Im Norden Islands:Skitour auf der Spur des Trolls

Irgendwo in einer Höhle hier soll ein Bauer 1764 den letzten Troll getötet haben, erbost darüber, dass dieser seine Kuh gefressen hatte. Jetzt zieht es Skitourengeher aus aller Welt auf die unberührten Gipfel. Zeit für einen Besuch.

Von Florian Sanktjohanser

Die Poolsitten am Polarkreis sind eigenwillig. Man sitzt im heißen Wasser, trägt Wollmütze, trinkt Dosenbier. Und ab und an steht einer auf und springt von der Kaimauer ins Arktische Meer. Ohne Mütze natürlich. "Ja", sagt ein Schweizer zur Linken versonnen, "die weite Reise hat sich gelohnt." Feine Flocken fallen auf seine nackten Schultern, durch die Dampfschwaden blickt er auf die steilen Schneeberge ringsum. Zur Rechten schwärmen Frankokanadier und Amerikaner von Abfahrten über unverspurte Hänge, und gegenüber erzählt ein österreichischer Bergführer seinen Kunden, wie es war, als er vor sechs Jahren zum ersten Mal hierher kam: "Damals waren die Berge im Winter noch unberührt", sagt er. "Jetzt ist schon zu viel los."

Zu viel los? Hier im äußersten Norden Islands, wo von Mitte November bis Ende Januar die Sonne nicht aufgeht? In einem Kaff, das bis vor acht Jahren im Winter komplett von der Außenwelt abgeschnitten war?

Das Kaff, Pardon, die Stadt heißt Siglufjörður. Bunte Holzhäuser, verstreut um eine Bucht unter den tausend Meter hohen Bergen der Tröllaskagi, der Troll-Halbinsel. Irgendwo in einer Höhle hier soll ein Bauer 1764 den letzten Troll getötet haben, erbost darüber, dass dieser seine Kuh gefressen hatte. Daher der Name.

Man sieht es Siglufjörður nicht an, aber das Städtchen hat eine schillernde Geschichte. In den 1930er- und 1940er-Jahren lag in seinem Hafen eine Armada von Kuttern, Tausende Heringsmädchen nahmen im Akkord Fische aus. In den Straßen hörte man Schwedisch, Finnisch und Englisch, in den fünf Tanzhallen spielten jeden Abend Bands. Bis die Heringsschwärme 1968 plötzlich verschwanden. Siglufjörður wurde zur Geisterstadt. Nun erlebt es eine erstaunliche Wiedergeburt - als Zentrum des isländischen Skibooms.

"In den vergangenen Jahren ist das Skitourengehen hier explodiert", sagt Selma Benediktsdóttir. Ihre roten Locken quellen unter dem Stirnband hervor, die Frühlingssonne gleißt über ihre Sommersprossen. Sie schiebt ihre fellbesetzten Skier in einer gut ausgetretenen Spur voran, über ihr steigen zwei andere Gruppen den sanften Hang hinauf. Benediktsdóttir fuhr früher Slalom-Rennen. Jetzt ist sie 30 und kommt jedes Frühjahr aus der Hauptstadt Reykjavík auf die Troll-Halbinsel, um Touren zu führen. Vielleicht hat sie deshalb so extrem gute Laune.

Genau wie das Paar aus Schweden und die beiden Familien aus Québec, die ihr folgen. Mit jedem Schritt wird das Panorama grandioser. Bald spitzt am Ende des tief verschneiten Tals das Meer hervor. Und dann, am ersten von vielen Aussichtspunkten in dieser Woche, überblickt man die ganze Pracht des nordischen Winters: Aus dem tiefblauen Héðinsfjord steigen steile Schneehänge empor, geringelt vom Schwarz der Vulkanfelsen. Und dahinter erheben sich die Gipfel der Troll-Halbinsel. Manche ähneln Pyramiden, andere Kuppeldächern. Die meisten aber sind wie mit einem Messer abgeschnitten.

Nur die Straße weit unten erinnert daran, dass Menschen auf diesem Eisplaneten leben - und die Eingänge der beiden Straßentunnel. Die Regierung ließ sie bohren, um Siglufjörður aus seiner winterlichen Isolation zu befreien. Als sie 2010 vollendet wurden, änderte sich das Leben grundlegend. Nun fährt man in einer Stunde nach Akureyri. Dort, in der Hauptstadt des Nordens, gibt es ein Krankenhaus, eine Universität und einen Flughafen, über den Skitouristen bequem anreisen können.

Auf der Troll-Halbinsel finden sie ein halbes Dutzend Skigebiete, das größte in Akureyri hat fünf Lifte. "Aber zum alpinen Skifahren kommen nur Isländer hierher", gibt Benediktsdóttir zu. Ausländer zieht die weiße Wildnis an. Berge, die bis in den Juni schneesicher sind und die man sich nicht wie in den Alpen mit Hunderten Tourengehern teilen muss. Auf der Landkarte erscheinen sie zwar nicht besonders imposant, die höchsten Gipfel sind gerade mal 1500 Meter hoch. Doch dafür beginnen die Aufstiege fast auf Meereshöhe.

"Ich habe hier ein kleines Monster erschaffen", sagt Jökull Bergmann

"Du kannst natürlich an vielen Fjorden Islands Skitouren gehen", sagt Benediktsdóttir. "Aber meist nur von einem Schiff aus. Hier genügt ein Auto." Das lockt zunehmend erfahrene Skibergsteiger an, die sich den Guide sparen wollen. Da es noch keine Tourenbücher gibt, suchen sie ihre Routen auf Blogs. Oder folgen den Spuren anderer. "Das waren bestimmt Österreicher", sagt Benediktsdóttir spöttisch und zeigt auf eine Zickzackspur in einem eher flachen Hang. "Sie lieben Spitzkehren."

Benediktsdóttir spurt lieber in weiten Bögen bergan. Auf der Schulter des Steinneshnjúkur angekommen, gräbt sie erst mal ein Loch in den Schnee. Sie will den Aufbau prüfen, um das Lawinenrisiko abzuschätzen. Meist ist es gering. Zwar schneit es auf der Troll-Halbinsel mehr als irgendwo sonst in Island, weil sich an ihren Bergen die winterlichen Nordost-Stürme entladen. Aber der Schnee setzt sich im maritimen Klima besser als in den Alpen, die Schneedecke ist stabiler und hat weniger Schwachschichten. "Wir fahren heute auf jeden Fall einzeln runter", sagt Benediktsdóttir, "einer nach dem anderen." Kein Problem. Man lässt einander großzügig den Vortritt, es gibt genug frischen Tiefschnee für jeden. Kein Baum, kein Fels steht im Weg, über luxuriös weite Hänge schwingt man hinab zum glitzernden Meer.

Mehr als 60 Veranstalter verkaufen mittlerweile Skitouren auf der Troll-Halbinsel, drei Anbieter fliegen ihre Kunden mit Helikoptern auf abgelegene Berge. "Ich habe hier ein kleines Monster erschaffen", sagt Jökull Bergmann. Er ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, in einem Tal der Tröllaskagi, wo seine Familie seit dem Jahr 850 lebt. Als Kind hütete er die Schafe seines Großvaters, mit sieben Jahren führte er erstmals Gäste auf einen Berg. Sein Vorname bedeutet übrigens Gletscher.

Wer sie als erster befährt, darf einer Abfahrt seinen Namen geben. Das schmeichelt

In Chamonix hat Bergmann die Ausbildung zum Bergführer gemacht, als erster Isländer. 1999 brachte er die erste Skitouren-Gruppe auf die Troll-Halbinsel. Von da an kam er jeden Frühling zurück. "Ich sah das Potenzial."

2008 mietete er einen Helikopter und flog mit seinen Gästen auf Berge, von denen noch kein Mensch auf Skiern abgefahren war. Ein Privileg, das es nur noch an wenigen Orten auf der Erde gibt. Und das der Eitelkeit schmeichelt: Der erste darf einer Abfahrt seinen Namen geben. Knapp 700 Abfahrten hätten seine Kunden schon getauft, sagt Bergmann. Aber es gebe immer noch unbefahrene Berge.

Mittlerweile bietet Bergmann von drei Lodges aus Heliskiing mit vier Hubschraubern an, bis zu 15 Guides arbeiten für ihn. Er lebt gut von den Wintergästen. So wie auch Siglufjörður. Früher dauerte die Tourismussaison in dem Städtchen nur von Juni bis August. Und die wenigen Besucher schauten sich das Heringsmuseum an, machten ein paar Fotos und stiegen wieder in den Tourbus. Nun haben die Hotels und Restaurants das gesamte Jahr über stabile Umsätze. Und die Wintergäste bleiben oft eine ganze Woche. "Im Winter macht der Tourismus mehr Spaß", sagt Bergmann. "Man hat Zeit, sich kennenzulernen."

Die Isländer mögen Gäste, der Tourismus hat sie nach dem Finanzcrash 2008 gerettet. Aber in den letzten Jahren lief er etwas aus dem Ruder. Viele regen sich über dreiste Touristen auf, die auf ihrem Land zelten, pinkeln oder Schlimmeres tun. Als Selma Benediktsdóttir am nächsten Morgen den Minibus neben einem Haus außerhalb von Dalvík parkt, rauscht eine Frau aus der Tür. "Es wäre höflich gewesen, um Erlaubnis zu fragen", ruft sie. Benediktsdóttir redet isländisch mit ihr, sofort hellt sich die Miene auf, die Frau lächelt.

Wenn ein Schneesturm durch die Täler fegt, dann flüchten sich die Skifahrer ins Café Frida, um belgische Pralinen zu naschen, gefüllt mit Limoncello, Cognac und Blauschimmelkäse. Oder in die Bäckerei, wo sich die alten Herren der Stadt versammeln, in Jackets und Pullis verschiedener Graustufen. Ab und an unterbrechen sie ihr Palaver und schauen hinüber zu der österreichischen Familie, zu dem Hipsterpärchen und zu den französischen Männern, die konzentriert Landkarten studieren. Über der Bar ist ein Island-Fußball-Fanschal gespannt, im Kühlschrank stapeln sich Torten. Hier könnte man auch einen längeren Blizzard aussitzen. Doch irgendwann stehen die Alten auf, treten ohne Mütze und Schal hinaus ins Schneegestöber und wischen die Scheiben ihrer Autos blank. Selbstverständlich mit bloßen Händen.

Reiseinformationen

Anreise: Wow Air fliegt von Frankfurt und Berlin nach Keflavík, hin und zurück ab 100 Euro, www.wow-air.de. Von dort mit Air Iceland Connect nach Akureyri, einfach ab 43 Euro, www.airicelandconnect.com.

Unterkunft: im neuen Sigló Hotel, DZ mit F. ab 159 Euro, www.siglohotel.is, oder im hübsch renovierten Hótel Siglunes, DZ ab 150 Euro, www.hotelsiglunes.is Skitouren kann man von Februar bis Ende Mai gehen. Der Veranstalter Icelandic Mountain Guides bietet im April eine Skitouren-Woche inkl. Inlandsflug und Unterkunft für 2639 Euro an, www.mountainguides.is; Skitouren und Heliskiing bietet auch der Bergführer Jökull Bergmann an, www.bergmenn.com

Weitere Auskünfte: Touristeninformation im Rathaus: www.fjallabyggd.is, www.visittrollaskagi.is

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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