermittelt auch Hotels. Informationen zum Kulturprogramm und eine Vielzahl von Clubs, Bars und Galerien finden sich in der List, dem Stadtmagazin für Glasgow und Edinburgh.

Visit Scotland Cities: viele Informationen zu Hotels, Restaurants und fürs Einkaufen

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