Košice in der Slowakei:Aufwachen aus dem Dornröschenschlaf

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Schlaglichter auf die Vergangenheit:: der Elisabeth-Dom in Košice.

(Foto: AFP/Samuel Kubani)

Geschichte? Kultur? Beides war lange kein Thema in Košice. Nun investiert die Europäische Union in die zweitgrößte Stadt der Slowakei und rüttelt die Einwohner auf. Sie besinnen sich auf ihre Wurzeln - und auf Minderheiten, von denen nur wenige wissen.

Von Cathrin Kahlweit

Košice? Wahrscheinlich hatten diesen Namen auch jene EU-Bürokraten noch nie gehört, die aus den vielen Bewerbungen alljährlich eine bekannte Metropole und eine vergessene Provinzstadt heraussuchen und 365 Tage lang mit Finanzspritzen und Erwartungsdruck zu einem Zentrum von Kunst und Tourismus aufpeppen.

Košice, deutsch Kaschau, ungarisch Kassa, ist eine ideale Zweit-Stadt für diesen Wettbewerb um Fördermittel und Aufmerksamkeit. Es liegt, von Brüssel aus gesehen, fast am Ende der Welt, im Dreiländereck Slowakei, Ungarn und Ukraine. Mit der Bahn braucht man von Wien sechs Stunden, von Berlin doppelt so lange. Immerhin gibt es mittlerweile ein paar wenige Flüge aus Wien und Prag, bald wohl auch aus London.

Was Košice ausmacht? Die 250.000-Einwohner-Stadt hat 13.000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie und immer mehr Jobs in der Hightech zu bieten, eine hübsch renovierte Innenstadt mit alten Bürgerhäusern, Springbrunnen und Universitäten, eine grüne, bergige Umgebung zwischen Hoher Tatra und Karpaten. Die Stahlstadt Košice ist die zweitgrößte Stadt der Slowakei; es läuft nicht schlecht, ökonomisch gesehen.

Kultur? War lange kein echtes Thema mehr. Geschichte? Als Geschichte galt, was vorbei und vergessen ist. Berühmte Köpfe der Stadt - ausgewandert, verdrängt. Eine gemeinsame Identität? Nicht in den Plattenbauten am Stadtrand und unter den vielen kleinen Minderheiten dieser einst so großen Stadt. Und jetzt Kulturhauptstadt? Genau.

60 Millionen EU-Euro sowie noch einmal knapp 30 Millionen von Kommune und Staat waren selten besser angelegt. Das sieht man allerdings nicht auf den ersten Blick, und auf den zweiten auch nicht. Denn sehr wenig von dem, was vollmundig angekündigt war, ist fertig. Der Kulturpark Kasarne, ein riesiges Areal aus alten Kasernen, in denen Tanz- und Künstler-Studios, ein Kindertechnik-Museum sowie ein Kinderbuchmuseum entstehen sollen: eine matschige Baustelle. Die Kunsthalle, ein ehemaliges Schwimmbad, die Ausstellungen moderner Kunst beherbergen soll: eine staubige Baustelle. Das Ostslowakische Museum: eine Teil-Baustelle. Macht nichts, sagen sie bei der Tourist-Info, Hauptsache, die Investitionsprojekte würden fertig und stünden dann der Bevölkerung langfristig zur Verfügung. Also: Jetzt mit EU-Geldern bauen, später nutzen. Stattdessen konzentriert man sich nun auf Festivals, Musik, Tanz, Gourmets, Wein und auf große Veranstaltungen, auf Lesungen, Konzerte und Partys und natürlich auf Virtuelles und Kreatives, auf Intellektuelles und Theoretisches - was Kulturmanager so ankündigen, wenn sie innovativ sein und ohne viele Mittel einen möglichst großen Aha-Effekt erzeugen wollen.

Während große Taten und große Ideen beschworen werden, wacht die Stadt langsam aus einem Dornröschenschlaf auf. Fragen werden gestellt, auch von Besuchern, von den Medien, die Minderheiten stellen Ansprüche, fordern Beteiligung. Was erinnert an die bedeutende jüdische Gemeinde? Einst war jeder fünfte Bewohner der Stadt Jude, wenig bis nichts weist darauf hin. Wo sind die Roma? Sie sind heute die größte Minderheit, Ende der 80er Jahre wurden sie aus dem Zentrum an den Stadtrand umgesiedelt. Heute leben mehr als 1000 in einem vermüllten, verrotteten Slum mit dem Namen Lunik IX, in zerstörten Plattenbauten ohne Heizung und meist auch ohne Strom, mit leeren Fensterhöhlen, aus denen unterernährte Kinder starren. Fast 100 Prozent der Roma hier sind arbeitslos. Kein Taxifahrer will dorthin fahren, kein Führer sich in das Ghetto wagen. Manchmal verirren sich ein paar junge Roma in die City, als gehörten sie nicht hierher. Aber wo gehören sie hin?

Wo sind die Geister von früher?

Wo sind die Geister von früher? Sándor Márai, der große Dichter, ist hier geboren, der Architekt L'udovít Oelschläger und der Regisseur Juraj Jakubinsko. Was ist aus der multikulturellen Geschichte einer zentralen Handelsstadt geworden, die einst, im Habsburger Reich, zu einigem Wohlstand gekommen war? Was ist die einstige, oft schwierige Gemeinschaft mit Ungarn wert?

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Hell erleuchtet wurde der Elisabeth-Dom bei der Eröffnungsfeier zum Kulturhauptstadtjahr.

(Foto: AFP/STR)

Die Köpfe hinter dem Konzept der Kulturhauptstadt - neben Vladimir Beskid, dem künstlerischen Leiter, ist das unter anderem der deutsche Kulturmanager Ludwig Henne - kennen das Problem. Sie wollen Košice "auf die Landkarte der europäischen Kultur zurückbringen". Dazu aber gehört, sich umzudrehen und zurückzuschauen. Die Stadt hat eine fast 700-jährige Geschichte, die längste Zeit gehörte man zu Ungarn. Kassa nannte man dort die Stadt bis zur Abspaltung nach dem Trianon-Vertrag und der Eingliederung in die Tschechoslowakei. Die politische und ökonomische Elite stellten ungarische Adelige, die einfache Bevölkerung bestand aus einem Völkergemisch aus Slowaken, Tschechen, Deutschen, Ruthenen und Polen.

Oben und unten - das entsprach auch der Geografie; Ober-Ungarn nannte man die Gegend in Budapest. Im 19. Jahrhundert versuchten die Magyaren mit Gewalt, die Region mit den eigenen Leuten zu besiedeln; bis heute wirken die Ressentiments in der slawischen Bevölkerung nach.

Einst war in Košice fast jeder mehrsprachig, heute fehlen schon manchmal ungarisch sprechende Führer, wenn die Gäste aus dem Süden über die Grenze kommen, um die Heimatregion ihres Nationalhelden Franz II. Rákózy zu besuchen. Seine Großtaten als Freiheitskämpfer gegen Habsburg sind im Elisabeth-Dom, einer der größten Kathedralen Osteuropas, in riesigen Wandbildern besungen. Immerhin: Die politischen Spannungen zwischen den Regierungen, der zweiten des slowakischen Premiers Robert Fico und der zweiten seines ungarischen Kollegen Viktor Orbán, haben nachgelassen; Scharmützel über die Rechte der ungarischen Minderheit, die einst zu diplomatischen Verstimmungen führten, werden heute mit weniger Getöse erledigt.

Viele kleine Schritte wurden gemacht, auch in den vergangenen Jahren schon, als das Kulturhauptstadt-Thema bereits vor der Tür stand. Das vergessene Elternhaus des großbürgerlichen Literaten Sándor Márai, der auch in Deutschland erst im vergangenen Jahrzehnt wiederentdeckt wurde, ist zu einem kleinen Museum gemacht worden. Viel ist da nicht zu sehen, ein Film über sein Leben, alte Familienfotos. Aber mittlerweile gibt es so etwas wie Stolz auf den Mann, den man anderswo für so bedeutend hält. Seine Bücher werden auch in Košice wieder gelesen.

Schwieriger ist das Verhältnis zu den letzten Juden der Stadt. Einst lebten hier Tausende, es war eine der größten Gemeinden Osteuropas. 1944 wurden innerhalb weniger Tage vom Bahnhof hinter dem Stadtpark 16.000 Juden aus der Stadt und der Umgebung nach Auschwitz transportiert, Hunderte weitere Transporte über den Knotenpunkt Košice abgewickelt. Heute hat die Gemeinde noch etwa 200 Mitglieder. Die große, neoromanische Synagoge ist mittlerweile ein Künstlerhaus, und die kleinere, die Anfang des 20. Jahrhunderts genutzt wurde, steht oft leer, die Sterne auf den Holztüren und eine hebräische Inschrift am Dach geben Hinweise auf das jüdische Leben, das hier einst florierte. Ein paar Häuser weiter die Verwaltung der Gemeinde, eine koschere Kantine für die Bedürftigen, ein Gemeinschaftsraum, ein kleines Nebengebäude für die Gottesdienste. Der Verein Hidden Child trifft sich hier, er hat gerade mal noch 17 betagte Mitglieder, die während des Nazi-Terrors von Mitbürgern versteckt wurden und so überlebten. Eine Zeitlang kam ein Rabbi aus Budapest zum Schabbat nach Košice, aber er sprach nur ungarisch, und die vielen Reisen waren zu teuer, sagt eine müde Angestellte. "Das konnten wir uns nicht mehr leisten." Heute hält ein israelischer Medizinstudent, der gerade ein paar Semester an der Medizinischen Universität von Košice absolviert, die Gottesdienste, mit ihm könne man, sagt sie, immerhin englisch reden.

Zurück in die Gesellschaft

Wie es der jüdischen Gemeinde in Košice geht, ob sie wächst, gedeiht? Nein, sagt die Dame und zuckt mit den Schultern - die jüdische Gemeinschaft schwindet, es gab eine Vergangenheit, eine Zukunft gibt es nicht. Die Gegenwart immerhin beinhaltet, zum zweiten Mal in Folge schon in diesem Jahr, ein jüdisches Kulturfest im Juli, denn "ungeachtet der Tatsache, dass die Juden eine wichtige Rolle im Leben von Košice spielten, weiß die Mehrheit der Gesellschaft wenig über ihre Persönlichkeiten, ihre Religion, ihre Kultur", heißt es holperig im offiziellen Programm. Man wolle auch "das Judentum und seine Botschaften zurück in die Gesellschaft bringen".

Haben die Roma eine Zukunft? Sie werden immer mehr, ihr Kinderreichtum ist Thema in der Stadt, auch die Zustände in dem Ghetto sind es, das einst, unter dem früheren Bürgermeister, für die ungeliebten Mitbewohner gebaut wurde. Im Sozialismus hätten auch die Roma gearbeitet, weil sie mussten, heißt es unten in der Stadtmitte, heute lebten sie fast alle von Kindergeld und Sozialhilfe. Die Worte "leider" und "Schmarotzer" bleiben ungesagt, aber oft gedacht. Wen man fragt, der zuckt mit den Schultern, Lunik IX ist ein anderer Stern. Was soll man machen?

Weil dort, am Stadtrand, kaum jemand Geld verdient und sich Gas oder Strom leisten kann, werden die Möbel, Fensterläden, Bäume und Sträucher aus der Umgebung verfeuert, der Abfall fliegt aus den Fenstern auf die Straßen, wo die Müllberge wachsen und Kinder in Lumpen spielen. Jeder, der einen Job findet, verlässt das Ghetto, so schnell er kann. Lunik IX ist abgeschrieben. Aber das können sich die Kulturhauptstadt-Organisatoren nicht leisten, vielleicht wollen sie es auch nicht. Also gibt es ein "Diversity-Festival", in dem man ins Ghetto gehen und für ein großes Konzert "Stimmen aus Lunik IX" einbeziehen will. Ein Feigenblatt, wie auch das jüdische Festival? Vielleicht. Kleine Schritte? Auch das.

Blanka Berkyova ist eine Romni, sie kommt aus der Zentralslowakei und hat Landschaftsplanung studiert, auch sie hält Abstand. "Wir haben keine Kapazitäten, um die sozialen Probleme dort zu lösen", sagt sie trocken. Sie meint, Arbeitslosigkeit und Bildungsarmut seien - auch - selbst verschuldet. Mit Kunst könne man immerhin kleine Grenzüberschreitungen meistern, glaubt sie, neulich erst hat sie beim Roma-Ball Bilder versteigert, 5000 Euro sind zusammengekommen, die an den Kindergarten in Lunik IX gingen. Für die großen Lösungen sei die Kultur nicht zuständig.

Andererseits: Vielleicht ist das nachhaltigste, das wirkungsvollste Projekt der Kulturhauptstadt Košice 2013 eines, das "Spots" heißt und es gar nicht auf Kunst anlegt, sondern auf Zusammenleben. Blanka Berkyova leitet einen der fünf Spots, es sind zu kleinen Gemeindezentren umgebaute ehemalige Umspannwerke, die vorwiegend in den Plattenbausiedlungen liegen, dort, wo die Leute leben, die eher nicht zum Konzert von Edita Gruberova gehen oder zum Modern-Dance-Festival. Vielleicht kommt es auch nicht von ungefähr, dass die Romni hier ihre Aufgabe gefunden hat. "Die Seele dieser Projekte ist, dass die Leute ihre Nachbarschaft entdecken, ihre eigenen Kräfte, ihre Fähigkeiten. Man braucht kein Geld für gute Nachbarschaft." Hier werden Lesezirkel veranstaltet und Yoga-Kurse, Patchwork-Handwerken und Impro-Theater, alles selbst organisiert. "Ich klopfe an die Türen der Leute, die hier in der Gegend wohnen, und sage: Was wollt ihr machen? Dann macht es."

Informationen

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Grafik Slowakei

(Foto: SZ Grafik)

Anreise: Košice liegt in der Ost-Slowakei im Dreiländereck Ungarn/Ukraine/Polen. Von Budapest aus braucht man mit Auto oder Zug etwa bis drei Stunden hinauf in den Norden; aus der Hauptstadt Bratislava schafft man die 400 Kilometer in fünf Stunden.

Übernachtung: Hilton, Hlavna 1, Tel.: 00421/ 553 25 11 00, DZ ab 100 Euro ohne Frühstück; Dalia, Hlavná 73/101, www.hoteldalia.sk, DZ ab 70 Euro

Weitere Auskünfte: Das aktuelle Programm der Europäischen Kulturhauptstadt 2013 im Internet: www.kosice2013.sk/en/programme; als nächstes gastiert am 26. Mai das Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra

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