175 Jahre Bahn:"Marlene Dietrich reiste mit 'Elefanten'"

Ausstellungsleiterin Claudia Selheim erklärt, wie die Bahn das Reisegepäck veränderte, warum Rollkoffer erst spät in Mode kamen und womit sich Thomas Mann abmühte.

Katja Schnitzler

Am Dienstag wird die Bahn in Deutschland 175 Jahre alt: Die erste Bahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth war nur sechs Kilometer lang - heute haben Eisenbahngleise in Deutschland eine Gesamtlänge von mehr als drei Viertel des Erdumfangs am Äquator. Ein Gespräch mit Dr. Claudia Selheim darüber, wie sich Gepäck mit den Transportmitteln im Lauf der Zeit verändert hat. Die Kuratorin hat sich in letzter Zeit intensiv mit Koffern aller Art beschäftig: Sie ist für die Ausstellung "Reisebegleiter. Koffer-Geschichten 1750 bis heute" (9. Dezember 2010 bis 1. Mai 2011) des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg verantwortlich.

sueddeutsche.de: Vor 175 Jahren wurde die erste Bahnstrecke in Deutschland in Betrieb genommen. Mit der Eisenbahn waren die Menschen mobiler, reisten mehr - wie wirkte sich das auf ihr Gepäck aus?

Claudia Selheim: Die Züge hatten Gepäckwagen, in denen größere Koffer untergebracht wurden. Dafür mussten diese stapelbar sein, so dass nun rechteckige Modelle mit rundum laufenden Buchenholzbügeln gefertigt wurden. Wegen der rußenden Lokomotiven war die eingepackte Kleidung mit Decken abgedeckt, da die Koffer noch nicht so dicht waren. Vor den Zugkoffern war der Kutschenkoffer üblich, eher zylindrisch mit abgeflachtem Boden. Über dem gewölbten Korpus konnte das Regenwasser ablaufen, schließlich wurde das Gepäck, das man sich wie große, ramponierte Schatzkästchen vorstellen kann, außen an der Kutsche befestigt. Es war schwer, entsprechende Stücke zu finden.

sueddeutsche.de: Wie sind Sie denn an die Exponate gekommen?

Selheim: Manchmal habe ich einfach nachgefragt, zum Beispiel beim Thomas-Mann-Archiv. Denn ich wusste, dass seine Schwiegermutter Hedwig Pringsheim auf der Suche nach ihrem missratenen Sohn nach Übersee gereist war und hoffte auf ihren Koffer. Die Antwort war: Von Pringsheim haben wir nichts, aber von Thomas Mann.

sueddeutsche.de: Und wie sieht der Koffer von Thomas Mann aus?

Selheim: Das ist so ein Bahnkoffer mit Buchenbügeln. Innen hat er ein Etikett aus dem Jahr 1885, früher wurden Koffer ja oft ewig genutzt. Thomas Mann reiste mit ihm 1952 in die Schweiz, es steht auch noch seine Züricher Adresse drauf. Es ist amüsant, sich vorzustellen, dass so ein Ästhet mit so einem schrulligen alten Koffer unterwegs war.

sueddeutsche.de: Koffer galten aber eine Zeitlang auch als Statussymbol, je größer und zahlreicher, desto besser ...

Selheim: Wir zeigen auch ein Foto von Marlene Dietrich auf mehreren Koffern sitzend. Das Foto ist gestellt - sie reiste mit weitaus mehr Gepäck. Im Jahr 1936 war sie laut ihrer Tochter Maria Riva mit fast 80 Koffern und Hutschachteln unterwegs. Besonders wichtig waren ihr die Hotelaufkleber darauf: Sie führte Leim und Ersatzaufkleber mit sich, um abgefallene sofort ersetzen zu können. Viele ihrer Gepäckstücke waren grau, ihre Schrankkoffer nannte sie "Elefanten". Das hatte noch einen Grund: Einen Schrankkoffer haben wir ausgepackt, der war wirklich schwer, da mussten viele Leute mit anpacken. Wer so reiste, konnte sich Kofferträger leisten. Ärmere mussten selbst schleppen und mit weniger auskommen.

sueddeutsche.de: Warum hat es dann so lange gedauert, bis jemand darauf kam, unter diese Schwergewichte Rollen zu schrauben?

Selheim: Das hat mich auch gewundert. Aber schon Mitte des 19. Jahrhunderts war die Idee da, unter Ranzen Rollen zu schnallen. Doch, so war der Vorschlag, solle man den Rucksack wieder auf den Rücken schnallen, sobald man wieder zu Kräften gekommen war.

Pappkoffer für Nationalsozialisten

sueddeutsche.de: Und lieber wieder selbst tragen?

Selheim: Das war wohl weniger beschwerlich. Der Grund dafür war der Straßenbelag: Erst als das Kopfsteinpflaster verschwunden war und auch die Bahnsteige ebener wurden, machten Rollen Sinn, also seit den 1970er Jahren. Damals waren die Rollen noch drangeschraubt, erst bei den Trolleys in den 1990er Jahren wurden die Rollen ins Gepäckstück integriert.

sueddeutsche.de: Waren Reisende früher bescheidener, wenn sie nicht gerade Marlene Dietrich hießen?

Selheim: Das auch nicht. Als das Gasthauswesen noch nicht so entwickelt war und es noch keine Grandhotels gab, war es etwa seit dem 17. Jahrhundert unter Adligen üblich, ein komplettes Reise-Service mitzunehmen. Ein Domherr aus dem 18. Jahrhundert schaffte es, in seinem Necessaire 190 Sachen auf mehreren Tableaus unterzubringen - das gute Stück war etwa 80 Zentimeter breit. Darin waren Kakao- und Mokkakännchen, Dosen für Zucker und Tee, eine Spargelzange, Ferngläser, Schuhschnallen und Ohrenschaber. Nur das Reisebett fehlte - aber sowas gab es auch.

sueddeutsche.de: Man sagt ja auch, dass Reisegepäck ganz eigene Geschichten erzählt - welche ist in der Ausstellung die spannendste?

Selheim: Im Dritten Reich war die Kofferproduktion sprunghaft angestiegen, zum einen wegen der Wiedereinführung der Wehrmacht, zum anderen wegen der KdF-Reisen - es wurden vor allem billige Pappkoffer gebraucht. Die nationalsozialistische Behörde Kraft durch Freude (KdF) bot Ferienreisen an, die bis dahin für Arbeiter unerschwinglich waren. Um die Kosten für die propagandistischen Fahrten aufs Land oder zur See niedrig zu halten, wurden nicht nur die Preise für die Hoteliers gedrückt, sondern auch nur billigste Unterkünfte gebucht. In der Ausstellung ist ein Koffer mit KdF-Emblem samt Namen der früheren Besitzerin zu sehen. Ich fand eine Nachfahrin in Leipzig, die noch Postkarten von drei KdF-Reisen nach Norwegen, in den Schwarzwald und an den Rhein besaß. Da hat man plötzlich mehr als nur einen Koffer vor sich. Interessant sind auch die Verhaltensregeln für die völlig reiseunerfahrenen KdF-Urlauber.

sueddeutsche.de: Wie hatten sie sich denn zu verhalten?

Selheim: Ehepaaren wurde empfohlen, zwei Zahnbürsten einzupacken, damit sie sie gleich zur Hand hatten. Und eine Anweisung an Schiffsreisende lautete: "Setze den Koffer an der Stelle ab, die Dir bezeichnet wird. Mache Dir keine Sorgen, er wird dort verbleiben. Gehe 50 Schritte weiter zur Sammelstelle."

sueddeutsche.de: Was für ein Gepäck nahm man mit an Bord?

Selheim: Ich hatte vor meinen Recherchen angenommen, Seesäcke gab es schon immer, doch die waren erst Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich - vorher wurde alles in Seekisten verpackt. Mit den Seesäcken änderte sich auch die Innenarchitektur der Schiffe: Saßen die Matrosen vorher auf ihren Seekisten, fehlten nun die Sitzplätze, es mussten Bänke eingebaut werden.

sueddeutsche.de: Wirkten sich neue Gepäckmodelle auch auf die Einrichtung der Züge aus?

Selheim: Früher wurde das große Gepäck in eigene Wagen verladen, in den Waggons waren Netze für das Handgepäck, das dadurch in Mode kam. Dies waren bunte Reisetaschen, oft mit dem Motiv einer Lokomotive bestickt, und Handkoffer. Die Gepäcknetze waren also nicht für alle Koffer gedacht - und sind es bis heute nicht. Deshalb blockieren die Reisenden heute die Gänge mit schweren Trolleys, die sie nicht hochhieven können. Schließlich wollen sie ihr Gepäck im Auge behalten.

sueddeutsche.de: Mit was für einem Gepäckstück gehen Sie selbst auf Reisen?

Selheim: Einem kleinen grünen Koffer, rechteckig, nicht stromlinienförmig. Seit 1994 fährt er mit mir Bahn, er ist von guter Qualität - und er passt in die Ablage. Und das Beste: Wenn kein Platz frei ist, kann ich mich einfach auf den Koffer setzen.

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