Kanareninsel La Graciosa:Einsame Schöne

Kanareninsel La Graciosa: Unberührt, wie an der Playa de las Conchas, soll die Landschaft weiterhin auf La Graciosa sein.

Unberührt, wie an der Playa de las Conchas, soll die Landschaft weiterhin auf La Graciosa sein.

(Foto: Imago Stock&People)

Vor den Siedlern waren nur Piraten und Entdecker auf La Graciosa. Für Einheimische ist die kleinste bewohnte Insel der Kanaren ein Paradies. Die meisten Touristen kennen sie nur aus der Ferne - und das soll auch so bleiben.

Von Florian Fuchs

Ein bisschen kurios ist es schon, dass Rafa ausgerechnet hier über die Ruhe in seinem Paradies spricht. Der Angler, der sich nur mit seinem Vornamen vorstellt, sitzt ganz vorne am Rand einer Mole aus grob gehauenen Steinen. In seinem weißen Eimer saugt sich ein Tintenfisch ans Plastik, er hat ihn gerade aus dem Meer gezogen. Die dunkelblauen Wellen des Atlantiks krachen gegen die Felsen, der Wind brüllt ihm um die Ohren, aber Rafa sagt: "Die Ruhe!" Er sagt es noch ein zweites Mal, lauter diesmal, damit man ihn wirklich versteht: "Die Ruhe!" Der Rentner ist viel herumgekommen, er hat zehn Jahre in Puerto Rico gelebt. Aber nun lächelt er selig und versichert: "So ruhig wie auf La Graciosa ist es nirgendwo sonst auf der Welt."

Das mit der Ruhe erwähnen die Bewohner des kleinen Eilands auf den Kanarischen Inseln alle, wie auch fast alle vom Paradies sprechen, wenn sie La Graciosa meinen. Aber Rafa wohnt eigentlich auf Teneriffa, er kommt nur zum Entspannen her, ist also unverdächtig, mit schönen Worten den Inselstolz hochhalten zu wollen. Man könnte aber ohnehin nicht widersprechen. Natürlich pfeift einem der Wind hier um die Ohren, so ist das nun einmal auf den Kanaren. Und natürlich ist der Atlantik manchmal wild. Aber ruhig ist es trotzdem auf der einzigen dauerhaft bewohnten Insel des Archipiélago Chinijo direkt vor Lanzarote. Es gibt hier keine Hotels, keine Liegestuhlbatterien und auch keine Stände, an denen Urlauber windige Sonnenbrillen kaufen.

Taufbecken aus Schildkrötenpanzer

Stattdessen steht hier eine Kirche mit einem Taufbecken aus Schildkrötenpanzer, die Strände sind weiß und goldgelb, sie sind kaum bevölkert - und auf der ganzen Insel ist nicht eine Straße asphaltiert. La Graciosa ist anders als die anderen Inseln hier. Und viele Einheimische kämpfen dafür, dass das auch so bleibt.

Gran Canaria, Teneriffa, Fuerteventura, das kennen die Urlauber. Beim Chinijo-Archipel dagegen stutzt der Pauschaltourist. Vier der fünf kleinen Inseln, die zu Lanzarote gehören, sind unbewohnt, zwei gar in privatem Besitz: Alegranza und Montaña Clara. Der Roque del Infierno, so benannt wegen seines schwarzen Gesteins, ist nicht viel mehr als ein aus dem Meer ragender Felsen, und der Roque del Este ist sakrosankt: In seine Nähe darf man nur mit einer Sondergenehmigung des spanischen Umweltministeriums, wie überhaupt um den gesamten Archipel herum Tiere und Unterwasserpflanzen streng geschützt sind im größten Meeresreservat Europas. La Graciosa mit ihren knapp 30 Quadratkilometern ist die einzige besiedelte Insel - mit 600 Einwohnern.

Flach und hellbeige liegt sie im Atlantik, gesprenkelt lediglich von fünf Vulkanen, die eher Hügeln gleichen. Es ist eine Wüste aus Sand und Lavagestein, ein bisschen öde, aber faszinierend. Sie hätten hier oben auf den Vulkanen wie auch drüben auf Lanzarote die Mondlandung drehen können, stattdessen schauen unten am Strand ab und an Werbefotografen vorbei: Die Playa de Las Conchas etwa ist ein Stück Karibik auf den Kanaren, das Wasser funkelt stellenweise helltürkis.

Aber trotz dieser Posteridylle ist die Insel überhaupt nur wegen eines Fehlschlags bewohnt. Um das Jahr 1860 herum verfiel ein in London lebender Katalane der Idee, auf der Vulkaninsel eine Fischfabrik zu bauen. Etwa zehn Familien siedelten über, eine Holzbaracke stand schon, da kam der Unternehmer auf hoher See ums Leben. Die Familien blieben trotzdem und bauten das Fischerdorf Caleta de Sebo - ohne eine Wasserquelle, dafür mit viel Fisch. "Vor diesen Siedlern", sagt Siegfried Pentenrieder, "waren nur Piraten und Entdecker hier."

"Hotels wird es nicht geben"

Sigi, wie ihn hier alle nennen, sitzt in seinem Allradjeep und ruckelt eine der Sandpisten entlang zum Playa Francesa, wo ein paar Segelboote vor Anker liegen. Der 66-Jährige besaß früher ein Fuhrunternehmen in München. Vor 17 Jahren hatte er die Schnauze voll, schmiss alles hin, segelte ein bisschen herum und fand sich eines Tages auf La Graciosa wieder. Inzwischen hat er hier eine Einheimische zur Frau, sogar in einen Rat haben sie ihn gewählt, der sich für die Rechte der Inselbewohner stark macht. Damit ihm nicht langweilig wird, fährt er gerne Touristen durch die Gegend und erzählt Geschichten.

Die Piraten zum Beispiel, die kamen schon früh in die Buchten hier, um Unterschlupf zu finden und ihre Schiffe zu warten. Benannt aber hat die Insel 1402 der Franzose Jean Bethencourt. Er sollte für den spanischen König die Kanarischen Inseln besiedeln und die Einheimischen unterwerfen. Die erste Insel, die die Seeleute damals nach langer und schwerer Fahrt zu sehen bekamen, war Alegranza - deshalb der Name "die Fröhliche". Dass Bethencourt La Graciosa "die Anmutige" taufte, mutet rückblickend schon fast prophetisch an.

Einfach nur überleben

Bis etwa 1980 ging es hier zunächst einmal ums Überleben. "Das Regenwasser aus den Auffangbecken war streng rationiert, pro Tag und Haushalt gab es 25 Liter, am Sonntag 50", sagt Sigi. Die Familien mussten damit waschen, putzen und sich ernähren, jeden Morgen um sieben stellten sich die Frauen mit Krügen an. Die Frauen waren es auch, die ihre Männer mit Booten über die einen Kilometer schmale Meerenge nach Lanzarote übersetzten, damit sie einen Pfad durch eine hohe Steilwand hochsteigen und Fische gegen andere Lebensmittel tauschen konnten. In den achtziger Jahren verlegten Ingenieure Pipelines über den Meeresgrund nach La Graciosa, die Bewohner hatten erstmals Elektrizität und fließendes Wasser.

Ein paar Spinner hatten noch mehr Pläne, etwa für eine Seilbahn von Lanzarote hinüber auf die Insel, oder für Bettenburgen an jedem der acht Strände. "Ein Wahnsinn", sagt Sigi. Aber einer, den die Inselbewohner verhinderten. Stattdessen sind sie tatsächlich anders geblieben als der Rest der Kanaren. Heute haben sie ein paar kleine Einkaufsläden und Restaurants, eine Post, einen Bankautomaten, eine Schule, eine Apotheke, einen Arzt und einen Polizisten - aber nicht einmal ansatzweise eine Infrastruktur für Massentourismus. "Die Anmutige" ist kein verkehrter Name.

Es ist hier noch immer, so formuliert es Sigi, "wie früher in bayerischen Bergdörfern". Die meisten Bewohner sind untereinander verwandt. Jeder weiß alles von jedem. Bloß dass die Häuser hier durchgehend einstöckig und kalkweiß gestrichen sind und bunte Fensterläden haben. Die Touristen, die auf die Insel kommen, teilen sich die Bewohner ganz gut untereinander auf: Manche vermieten Appartements, manche Mountainbikes, andere arbeiten auf den Fähren, die Urlauber von Lanzarote herüber bringen.

Es gibt noch ein paar Fischer, von der früheren Hauptbeschäftigung auf der Insel zeugt jedoch vor allem die Kirche: Nicht nur ist das Taufbecken aus Schildkrötenpanzer - das Pult ist ein Steuerrad, der Altar besteht aus einem Anker und einem längs geteilten, an die Wand gehängten Fischerboot.

Angst vor dem "Verlust der Identität"

Es ist also nicht so, dass La Graciosa ein Geheimtipp nur für Eingeweihte wäre. Im August setzen sogar 600 Leute pro Tag mit der Fähre über, es sind hauptsächlich Tagesausflügler. Diese Zahlen sind es, die Einheimische wie Miguel Paez vor dem "Verlust der Identität" warnen lassen. Der 40-Jährige ist im Ort als einer bekannt, der sich vehement dafür einsetzt, die Ursprünglichkeit der Insel zu bewahren. Aber wenn der Mann mit dem Dreitagebart bei einem Kaffee in der Nähe seines Hauses von dem Naturreservat schwärmt, das es zu bewahren gilt, dann erzählt er auch, dass der Spuk mit den vielen Touristen mit Ende der Schulferien wieder vorbei ist. Vorher und nachher sind die Strände kaum bevölkert. "Und das wird auch so bleiben", pflichtet Sigi bei. "Hotels und große touristische Infrastruktur wird es auch in Zukunft nicht geben."

Nur ein paar Wochen im August also ist auf La Graciosa die Hölle los, danach ist es wieder das von den Einheimischen beschworene Paradies. September und Oktober gelten als beste Reisezeit, weil es am wenigsten windet, es trotzdem noch warm ist und nur ein paar Dutzend Urlauber unterwegs sind. Sie kommen zum Fahrradfahren, zum Wandern, zum Schnorcheln, Tauchen und Surfen im Meeresreservat, vor allem aber suchen sie diese Muße, die man sonst nur selten findet. Man kann hier angeln wie Rafa, man kann den Gezeiten zuschauen oder einfach auf das Ende des Tages warten. Noch nicht einmal lästige und gefährliche Tiere stören die Ruhe, Schlangen oder Skorpione gibt es nicht - und die Mücken haben La Graciosa auch noch nicht entdeckt.

Informationen

Karte La Graziosa

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(Foto: SZ Grafik)

Anreise: Von München nach Arrecife auf Lanzarote mit Iberia, hin und zurück ab 205 Euro, www.iberia.com. Fährverbindungen von Orzola nach Caleta de Sebo stündlich zwischen 8 Uhr und 19 Uhr. Hin- und Rückfahrt 20 Euro.

Übernachtung: Appartements bei El Sombrerito, Tel.: 0034/928 842 106, ab 50 Euro pro Nacht, www.elsombrerito.com; Apartamentos La Graciosa ab 37 Euro pro Nacht unter www.apartamentos-lagraciosa.com

Weitere Auskünfte: beim spanischen Fremdenverkehrsamt, Tel.: 089/53 07 46 11, www.spain.info; Informationen auch unter www.graciosa-canarias.com; Ausflüge mit Lanzarote Active Club, Tel.: 0034/650 819 069 und Excursiones La Graciosa, Tel.: 0034/630 433 110.

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