Hudson Bay:Im Bus zum Bären

Im kanadischen Churchill leben die Menschen mit und von den Eisbären - ein Spaziergang im Dunkeln kann hier tödlich enden.

Birgit Lutz-Temsch, Churchill

Der Bär ging durch das Tor in die Garage des Krankenhauses - und zwar im Wortsinn. Das massive Eisentor war verschlossen. Der Eisbär zertrümmerte es einfach, mit ein paar Prankenschlägen. Das machen Bären so, wenn sie irgendwo hineinwollen.

Hudson Bay: Churchill liegt mitten im Eisbärenland.

Churchill liegt mitten im Eisbärenland.

(Foto: Karte: SZ-Graphik)

Vorkommnisse wie diese sind nicht alltäglich in Churchill. Aber ungewöhnlich auch wieder nicht. Bob Windsor, der Chef der örtlichen Naturschutzbehörde Manitoba Conservation, steht in den Trümmern und sagt: "So etwas passiert jedes Jahr hier. Das ist auch ganz gut, denn es erinnert die Leute daran, dass sie vorsichtig sein sollen. Gerade wenn sie leichtsinnig werden."

Leichtsinnig werden heißt in Churchill, dem Ort mit weniger als 1000 Einwohnern am Ufer der Hudson Bay, dass man im Herbst besser nicht alleine spazieren geht. Dass man eigentlich überhaupt nicht spazieren geht. Dass man 50 Meter zum Supermarkt mit dem Auto fährt, vor allem, wenn es dunkel ist. "In der vergangenen Woche hatten wir 30 Bären in der Siedlung", sagt Windsor. Das sind im Schnitt mehr als vier am Tag.

Dass die Bären so oft in den Ort kommen, liegt nicht am Klimawandel und nicht daran, dass die Eisbären Hunger haben. Das wärmere Klima setzt ihnen zwar enorm zu (Bericht folgt), aber das ist nicht der Grund für ihre Spaziergänge durch Downtown Churchill. Dass hier so viele Bären auf relativ kleinem Raum unterwegs sind, liegt an zwei Dingen: An der Eisströmung in der Hudson Bay - die verläuft gegen den Uhrzeigersinn. Und an der Lage Churchills - in der Nähe eines Kaps.

Endstation Churchill

Wenn im Sommer das Eis in der Bucht aufbricht, driften die Bären auf den letzten Schollen gegen den Uhrzeigersinn, bis sie am Kap hängen bleiben. An dieser natürlichen Endstation steigen sie vom Eis und wandern ein Stück weit hinein ins Land.

Wenn im Herbst die Bucht dann wieder zufriert, kommen die Bären zurück ans Ufer, und wiederum in die Nähe von Churchill: Weil hier mehrere Flüsse ins Meer münden, und Süßwasser schneller friert als Salzwasser. Das wissen die Bären. Und da stört nun dieses Churchill, vom Menschen mitten hinein in den Migrationsweg gebaut.

Der Mensch steht zwar nicht ganz oben auf dem Speiseplan der Bären, denn er ist nicht fett genug. Fett genug sind nur Robben. Aber ein Eisbär, der naturgemäß den ganzen Sommer über sehr wenig gegessen hat, hat im November Hunger. Ein Mensch wäre dann also auch recht.

Jenseits aller Scherze ist die jährliche Bärenwanderung ein ernstes Problem für die Bewohner Churchills, zumindest gewesen. "In den sechziger Jahren hatten wir in einem kurzen Zeitraum fünf Todesfälle", erzählt Windsor, "und aus Notwehr wurden jedes Jahr um die 20 Bären erschossen. Es musste eine Lösung her, für die Menschen und die Bären."

Bei Problemen ins Gefängnis

So kam es zur Einführung des sogenannten Polar Bear Alert Programms, dessen Chef Windsor ist. Drei Hauptziele hat dieses Programm: Die Sicherheit der Menschen und ihres Eigentums zu garantieren, den Bärenbestand zu erhalten und Maßnahmen zu ergreifen, die eine Gewöhnung der Bären an den Menschen verhindern. Drei Kontrollzonen haben die Eisbärenwächter in und um den Ort eingeführt; überall stehen Schilder mit einer Telefonnummer, bei der man sofort anrufen soll, wenn man einen Bären sieht.

Innerhalb von Minuten rücken dann die Wächter an und versuchen, ihn mit Signalpistolen zu vertreiben, was in den meisten Fällen gelingt. Manchmal gehen die Bären auch in eine der an besonders kritischen Orten aufgestellten Fallen. Dann kommen sie in das Eisbärengefängnis, ein Gebäude außerhalb der Stadt, ähnlich wie ein Flugzeughangar, in dem es 28 Zellen für Bären gibt.

"Bären sind nicht dumm", sagt Windsor, "sie merken sich, dass sie nach einem Besuch im Ort eingesperrt waren. Das wollen wir. Die Bären sollen Menschen weder mit Futter noch mit anderen angenehmen Erfahrungen verbinden, damit sie nicht wiederkommen." Mindestens 28 Tage bleiben die Gefangenen in dem Polar Bear Compound, in dem sie nichts zu essen bekommen. Das sind die Bären während ihrer Zeit an Land ohnehin gewöhnt.

Nach 28 Tagen werden die Tiere per Hubschrauber in die Tundra ausgeflogen, außerdem markiert, damit die Wächter sehen können, ob sie dieselben Bären mehrmals fangen. "Nur richtige Problembären lassen wir bis zum Zufrieren der Bay im Compound und fliegen sie weit aufs Eis hinaus", sagt Windsor. Als Problembär gilt zum Beispiel der Besucher der Krankenhaus-Garage.

Der Hunger der Bären

Menschen wie Bären profitieren von dem Programm, wenn man die Zahlen betrachtet: 1983 gab es den letzten tödlichen Unfall, und heute werden im Jahr nicht mehr 20, sondern maximal zwei Bären erschossen. "Es gibt Jahre, da passiert gar nichts", sagt Windsor. "Das wollten wir erreichen. Es ging nicht, dass so viele Bären geschossen werden, 20 pro Jahr ist viel zu viel, das verträgt diese Population nicht", erzählt er. "Aber gleichzeitig müssen natürlich auch die Menschen sicher leben können."

Eisbär in Churchill

Warten auf das Eis: Eisbär am Ufer der Hudson Bay.

(Foto: Foto: Birgit Lutz-Temsch)

In diesem Jahr mussten die Wächter einen Bären erschießen, der gerade einen im Ort angeketteten Schlittenhund verspeiste und sich nicht vertreiben ließ. "Man kann in einer solchen Situation nicht mit dem Betäubungsgewehr arbeiten", sagt Windsor, "denn es dauert drei bis fünf Minuten, bis die Betäubung wirkt, und in dieser Zeit ist der Bär unberechenbar."

Um weniger Bären anzulocken, wurde auch die Müllkippe des Orts vor fünf Jahren aufgelöst. "Es war einfach schrecklich, zu sehen, wie die Bären in dem Müll herumwühlten und alles mögliche fraßen, das sie nicht fressen sollten", sagt Windsor. Jetzt wird der Müll in einem Gebäude neben dem Gefängnis gesammelt und dann in den Süden gebracht.

Im Buggy in die Tundra

Ein großer Aufwand wird da getrieben wegen der Bären, aber die Bewohner Churchills profitieren auch enorm von ihrer ungewöhnlichen Lage: Die Zeit vor dem Zufrieren der Bay ist nicht nur die Hochsaison für die Mitarbeiter von Manitoba Conservation, sondern auch für die Touristen. Denn die Bären-Ansammlung rund um den Ort lockt jährlich immer mehr Besucher an, die die Bären beobachten wollen. Die Naturschutzbehörde hat deshalb einen begrenzten Bereich der Tundra für Touren mit sogenannten Tundra Buggys freigegeben, wuchtige Busse, in denen die Bären sicher beobachtet werden können.

Die Bären lassen sich von den Bussen nicht stören. Manche der am Ufer dösenden Tiere öffnen gerade mal ein Auge, wenn einer der Busse vorbeifährt. Andere liefern sich direkt vor den Augen der Touristen beeindruckende Kämpfe, manchmal sind Tiere darunter, die so viel wie zwei Kleinwagen wiegen.

Nach einem Tag in einem Tundra Buggy geht ganz sicher niemand mehr im Dunkeln spazieren.

Ein Bericht über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Entwicklung der Eisbärpopulation in der Western Hudson Bay folgt.

Mehrere Anbieter veranstalten Reisen zu den Eisbären von Churchill, buchbar sind die Eisbären bei DERTour, FTI auf Anfrage, Canusa, CRD Canada Reise Dienst Hamburg, SK-Touristik und einigen kleineren Veranstaltern. In Churchill gibt es ein paar kleine Hotels (keinen Luxus erwarten, dies ist die Subarktis), und eine Hand voll Restaurants. Sehenswert ist das Eskimo-Museum und das kleine, aber sehr informative Museum von Parks Canada. Ein Spaziergang außerhalb der Stadt verbietet sich in der Zeit, in der Bären an Land sind, und auch in der Stadt sollte man sehr vorsichtig sein. Allgemeine Infos über Manitoba bekommen Interessierte beim Lange Touristik Dienst, E-Mail: CANADA-INFO@t-online.de.

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