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Jetzt im Mai werden rund um Novara die Reisfelder geflutet. Das verleiht der Landschaft einen besonderen Reiz. Und Risotto-Spezialitäten bietet hier fast jedes Restaurant an.

Von Helmut Luther

Italien: Sobald die Schleusen der Bewässerungskanäle geöffnet werden, verwandeln sich die Reisfelder, wie hier bei Casaleggio, in große Seen. In Novara kann man Risotto in all seinen Formen verkosten.

Sobald die Schleusen der Bewässerungskanäle geöffnet werden, verwandeln sich die Reisfelder, wie hier bei Casaleggio, in große Seen. In Novara kann man Risotto in all seinen Formen verkosten.

(Foto: ClickAlps/mauritius images)

Walter Rossi legt Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Der Endvierziger aus dem Dorf Tornaco südlich von Novara streift im Gras die schwarze Ackererde von den Arbeitsschuhen, bevor er in sein Dienstauto klettert. Rossi ist Angestellter eines Bewässerungskonsortiums. Er sorgt für die Instandhaltung der Kanäle und dafür, dass die bepflanzten Reisfelder mit einer ausreichenden Wassermenge versorgt sind. Über sein Einsatzgebiet spannt sich ein Hunderte Kilometer langes Kanalnetz, die Lebensadern der "Bassa": die Tiefe, so nennen die Einheimischen das fruchtbare Schwemmland zwischen Novara und Vercelli.

"Auch mein Vater und Onkel waren professionelle Bewässerer. Ein Schreibtischjob wäre nichts für mich", sagt Rossi. Im weißen Fiat Panda, gegen den hier, wie er behauptet, "teure Geländewagen keine Chance haben", fährt Rossi einen breiten Betonkanal entlang. Da es stark geregnet hat, ist er bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Auf der trüben Suppe schwimmen Zweige, Blätter und Plastikflaschen. An einer Schleuse fischt Rossi mit einem Kescher den Unrat vom Rechen, zwischendurch blickt er nach Norden, wo sich die weißen Gipfel des Monte-Rosa-Massivs abzeichnen. "Wenn es dort ein schweres Unwetter gegeben hat, kann ich es an der Wasserfarbe erkennen", sagt Rossi.

Zwar stammt nur ein Bruchteil der weltweiten Reisproduktion aus Italien. Aber in der Po-Ebene reift ein Großteil der europäischen Reisernte heran. Hier wurden Rezepte für Risotti erprobt, und hier wachsen dafür geeignete Sorten wie Arborio oder Carnaroli: Rundkornreis, der sämig wird und trotzdem bissfest bleibt. Adelsgeschlechter setzten das von Mönchen begonnene Werk des Reisanbaus fort und errichteten befestigte Landsitze, die oft richtige Dörfer bildeten. Kanäle wie der Canale Cavour, die den Po und andere Flüsse anzapfen, schufen hier im 19. Jahrhundert die Grundlagen für die moderne Reismonokultur. Ende April, nach der Aussaat, werden die Felder geflutet. Das Wasser bildet einen natürlichen Wärmespeicher und schützt die empfindlichen Pflänzchen. Außerdem hält es bestimmte Schädlinge fern, sodass die Felder bis zur Ernte im September unter Wasser stehen - abgesehen von Phasen gezielter Trockenlegung, um auf diese Weise andere Schädlinge zu bekämpfen. So bildet sich eine Lagunenlandschaft, in der sich auch Fische, Wasservögel und Frösche wohlfühlen. Letztere, durch den massiven Chemieeinsatz arg in Bedrängnis geraten, werden hier traditionell geangelt. "Sie haben ein zartes, an Huhn erinnerndes Fleisch", schwärmt Rossi. Er hat das Froschangeln von seinem Vater gelernt. "Früher war zwischen den Dorfbewohnern genau geregelt, wer wo seine Rute auswerfen durfte. Im Zweifelsfall setzte es Prügel. Heute fängt man nicht mehr viel."

Der "Acquaiolo", so wird der Bewässerer genannt, hat die Schleuse am großen Kanal inzwischen verlassen. Er rumpelt den mäandernden Agogna-Fluss entlang und dann im Slalomkurs über einen mit Schlaglöchern übersäten Feldweg. Hier zweigen von einem Hauptkanal kleinere erdgegrabene Wasserläufe ab. Rossi öffnet die hölzernen Schleusen, um die Felder mit Wasser zu versorgen - Erdwälle lassen sie wie Seen wirken. Bevor Rossi an den Kurbeln dreht, muss er eine Kette mit Vorhangschloss öffnen. Die Sicherung sei nötig, um Wasserdiebstahl zu verhindern, sagt er. "In trockenen Sommern sieht man tagsüber kaum einen Bauern. Nachts hingegen verwandelt sich mancher Feldweg in eine Autobahn, weil die Bauern ihre Schleusen öffnen - und eventuell die eines Nachbarn ein bisschen runterdrehen."

Nach solchen nächtlichen Ausflügen befragt, antwortet Fabrizio Rizzotti nur mit einem breiten Grinsen. Der Bauer steht im Hof seiner Cascina Fornace, die auf einem Hügel über Vespolate thront. Immer wieder kommt man hier an solchen Cascine vorbei: einsam im Grün stehende landwirtschaftliche Großbetriebe, die früher mit eigener Käserei, einer Mühle, Ställen, Heuschobern und Arbeiterwohnungen völlig autark waren. Im Flachland, wo normalerweise ein backsteinerner Kirchturm die höchste Erhebung weit und breit bildet, bedeutet der Platz auf einer Hügelkuppe eine Traumlage. Auf den Härchen an Rizzottis Unterarm und an seinem Zehntagebart klebt feiner Mehlstaub. In einem Anbau hat der Bauer mit altertümlichen Geräten gearbeitet, einem Walzenschäler, einer Schleif- und Poliermaschine, um die braunen, entspelzten Körner in weißpolierten Reis zu verwandeln: Es sind gebraucht gekaufte Maschinen, weil diese sich besser zur Bearbeitung einer fast verschwundenen und von ihm wiederentdeckten alten Reissorte eigneten, sagt Rizzotti. "Vor 20 Jahren, als ich mit dem Anbau der wenig ertragreichen Razza 77 begann, zeigten mir Kollegen den Vogel. Mittlerweile haben viele von ihnen das Handtuch geworfen." Um sich gegen die globale Konkurrenz zu behaupten, setzt Rizzotti konsequent auf Qualität. Leider sei diese schwer zu erkennen. "Die laxen gesetzlichen Bestimmungen erlauben es, dass auf einer Packung Carnaroli-Reis steht, obwohl kein Korn Carnaroli darin ist", schimpft Rizzotti.

Seine Frau Maria Pia hat unterdessen im Wohnhaus neben den Wirtschaftsgebäuden Paniscia zubereitet. Der Risotto nach altem Bauernrezept mit reichlich Butter, roten Zwiebeln, dem Weißen vom Speck sowie in kleine Brocken geschnittener Salami schmeckt köstlich. Dazu schenkt Fabrizio rubinroten Barbera der Hügel nördlich von Novara ein. Zum Nachtisch gibt es Gorgonzola, der ebenfalls in der Region hergestellt wird.

Seinen Reis verkauft Rizzotti an Feinkostläden und Gourmetrestaurants in Novara. Die Provinzhauptstadt mit ihrem verfallenen Kastell, klassizistischen Palazzi und hübschen Laubengängen ist der ideale Ort, um ausgiebig Risotto zu verkosten. Etwa im Circolo della Paniscia in der Via Perazzi, wo das lokale Traditionsgericht in einer kräftigen Brühe aus Gemüse und Knochen gekocht wird, hinzu kommen gereifte Mortadella sowie geschmolzener Käse - nichts für Low-Fat-Anhänger. Die Umgebung von Novara ist auch einen Besuch wert. Etwa Casalbeltrame. Ein leer stehender Palazzo dient dort einem Kunsthändler zur Ausstellung seiner wertvollen Objekte. Im Nebentrakt einer weiteren Adelsresidenz gibt es ein sehenswertes Museum zur Geschichte des Reisanbaus.

Er sei als Sohn eines Tagelöhners hier im Ort aufgewachsen und habe in jungen Jahren nichts wie weggewollt, erzählt Teresio Novella bei einer Führung durch das sich über mehrere Stockwerke ausdehnende Museum. Der heute 82-Jährige ist zurückgekehrt, um dann dreieinhalb Jahrzehnte als Bürgermeister von Casalbeltrame zu wirken. "Ich habe das Dorf gerettet", behauptet Novella. "Heute ist das Museum ein Besuchermagnet. Dafür musste ich viele Widerstände überwinden, am heftigsten opponierte der Pfarrer."

Wenige Kilometer hinter Casalbeltrame fließt der Canale Cavour. Die Hauptschlagader der Bassa Novarese trägt den Namen ihres Initiators Camillo Benso Graf von Cavour, eine Art italienischer Bismarck. Es gibt Pläne, einen Radweg entlang des etwa 80 Kilometer langen Wasserlaufes zu bauen, ein Teil kann bereits befahren werden. In Chivasso, wo der Canale Cavour vom Po abgeleitet wird, Italiens größtem Fluss, erinnert ein Denkmal an die Fertigstellung des technischen Meisterwerkes im Jahr 1866. Auf der Fahrt geht es vorbei an verschlafenen Dörfern, an Reisgütern, von denen manche gut in Schuss sind; andere bröckeln vor sich hin und scheinen nur mehr von Katzen bewohnt zu sein. Rechteckige Reisfelder werden von Pappelreihen umrahmt, deren vom Wind gebogene Kronen sich im aufgestauten Wasser spiegeln. Kormorane und Seidenreiher spähen nach Beute, aus einem Bach erhebt sich schnatternd ein Pulk Stockenten.

Bei Livorno Ferraris ragt die Cascina Colombara wie eine backsteinerne Burg aus den gefluteten Feldern empor. Einst ein ganzes Dorf mit eigener Kirche und Sanitätsstation, lebt hier nur mehr die Künstlerin Claudia Haberkern. Platzmangel dürfte für die zierliche Frau das geringste Problem darstellen, ihre Wohnung in einem umgebauten Reislager misst 200 Quadratmeter, das Atelier mindestens genauso viel. Die aus Heilbronn stammende Künstlerin fertigt Figuren aus Naturfasern, Papier und Kunstharz. Sie ähneln Muscheln, von Ameisen zerfressenen Baumstämmen oder aufgeplatzten Tulpen, die vielfarbig schimmern. Haberkern schaut durch das geöffnete Fenster, wo über dem gepflasterten Hof Schwalben nach Mücken jagen. Ihre Arbeit werde von der Stille und Weite ringsum geprägt, sagt die Künstlerin. Allerdings könne die Einsamkeit an nebligen Wintertagen auf das Gemüt drücken. "Ich fahre dann immer für einige Tage weg." So schlimm kann es jedoch nicht sein: Claudia Haberkern lebt seit 28 Jahren in der Cascina Colombara und hat nicht vor, woandershin zu ziehen.

Reiseinformationen

Anreise: Der Flughafen Mailand ist etwa 50 Kilometer von Novara entfernt. Die Stadt ist auch gut mit dem Zug zwischen Mailand und Turin angebunden. Unterkunft: Bed & Breakfast il Giarolo in Cameriano bei Novara. Ein ehemaliger Bauernhof, schön von Feldern umgeben, DZ für 80 Euro, www.ilgiarolo.it Hotel Cavour Novara, DZ etwa 150 Euro, Tel. 0039 / 0321 / 65 98 89, www.hotelcavournovara.com

Reismuseum: Museo etnografico dell'attrezzo agricolo 'L ÇIVEL, Via Cavour 4 in Casalbeltrame, geöffnet Sonntags 15 bis 18 Uhr oder auf Anfrage, sieben Euro Eintritt, Tel. 0321/83 83 75 , www.casalbeltrameonline.it/museo

Weitere Auskünfte: www.turismonovara.it

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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