Kanarische Inseln:Am Grund

Museum im Meer: Vor Lanzarote liegt ein Flüchtlingsboot aus Beton, spazieren Menschen blind durchs Leben. Ein Tauchgang mit Tiefgang.

Von Brigitte Kramer

Jason deCaires Taylor hat sich einen besonderen Ort für sein Studio ausgesucht. Unten peitscht der Atlantik, biegen sich schlanke Palmen im Wind. Hier oben, auf der Veranda, dröhnt der Betonmischer. Die Fenster des Ateliers sind schon ganz blind von Staub und Salz. Jason deCaires Taylor hebt und schleppt selbst Zementsäcke, Wassereimer, Gussformen, die er für seine Skulpturen braucht. Der Künstler ist ein kräftiger Mann. Sein dunkles T-Shirt ist mit Meerwasserspritzern, Regentropfen und Betonflecken überzogen. Er trägt Kopfhörer und Mundschutz; beides muss er erst abnehmen, bevor er im Studio an einem improvisierten Schreibtisch erklärt, worum es ihm hier geht. Grob gesagt: um die Verbindung von Kunst und Natur an einem "heiligen Ort", wie der 42-jährige Brite das Meer nennt. "Wir sind aus dem Meer entstanden. Nun gebe ich ihm symbolisch etwas zurück."

Seit Monaten entsteht hier, an Lanzarotes Südküste, das Museo Atlántico, Europas neues, großes Unterwassermuseum. 300 lebensgroße Skulpturen soll das Museum einmal umfassen, bis jetzt sind 60 davon versenkt, nicht weit vom Atelier entfernt, in der Nachbarbucht Las Coloradas. Dort hat die spanische Küstenbehörde eine Fläche von 50 mal 50 Metern zur Verfügung gestellt. Die Figuren stehen am Meeresboden, etwa einen Kilometer vom Strand entfernt; man kann sie tauchend oder schnorchelnd besuchen. Sechs Figurengruppen sind schon mit Metallketten am Meeresboden verankert. Eine besonders beeindruckende heißt "La Balsa de Lampedusa", "Das Schlauchboot von Lampedusa", dessen Dramatik an das berühmte Gemälde "La Balsa de la Medusa", das heillos überfüllte "Floß der Medusa" erinnert. Auf dem Boot sitzen und liegen afrikanische Flüchtlinge. Die Skulptur ist ein Denkmal für all jene, die die Flucht über das Meer geschafft haben. Auch die Kanaren waren für sie ja lange Zeit ein Tor nach Europa. Aber natürlich ist es auch ein Mahnmal für die, "deren Träume und Hoffnungen am Boden des Meeres endeten", wie der Künstler meint.

Die Insel, ihre Natur und ihre Bewohner stehen im Fokus der Installation. Da ist etwa die Figurengruppe "El Rubicón", benannt nach dem Yachthafen beim Museum. Sie zeigt 35 Menschen, die in dieselbe Richtung gehen, den Rubikon überschreiten und dabei gleichgültig wirken. Es sind Abgüsse von realen Menschen, die in der Marina Rubicón arbeiten. Die Figuren haben geschlossene Augen, als ob sie von all dem, was um sie herum passiert, nichts wissen wollten: Korruption, Umweltzerstörung, Werteverlust. Die elegante Hafenanlage wurde ohne Genehmigung gebaut und erst 2003 kurz vor Bauende legalisiert. Oder "Las Esculturas Híbridas", die "Hybrid-Skulpturen": Menschenfiguren, deren Unterkörper Kakteen sind oder aus deren Körpern fleischige Kakteenblätter wachsen. Die Skulpturen sind eine Hommage an die Insel und ihre Vegetation. Der Klimawandel treibt deCaires um. Er hinterfragt aber ebenso die Nutzung digitaler Medien und den damit einhergehenden Voyeurismus. Die Skulptur "Contenido", "Inhalt", zeigt ein gesichtsloses Paar, das ein Selfie macht. Es steht neben dem Flüchtlingsboot und ist, so der Künstler, ein Sinnbild für "die Selbstbezogenheit unserer Gesellschaft".

Die Figuren dort unten, sie sind ein Abbild der Bewohner Lanzarotes. Auf der Insel leben Menschen, die aus mehr als 30 Ländern stammen. Die Gesellschaft, die Jason deCaires Taylor zeigt - das ist die, in der die Museumsbesucher leben. Da kann schon erschauern, wer hinabtaucht. Manches am Meeresboden wirkt gespenstisch. Manches aber auch nur schön. Eine der ersten Besucherinnen, die 16-jährige Touristin Sira Sanz aus Madrid, berichtet nach ihrem Tauchgang von einem Betonbaum, zwischen dessen kahlen Ästen ein Schwarm Fische schwamm: "Das sah aus, als habe der Baum Blätter."

Lanzerote neu
(Foto: SZ Grafik)

Mit solchen Effekten spielt deCaires Taylor: Das Meer macht sich alles zu eigen, gibt dem Menschenwerk eine neue Bedeutung. Erst seit 1. März sind die Skulpturen in zwölf Metern Tiefe am sandigen Grund verankert, und schon überziehen grüne, flaumige Algen und die weißen Röhren kleiner Kalkröhrenwürmer die Figuren. Bald, hofft deCaires, werden Korallenlarven auf den Figuren Halt finden, Riffs könnten im Verlauf von Jahrzehnten entstehen. Der verwendete Beton ist ph-neutral, er schadet der Umwelt nicht und soll Jahrhunderte halten.

Seit zehn Jahren baut deCaires Taylor seine Unterwasserskulpturen - bislang sind sie an der Westküste der Antilleninsel Grenada und vor Cancún in Mexiko zu sehen. Nun entstehen sie auch im Zentralatlantik der Kanaren, auch hier sollen sie die Vergänglichkeit des Menschen darstellen und den Schutz der Meere einfordern.

Aufgewachsen ist der Sohn eines Briten und einer Guyanerin in Südengland und Asien, wo er als Kind zwischen Korallenriffs tauchte. Studiert hat er in London an der Universität der Künste. Schon an der Uni habe er von Unterwasserkunst geträumt, sagt er, "aber damals hatte ich weder Geld noch Auftraggeber".

Underwater Museum Lanzarote

Der Schutz der Meere ist sein Lebensthema: Der Brite Jason deCaires Taylor versenkt insgesamt 300 Skulpturen vor der Kanareninsel.

(Foto: CACT Lanzarote/ Jason deCaires)

Sein neues Projekt läuft seit Anfang 2013. Bis Februar 2017 sollen alle Figuren versenkt sein. Das Museum ist dann komplett - eigentlich eine Rekordzeit für Spaniens langsame Bürokratie. Doch die Verwaltung von Lanzarote wollte das Projekt unbedingt und finanziert es mit 700 000 Euro. Für sie ist das Museum weniger Kulturförderung als vor allem die Investition in eine touristische Attraktion. Lanzarote ist seit 1993 Biosphärenreservat, die Gäste kommen nicht nur zum Baden und Feiern hierher. Sie genießen die eigenwillige Vulkan-Natur der Insel - und wie Künstler sie gestalten. Prägend für Lanzarote ist César Manrique, ein einheimischer Künstler, Architekt und Umweltaktivist, der in den 1980er-Jahren gegen die Verbauung der Küsten und gegen Korruption ankämpfte. Von den 1960er-Jahren an hat er sich für nachhaltigen Tourismus eingesetzt und so dazu beigetragen, dass sich die Insel, auf die heute pro Jahr mehr als zweieinhalb Millionen Gäste kommen, authentisch vermarktet. Manrique hat Aussichtspunkte an der Steilküste gestaltet, hat Lagunen, Lavaröhren und Lavahöhlen zugänglich gemacht, hat Kakteengärten angelegt und dafür gesorgt, dass es in der köchelnden Timanfaya-Region an der Westküste ein in die Landschaft eingepasstes Panoramarestaurant gibt - und ein paar Kochstellen unter freiem Himmel.

César Manrique ist seit 24 Jahren tot, und nicht nur die Stammgäste von Lanzarote kennen die Highlights der Insel in- und auswendig. Deshalb suchte die Regierung nach einer neuen Attraktion. Jahrelang, wie José Juan Lorenzo erzählt. Er leitet die Kunst- und Kulturzentren Lanzarotes und ist froh, dass Jason deCaires Taylor das Angebot der Inselverwaltung angenommen hat, sein Skulpturenmuseum hier zu verwirklichen. Bislang gibt es auf Lanzarote acht Orte, die Centros de Arte, Cultura y Turismo heißen, Zentren für Kunst, Kultur und Tourismus. Das Unterwasser-Museum ist nun das neunte. Es zeigt eine neue Facette der Insel: Lanzarotes Unterwasserwelt. Die ist zwar schon jetzt bei Tauchtouristen beliebt - rund 100 000 kommen pro Jahr. Nun wird die Zahl aber wohl noch steigen. Mehr als 20 Tauchschulen haben bereits die Zulassung, ihren Kunden das Museo Atlántico zu zeigen. Schnorchler können sich ebenfalls die Figuren ansehen, am besten an ruhigen, sonnigen Tagen, dann ist das Wasser klar. Wer beim Besuch des Museums trocken bleiben möchte, muss sich allerdings gedulden. Glasbodenboote werden vorerst nicht, wie zunächst geplant, zum Einsatz kommen. Die Inselregierung will abwarten, wie sich die Besucherzahl entwickelt.

Reiseinformation

Anreise: verschiedene Fluggesellschaften fliegen Lanzarote an, ab München hin und zurück ca. 300 Euro.

Unterkunft: Los Jameos Playa, Puerto del Carmen, DZ mit HP ab 168 Euro, www.los-jameos-playa.de.

Museo Atlántico: Das Museum ist in Playa Blanca zu finden, vor dem Strand Las Coloradas. Der Besuch ist nur vom Boot aus und nur in Koordination mit einem Tauchzentrum gestattet, zum Beispiel mit Lanzarote Ocean's Divers, www.lanzaroteoceansdivers.com. Der Eintritt kostet für Schnorchler fünf, für Taucher sieben Euro (zuzüglich der Kosten für den Tauchgang), www.centrosturisticos.com, museoatlantico@centrosturisticos.com.

Weitere Auskünfte: www.turismolanzarote.com, www.tourspain.es.

Das Museo Atlántico hat weltweit enormes Interesse hervorgerufen. An den Inselbewohnern indes geht der Wirbel vorbei. Die meisten kennen das Unterwassermuseum nur vom Hörensagen. Anders ist es bei denen, die selbst ein Teil der Installation wurden. Da ist etwa Silvana Ciocci, eine 36-jährige Argentinierin, die vor zwölf Jahren auf die Insel kam - sie stand für Jason deCaires Taylor Modell. "Ich habe mich angeboten", sagt sie, "denn anfangs wollte keiner mitmachen." Das typische Misstrauen von Insulanern und der gesellschaftskritische Ansatz des Museums erschwerten es dem Künstler, Modelle zu finden. Ciocci war von Anfang an begeistert; sie findet die Vorstellung aufregend, "auf einer Insel verewigt zu sein, auf der ich sterben will". Ihr Abbild findet sich in der Menschengruppe "El Rubicón". Was die Komposition zu bedeuten hat? So ganz scheint ihr das selbst nicht klar zu sein. "Wir sind auf dem Weg, eine Grenze zu überschreiten", sagt Ciocci. "Das hat uns zumindest Jason so erklärt."

Auch Gunilla Westerlund hat sich dem Künstler angeboten. Die 68-jährige Finnin verbringt mehrere Monate im Jahr in Costa Teguise, einem gesichtslosen Touristenort an der Ostküste. Das Abbild Westerlunds hat ein Handy zwischen Wange und Schulter geklemmt. "Alle Sorgen der Welt auf meiner Schulter", so nennt sie ihre Statue, die für Westerlund eine besondere Bedeutung bekommen hat. An dem Tag, an dem die Figur versenkt wurde, war sie auf Dienstreise, konnte nicht zusehen. Ihr 20 Jahre älterer Mann aber ließ sich extra von einem Freund zum Hafen fahren. "Er saß im Rollstuhl, er war sehr gebrechlich." Am Tag nach der Aktion ist er gestorben, "in seinem Sessel eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht", sagt sie leise.

Verewigt am Grund des Meeres ist auch Abdelkader Brir. Er kam als Zwölfjähriger auf die Insel - mit dem Schlauchboot, aus der Westsahara. Westerlund hat den heute 19-jährigen Mann in Jason deCaires Taylors Studio mitgenommen. Sie kennt ihn aus dem Supermarkt, in dem Brir am Obststand arbeitet. Nach anfänglichem Zögern ließ Brir sich eingipsen. Sprechen will er nicht, weder über die Boatpeople-Skulptur, der sein Abbild angehört, noch über seine Flucht. "Das ist alles vorbei", sagt er knapp. Ignacio Garin, Tauchlehrer in Puerto del Carmen, kann das verstehen. Er war schon oft unten, im Museum. Das Flüchtlingsboot am Meeresgrund beeindruckt ihn immer wieder, besonders bei schlechter Sicht. "Man weiß nie genau, ob die Figuren lebendig sind oder tot."

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