Region Umbrien:Das schöne Herz Italiens wartet auf Gäste

Amelia

Amelia ist eine der ältesten Städte Italiens, und malerisch dazu.

(Foto: Pasquale Comegna)

Malerische Dörfer, Gelassenheit, gute Küche: Umbrien hat, was Urlauber suchen. Doch die meiden die Region aus Angst vor neuen Erdstößen. Was jetzt?

Von Ulrike Sauer

Ihr Bett tanzt. Schränke rumpeln, der Boden unter den Füßen wankt. Die Erde bebt. Schon wieder. Es ist 7. 40 Uhr am 30. Oktober 2016, ein noch warmer Sonntagmorgen im Südwesten von Umbrien. Ein entsetzlicher Schreck durchfährt Maria Teresa Russo, doch die Angst verkriecht sich rasch. Als sie durchs Stadttor von Amelia die Gasse zu ihrer Konditorei hocheilt, erwartet sie eine Überraschung.

Die Pasticceria Russo ist brechend voll. Wo auch hin? Der ganze Ort ist zu früher Stunde auf den Beinen. Seit zwei Monaten erschüttern immer neue Erdstöße Mittelitalien. An diesem Sonntag erreichen sie die Stärke 6,5 auf der Richterskala. Es ist das schwerste Beben in Italien seit 1980. Gut, dass es Maria Teresa Russo mit ihren himmlischen Törtchen und knusprigen Feigentalern gibt. "Die Leute suchten einen Treffpunkt", sagt Russo. Man stopfte sich mit Kuchen voll, ohne Gewissensbisse. Kalorien? Wer achtet an diesem Tag schon auf seine Linie! "Das Süße beruhigte die strapazierten Nerven", sagt sie und lacht.

60 Kilometer entfernt stürzten damals in Norcia, am östlichen Rand von Umbrien nahe am Apennin, das Benediktinerkloster und die Basilika des Heiligen Benedetto ein, der hier 480 nach Christus geboren wurde. Die Lehren Benedikts von Nursia sind ein Pfeiler des Christentums, sie beeinflussten die gesamte westliche Zivilisation. Die Bilder der Staubwolke, die sich über den Trümmern der Kulturschätze Norcias erhob, gingen um die Welt.

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Amelia, einer der ältesten Orte Italiens, blieb von Verwüstungen verschont. Auf der Hügelkuppe erhebt sich die Zyklopenmauer, die vor 28 Jahrhunderten aus mächtigen Blöcken ohne Mörtel zusammengefügt wurde. Kurve um Kurve windet sich die Straße, bis sich urplötzlich der Blick auf den größten antiken Ortskern Umbriens öffnet: die Zwillingstürme, die Domkuppel, die ummauerte, 20 Hektar große, über Jahrtausende gewachsene Stadt - alles liegt auf einmal vor einem. 3000 Jahre Geschichte in einem Lidschlag, unversehrt. In Amelia kamen sie an jenem Tag mit dem Schrecken davon - wie im größten Teil der Region.

Die Folgen des Bebens spüren die Bewohner heute umso stärker. Die Hauptreisezeit steht vor der Tür und die Buchungslisten sind leer. Urlauber machen einen Bogen um Umbrien. Die Gästehäuser melden einen Einbruch um 70 bis 80 Prozent. Im Norden der Region ist in Assisi, der Heimat des Heiligen Franziskus, die Belegung der Unterkünfte auf 30 Prozent gefallen. Den Süden trifft es noch ärger. "Das bringt uns um die Existenz", sagt Gianluca Guerrini, der am Rathaus von Amelia das Ostello Giustiniani, eine Herberge in einem Palazzo aus dem 13. Jahrhundert, führt. Vor wenigen Tagen traf er sich mit Kollegen, die in den Hügeln um Amelia ihre Agriturismo-Unterkünfte betreiben. Keine Reservierungen, keine Anfragen, nichts.

Man fühlt sich in Umbrien, dem grünen Mittelpunkt Italiens, vergessen und verdrängt. "Wir haben viel unternommen, um mit Tourismus und nachhaltiger Landwirtschaft der Industriekrise zu begegnen", sagt Amelias Bürgermeisterin Laura Pernazza. Jetzt werfen die Schreckensmeldungen vom Beben die Menschen zurück. Die Region investiert in Werbekampagnen. Fernsehspots sollen die Italiener animieren, ins schöne, spirituelle Herz ihres Landes zurückzukehren.

Amelia

Der Ort liegt auf einer Hügelkuppe und ist umgeben von einer Zyklopenmauer. Sie besteht aus großen Quadern, die ohne Mörtel aufeinandergesetzt sind.

(Foto: Pasquale Comegna)

Unterstützung kommt diesmal tatsächlich von der Regierung. Das Ministerium für Kulturgüter und Tourismus in Rom hat 2017 das "Jahr der Borghi" ausgerufen. Die Initiative will landesweit zur "Entdeckung von 1000 charakteristischen Dörfern" anregen, den sogenannten Borghi, die einst rund um eine Burg oder einen Adelssitz entstanden sind. Sie haben bewahrt, was viele Urlauber südlich der Alpen suchen: einen gelassenen Lebensstil, bröckelnde Schönheit, unverfälschte Küche - eben das, was viele als das authentische Italien begreifen.

"Es gibt hier keine To-Do-Liste zum Abhaken"

Kunststädte wie Rom, Florenz und Venedig sind so überlaufen, dass der Touristenansturm sie längst zum Nachteil verändert hat. "Gefragt sind intelligente Ideen, um die wachsenden Besucherströme besser zu lenken", sagt der zuständige Minister, Enrico Franceschini. Für seinen Reiseaufruf in die Provinz hat er zehn Millionen Euro lockergemacht, die wohl vor allem für Werbung ausgegeben werden.

Der britische Filmemacher Dominic Minghella ist in Amelia dem Zauber Italiens verfallen. "Es gibt hier keine To-do-Liste von Sehenswürdigkeiten zum Abhaken", sagt der Londoner, der sich mit der Familie in einem alten Steinhaus niederließ. "Der Charme Amelias liegt in der Fülle der Entdeckungen, die man hier machen kann." In Amelia nämlich finden Liebhaber des ursprünglichen Italien, was ihnen gefällt: verwinkelte Treppengassen und stolze Adels-Palazzi, antike Mosaike und natürlich immer wieder Kirchen.

Die unterirdischen Zisternen erzählen von der Ingenieurskunst der alten Römer. Im schmucken Theater zeugt das Schussloch im bemalten Bühnenvorhang vom Suff eines deutschen Wehrmachtssoldaten. Auf dem Farmermarkt im Kreuzgang Boccarini trifft man sich samstagmorgens zum Wocheneinkauf. Unter dem Klostergewölbe aus dem 16. Jahrhundert bieten die Erzeuger erntefrisches Gemüse und Obst, Käse, Brot, Honig, Kräuter, Schinken, Safran, Linsen, Dinkel und Olivenöl an. Bis vor wenigen Jahren noch drohte der Borgo zu veröden. Dann besann man sich auf das reiche Erbe. Maria Teresa Russo wagte 2015 den Sprung in die Selbständigkeit.

Die Selfmade-Konditorin wollte die Kunden zur Qualität erziehen und das historische Zentrum beleben. Mit ihrer herzlichen Offenheit erobert die Frau auch Fremde. Ihnen erzählt sie von dem Renaissancekünstler Piermatteo d'Amelia. Sein Gemälde L'Annunciazione stand auf dem Klosteraltar in Amelia, bevor es die Sammlerin Isabella Stewart Gardner 1880 für ihr Museum in Boston erstand. Oder sie erzählt von Germanicus, dem bronzenen Zwei-Meter-Mann, der 1963 vor dem Stadttor ausgegraben wurde. Das Meisterwerk verewigt Nero Claudius Drusus, den römischen Feldherrn und Stiefsohn von Kaiser Augustus, der verlorene Gebiete in Germanien zurückerobert hatte, was ihm posthum den Ehrentitel einbrachte. Keine andere 2000 Jahre alte Bronzestatue dieser Größe blieb erhalten. Der Germanicus steht heute im Archäologischen Museum von Amelia.

2016 hatte die Pasticceria Russo noch einen guten Sommer erlebt. Der Umsatz war zwischen Juli und Oktober sogar um 50 Prozent gestiegen. Und 2017? Die Aussichten auf die Feriensaison sind in diesem Jahr trübe. Dabei regt sich in Amelia, das in der Antike den Namen Ameria trug, viel. Gegenüber von Russo hat gerade die Gelateria Girotti nach 43 Jahren wieder aufgemacht. Terence Hill, der mit bürgerlichem Namen Mario Girotti heißt und in Amelia aufgewachsen ist, besann sich auf die Familientradition eines Großonkels. Er investierte in die Eisdiele. Lavinia Vitto wird dem Beispiel folgen - und auch bald ein Lokal eröffnen. Für die von Hand gefertigte Mozzarella und den Ricotta-Käse ihres Vaters steuert man auch aus der Umgebung die Ladenwerkstatt der Familie an.

Die junge Umwelt-Ingenieurin hat Bewerbungsverfahren mitgemacht, bei denen schon vorher feststand, wer den Job bekommt. Alles eine Frage der Beziehungen. Statt wie viele gut ausgebildete Altersgenossen ins Ausland zu gehen, versucht Lavinia nun, den Familienbetrieb nach vorn zu bringen. Demnächst macht in alten Gemäuern wenige Schritte entfernt ein Bistro zur Käseverkostung auf, mit Innenhof und Garten. Im Keller experimentieren die Vittos in einer kleinen Grotte schon mit dem Reifen von Käse, um ihr Angebot zu erweitern. "Endlich haben wir unsere Gassen wieder entdeckt", sagt Lavinia.

Wer eine Vorläuferin der Gründerinnen besuchen will, sollte abseitige Staubstraßen nicht scheuen. Vorbei an Pferdekoppeln, duftendem Ginster und blühenden Holunderbüschen gelangt man zu Francesca Filippi, die in den Steineichenwäldern nördlich von Amelia vor fünf Jahren das Restaurant Merendero aufgemacht hat. Die Metzgertochter entwickelte dort ihre kreative Heimatküche. Das modische Ideal von der regionalen Küche hat bei ihr nichts Angestrengtes. Filippis Familie steht inzwischen mit beiden Beinen in der Landwirtschaft. Die Baufirma ihres Mannes lief früher gut. Dann kamen die Rezession und das Aus. Das Gemüse holt die Köchin aus dem Garten, die Trüffeln aus dem Wald. Wer will, darf das Wild auch selbst jagen. Hühner, schwarze Schweine und weiße Chianina-Rinder laufen auf einer Lichtung herum.

Trotz ihres Erfolges bleibt Filippi sich treu. Sie bereitet alles frisch und mit ihren Händen zu. "Das werde ich nie ändern", sagt sie. Auch den Teig für die Fettuccine aus grob gemahlenen, alten Hartweizensorten knetet sie mit den Fingern. "Mit der Maschine bekommen die Nudeln eine andere Konsistenz", erklärt sie.

Giovanni Crocelli setzt auf eine Rarität, um die Natur- und Kulturschätze seiner Heimat aufzuwerten: die nur um Amelia vorkommende Olivensorte Raio. Sie ist uralt, frostfest und wenig produktiv, was ihr natürlich fast zum Verhängnis wurde. Für Crocelli, Finanzberater einer Mailänder Bank, ist der charaktervolle Raio das Paradeerzeugnis des Südzipfels Umbriens. Er übernahm eine Ölmühle und brachte im vergangenen Herbst die ersten Raio-Flaschen auf den Markt. Öl-Sommeliers attestieren der Pressung ein perfektes Gleichgewicht, ein ausgewogenes Aroma und einen sehr hohen Anteil an gesunden Polyphenolen. "L'Infinito" nannte der Banker das Öl, Unendlichkeit, nach dem Titel der berühmtesten Verse der italienischen Romantik von Giacomo Leopardi. "Unendlich wie die Ausblicke von unseren Hügeln", sagt der Umbrer.

Info

Anreise: Amelia liegt 80 Kilometer nördlich von Rom. Flughäfen Rom Fiumicino und Perugia. Autobahn A1, Ausfahrt Attigliano.

Unterkunft: Residenza d´Epoca Palazzo Venturelli, Suite ab 100 Euro, www.palazzoventurelli.com; Ostello Giustiniani, DZ 45 Euro, www.ostellogiustiniani.com; Agriturismo Surripa, Appartement ab 700 Euro/Woche, www.agriturismosurripa.com.

In der Natur: Amelia ist ein Paradies für Läufer, Mountainbiker, Wanderer und Reiter.

Wein: Ab 8. Juni lädt die lokale Winzerszene wieder zur Weinverkostung "Amelia Doc" in den eleganten Kreuzgang von Amelia, www.ameliadoc.it

Weitere Auskünfte: www.turismoamelia.it

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