Hotel Pragser Wildsee in Südtirol:Fenster zur Vergangenheit

In dem geschichtsträchtigen Hotel am smaragdgrünen See erholten sich berühmte SS-Geiseln von ihrer Verschleppung.

Jochen Temsch

Fey von Hassell war gerade dem Tod entronnen, und jetzt plagten sie gemischte Gefühle, als sie im Mai 1945 aus dem Fenster ihres Zimmers im Hotel Pragser Wildsee schaute. "In diesen ersten Tagen der Freiheit schien uns Prags wie das Paradies auf Erden", schreibt die Tochter des von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers Ulrich von Hassell in ihren Lebenserinnerungen. Und sie fügt hinzu: "Ich konnte den Blick nicht von meinem Fenster lösen, von den schneebedeckten Bergen, die sich steil über dem stillen, geheimnisvoll-traurigen See erhoben."

An diesem fesselnden Blick hat sich bis heute nichts geändert. Still und geheimnisvoll wirkt der Pragser Wildsee noch immer - zumindest frühmorgens, solange die Touristen noch nicht in Scharen aus dem Pustertal angerollt sind, um sich am Kieselstrand zu sonnen, Ruderboot zu fahren oder die erste Etappe des Dolomiten-Höhenwegs Nr.1 in den Naturpark Fanes-Sennes-Prags zu wandern.

Doch selbst im Trubel geht die auf 1500 Metern hoch gelegene Idylle am verschwiegenen Ende des Pragser Tals nicht unter.

Unmittelbar an seinen Buchten ist der See von schroffen Felsen eingefasst wie ein Schmuckstück aus Smaragd und Silber. Das Hotel, eröffnet vor 110 Jahren am 10. Juli 1899, ist das einzige Gebäude am Ufer.

Die aus heimischem Stein errichtete Fassade mit ihren grünweiß gestrichenen Holzbalkonen fügt sich harmonisch in die felsige, waldige Umgebung ein. Aber nie bleibt dieser Anblick gleich. Im Verlauf des Tages wechselt das Wasser immer wieder seine Farbe in allen nur möglichen Grün- und Blauschattierungen. Mal erinnert der See an Tinte. Mal leuchtet er so surreal karibisch türkis, dass man meint, man träumt, kaum hat man die Augen im Hotelbett aufgemacht.

Die Traurigkeit, die in den Augen Fey von Hassells in der Schönheit des Sees lag, rührte von ihren jüngsten Erlebnissen her.

Ihr Vater gehörte zu den Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944. Die SS nahm die 26-Jährige in Sippenhaft, entriss ihr ihre Kinder und verschleppte sie zusammen mit weiteren 138 hochrangigen Persönlichkeiten aus 17 Ländern Europas als Faustpfand für Verhandlungen mit den Alliierten.

Unter den Geiseln waren außerdem zum Beispiel Angehörige des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der ehemalige österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, die früheren Ministerpräsidenten von Frankreich und Ungarn, Léon Blum und Miklós von Kállay, der ehemalige, in Ungnade gefallene Financier Hitlers, Fritz Thyssen, sowie Hochadelige, geistliche Würdenträger und Generäle, zum Teil mit ihren Frauen und Kindern.

Sie waren aus verschiedenen Lagern ins KZ Dachau und dann nach Südtirol geschafft worden. Ende April 1945 traf der Transport in Niederdorf im Pustertal ein. Die Gefangenen mussten bis zuletzt damit rechnen, erschossen zu werden.

Doch im Befehlswirrwarr der letzten Kriegstage griff die Deutsche Wehrmacht ein und befreite die Geiseln aus den Händen der SS. Die Soldaten brachten sie in ein Quartier, das ihrem gesellschaftlichen Rang angemessen schien: das Hotel Pragser Wildsee.

Das Haus war damals nur im Sommer bewirtschaftet und nicht auf die Ankömmlinge vorbereitet. Doch die Großmutter der heutigen Juniorchefin Caroline Heiss, Emma Heiss-Hellenstainer, verpflegte die Freigelassenen, so gut es in dem eiskalten Haus ohne Wasser und Vorräte ging. Leute aus dem Tal brachten ihnen Lebensmittel und Kleider.

Panik, wenn der Fernseher fehlt

So genossen die Verschleppten trotz aller Entbehrungen ihre Freiheit im Hotel und bereiteten sich auf die Rückkehr ins Leben vor.

An der Einrichtung des Hauses hat sich seit damals nicht viel geändert. Das Meiste stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Schallpolster verschließen die Türen, antiquierte Bartschlüssel öffnen sie. Die Dielen knarzen. In den Holzvertäfelungen stecken die originalen Kleiderhaken. Es gibt auch noch die alten Waschtische, kaltes und warmes Wasser fließt aus getrennten Hähnen zum Mischen zusammen. Selbst die Nachtlager sind mehr als 100 Jahre alt.

An die aufragenden Schaumstoffkeile unterm Laken muss man sich allerdings erst gewöhnen. Sie überbrücken breite Ritzen zwischen den zusammengeschobenen Holzrahmen, denn Doppelbetten gab es damals nicht. Selbst Eheleute ruhten in separaten Zimmern. Heutzutage in einem dieser Räume in so einem Bett zu schlafen, wirkt auf altmodische, alpin schlichte Art gemütlich, ohne das Gefühl zu erzeugen, man liege in einem Museum.

Dennoch räumt Hotelchefin Heiss ein: "Manchen mag das Hotel überholt erscheinen. Es gibt Gäste, die stürzen panisch an die Rezeption, wenn sie merken, dass ihr Zimmer keinen Fernseher hat. Aber dieser Ort besitzt eben immer noch den Charme von früher."

Früher, das war die Zeit, als man zu Urlaub noch Sommerfrische sagte und einen mehrwöchigen, müßiggängerischen Aufenthalt am gleichen Ort damit meinte. Die Zeit, als das Hotel Pragser Wildsee zu den ersten Adressen der Gegend zählte und unter anderem den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand beherbergte.

So, wie heute die Tagesausflügler mit Autos und Bussen kommen, fuhren damals bis zu 100 Pferdekutschen am Tag vor. Ein grandioser Erfolg für die Niederdorfer Wirte-Dynastie der Heiss-Hellenstainers, die mit der Erschließung des Pragser Hochtals ein gutes Gespür bewiesen hatte. Im Jahr 1856 kaufte sie dem Bischof von Brixen den See ab und errichtete dort zunächst eine Blockhütte, wo sie Bier und Schwarzbrot an ihre Gäste verkaufte.

Vor allem die Wirtin Emma Hellenstainer trieb die Entwicklung des Fremdenverkehrs voran und erkannte früh die Bedeutung des Bergsteigens. Sie war Mitbegründerin einer der ersten Alpenvereinssektionen im damaligen Österreich und wurde 1869 überhaupt die erste Frau im Deutschen Alpenverein.

Schon zu Lebzeiten war "Frau Emma", wie sie von allen genannt wurde, eine von Reiseschriftstellern wie Peter Rosegger gerühmte Legende. Ihr Sohn Eduard beauftragte das Hotel beim Wiener Baumeister Otto Schmid, der in der gleichen Zeit ähnliche Grandhotels in Trafoi, Sulden und am Karerpass errichtete. Bis heute ist das Haus in Familienbesitz geblieben. Der Pragser Wildsee selbst, italienisch Lago di Braies, ging nach dem Zweiten Weltkrieg per Enteignung an den Staat.

Die 47-jährige Caroline Heiss, die heute die Geschäfte zusammen mit ihrer Mutter Heidi führt, ist am See aufgewachsen. Sie sagt: "Schon vom Gefühl her ist so ein Besitz eine besondere Verantwortung im Leben. Es gibt auch noch etwas anderes als Profit."

Kein Platz für Schickimicki

Deshalb kam es für ihre Familie auch nie in Frage, das Haus an eine Hotelkette oder einen Investor zu verkaufen, der das Pragser Wildsee womöglich bis zur Unkenntlichkeit luxussaniert oder zu einer Apartmentanlage umgewandelt hätte, wie das etwa bei anderen Bauten dieser Art der Fall war. So hat das Pragser Wildsee eben drei, nicht fünf Sterne und ist für jedermann erschwinglich geblieben. Auch der Service ist bodenständig.

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(Foto: Karte: SZ-Grafik)

Es kann schon mal sein, dass man an einen leicht entnervten Kellner gerät, dem ein "Mama mia!" entfährt, weil er nicht einsieht, dass der Gast sein Frühstücksgeschirr lieber mit Blick auf den See als hinter einer Säule aufgedeckt haben möchte. Dafür sitzt man dann aber auf echten Thonetstühlen und genießt die altertümliche Atmosphäre im holzgetäfelten Restaurant mit bäuerlichen Szenen an den Wänden.

Abends bestellt man seinen Aperitif an der Bar aus den fünfziger Jahren und versinkt in einem der verschiedenfarbigen Polstersessel im Vorraum aus den Dreißigern. Auch wenn manches in diesem Hotel zusammengewürfelt wirkt und sicher nicht der Zirbenstubenheimeligkeit entspricht, die viele Touristen in Südtirol suchen, so hat es doch etwas durch und durch Familiäres. Zu den Stammgästen zählen laut Caroline Heiss teils sehr betuchte Familien, aber dies ist kein Ort, an dem man seinen Reichtum heraushängen lässt.

Die beim Wandern unvermeidliche Fleecejacke ist hier auch beim Abendessen kein unpassendes Kleidungsstück. Und gerade weil es nur auf wenigen Zimmern einen Fernsehr gibt, bleibt man nach dem Dessert gerne länger sitzen und kommt schnell mit anderen Gästen ins Gespräch. Dann wird zum Beispiel die Verkostung von Quellwasser, das ein Wanderer bei seiner Tagestour am Berg abgefüllt hat, zur Hauptattraktion des Abends. Caroline Heiss sagt: "Wir wollen kein Schickimicki, sonderen ein Haus, das für alle offen ist."

Auch damit bewahrt sie eine Tradition. Der unvoreingenommenen Gastfreundlichkeit ihrer Großmutter fühlt sich Caroline Heiss verpflichtet.

Heute erinnern eine Gedenktafel an der hauseigenen Kapelle am See und Stellwände mit Texten und Fotos an die Geschehnisse von damals. Dass die Hintergründe der Verschleppung so detailliert aufgearbeitet wurden, ist dem Münchner Publizisten Hans-Günter Richardi zu verdanken.

"Habe absolut alles verloren"

Seit 20 Jahren forscht er zum Thema. Er hat zahlreiche Bücher und Filme über die Schicksale im Nationalsozialismus veröffentlicht. Bei Recherchen über das Konzentrationslager Dachau stieß Richardi auf die Geschichte des Gefangenentransports nach Südtirol. Gemeinsam mit Caroline Heiss konzipierte er eine Ausstellung im Hotel und richtete dort das Zeitgeschichtsarchiv Pragser Wildsee ein.

Darin finden sich unter anderem die vergilbten Zimmerkärtchen der ehemaligen Gefangenen. Auch handgeschriebene Bittschriften sind erhalten, die ihre Not dokumentieren. "Habe absolut alles verloren", notierte zum Beispiel der lettische Hauptmann Gustav Celmins. Und der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht schrieb: "Ich bitte um eine Unterhose...Eine habe ich."

Trotz ihrer prekären Lage waren die Tage der ehemaligen Geiseln im Hotel geprägt von Gemeinsinn, Hoffnung und politischen Diskussionen. Hans-Günter Richardi sagt: "Die befreiten, aus verfeindeten Nationen stammenden Gefangenen lebten im Hotel ein vereintes Europa im Kleinen vor."

Diese europäische Union währte jedoch nicht lange. Eine Woche nach der Befreiung kamen die Amerikaner. Sie brachten die ehemaligen Geiseln zu Befragungen nach Capri. Manche, etwa Fritz Thyssen oder Hjalmar Schacht, mussten sich für ihre Rolle im Nationalsozialismus vor Gericht verantworten. Fey von Hassell fand ihre Kinder wieder.

Sie lebt hochbetagt in Rom und in einem Schloss im Friaul. Viele der Geiseln - und auch deren Angehörige - kehrten immer wieder ins Hotel Pragser Wildsee zurück. So ist das Hotel bis heute, wie Hans-Günter Richardi formuliert, "ein zeitgeschichtlicher Ort von europäischer Bedeutung" geblieben.

Das ist es, was seine wahre Schönheit ausmacht.

Informationen

Anreise: Über die Brenner-Autobahn A22, Ausfahrt Brixen, dann ins Pustertal, zwischen Welsberg und Niederdorf zweigt das Pragser Tal ab, an dessen Ende See und Hotel liegen. Oder mit dem Zug nach Niederdorf, von dort weiter mit einem Linienbus.

Unterkunft: Hotel Pragser Wildsee, DZ mit Halbpension ab 68 Euro pro Person, St. Veit 27, I-39030 Prags/Hochpustertal, Südtirol, Tel.: 0039/0474 748602

Weitere Auskünfte: www.archivpragserwildsee.com

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