Hotel Oloffson auf Haiti:Voodoo-Palace

Mehr als ein Schauplatz der Weltliteratur: Das Grand Hotel Oloffson in Haiti trotzt seit vielen Jahren Elend und Chaos.

Stefan Klein

Es ist Donnerstag, und das alte Hotel wird wissen, was ihm bevorsteht. Sechs Tage in der Woche hat es seinen Frieden. Da kann es träumen und seinen Erinnerungen nachhängen, und keiner, der es dabei störte. Tiger Woods nicht, der sich wie gewohnt auf den Fliesen der großen Terrasse ausgestreckt hat und sich still die Vorderpfoten leckt, die paar Gäste nicht, und die Stadt auch nicht. Die ist jenseits des Gartens hinter der Mauer, die ihn umgibt, und ihr Lärm kommt hier nur als ein fernes Rauschen an.

Hotel Oloffson auf Haiti: Hotel Oloffson auf Haiti

Hotel Oloffson auf Haiti

(Foto: Foto: Getty Images)

Nein, den tropischen Dämmerschlaf des alten Hotels vermag nichts aus der Ruhe zu bringen. Nichts, außer wenn Donnerstag ist.

Es gibt Vorzeichen, und das alte Hotel kennt sie seit langem. Die Musikinstrumente zum Beispiel, die in Stellung gebracht werden, Trommeln, Schlagzeug, Synthesizer. Die anders angeordneten Tische und Stühle. Der Getränkewagen, der nochmal Nachschub bringt. Und natürlich der helle Lippenstift auf den schmalen Lippen von Anna de Pradines.

Später am Abend wird Madame Anna an der Bar sitzen, da, wo der Tresen aus poliertem Mahagoni nach einer Rechtskurve an die Wand stößt. Da wird sie auf einem Barhocker sitzen, alte, kleine Frau, mit einer Holzkiste vor sich, und das Geld für jeden Rum-Punsch, jedes Bier, das die Mädels an der Bar kassieren, wird sie persönlich darin verstauen.

So wird es sein, und je später es wird, je lauter, je heißer und je mehr Menschen die alten Holzbohlen in Schwingung bringen, desto öfter wird Madame Anna ihre Kiste auf- und zuklappen. Musik wird den ganzen Abend über sein, aber die Musik, derentwegen die Leute kommen, wird erst ab Mitternacht gespielt werden, Richard und Lunise lassen sich immer sehr viel Zeit.

Dann wird unter dem Gewummer und Gedröhn aus gewaltigen Lautsprechern ein Beben das alte Hotel erfassen, es wird wackeln und vibrieren und vielleicht auch schlottern vor Angst. Baron Samedi, der Totengeist, wird aufwachen, und wer weiß, welche Voodoo-Geister sonst noch geweckt werden in dieser brüllenden, tobenden Nacht.

Ein Haus kann unterschiedlichen Zwecken dienen, dieses hier ist eigentlich ein Wohnhaus. Als die haitianische Familie der Sams, die in der politischen Geschichte des Landes mit zwei Staatspräsidenten vertreten ist, Ende des 19. Jahrhunderts eine standesgemäße Unterkunft braucht, baut sie sich in der Hauptstadt Port-au-Prince eine mehrstöckige, stattliche Villa.

Aus Holz, ganz in Weiß, mit verzierten Türmchen und Giebeln, sieht sie aus wie mit der Laubsäge gebastelt und mit Zuckerguss überzogen. Gewohnt wird dort freilich nicht lange. 1915 besetzen die USA das chaotische Land für fast zwei Jahrzehnte, und aus der Villa der Sams wird ein amerikanisches Militärkrankenhaus.

Lesen Sie weiter, wie die Villa schließlich zum Luxushotel wird.

Voodoo-Palace

1935, die Amis sind wieder weg, beginnt schließlich das dritte Leben der Sam-Villa. Ein schwedisch-deutscher Kapitän namens Walter Gustav Oloffson pachtet das Haus und macht ein Hotel daraus. Das Grand Hotel Oloffson, wie es nun heißt, bekommt im Laufe der Jahre noch andere Pächter, aber den Namen behält es, und der hat seinen Klang.

Er zieht Künstler, Schauspieler und Schriftsteller aus aller Welt an, und einer von ihnen lässt sich vom Oloffson sogar zu einem Roman inspirieren. Das ist Graham Greene, der "The Comedians", Die Stunde der Komödianten, in dem Hotel spielen lässt und es dort als Gast zu einem großen Teil auch schreibt.

Doch ein Luxushotel braucht, wenn es funktionieren soll, den Luxus eines ordentlich regierten und stabilen Landes, es braucht Ruhe und Sicherheit, kurzum: all das, was Haiti nicht hat und noch nie hatte. Das Oloffson blüht unter diesen Umständen immer nur kurze Zeit, meist geht es ums Überleben, und wenn ein Direktor keine Kraft mehr hat, kommt der nächste und versucht es aufs Neue.

So wie Brown, der fiktive Hotelchef, den Greene sagen lässt, er werde das "Trianon", wie es im Roman heißt, "zum beliebtesten Touristenhotel im Karibischen Archipel machen". Und in der Tat, sein Traum scheint Wirklichkeit zu werden, drei Saisons lang, doch im Laufe von drei weiteren sieht er es "wieder sterben".

Greene hat seine Geschichte um Brown, den Schwindler Jones und das amerikanische Gutmenschenpaar Smith, das Haiti mit den Segnungen des Vegetarismus beglücken will, in einer besonders unseligen Phase des Landes angesiedelt.

Es ist dies die Schreckensherrschaft von Dr. François Duvalier ("Papa Doc"), der in den fünfziger und sechziger Jahren mit seiner Geheimpolizei, den sogenannten Tontons Macoutes, Haiti quält und peinigt.

So wie Greene die Verhältnisse beschreibt, kommt er bei aller dichterischen Freiheit der Wahrheit ausgesprochen nahe. Auch die Person des Hoteldirektors Brown könnte durchaus ein lebendes Vorbild gehabt haben - in Gestalt des Franzosen Roger Coster, der als Nachfolger Oloffsons in dieser Zeit das Hotel führt.

Auf Coster folgt der New Yorker Al Seitz, und als der 1982 stirbt, führt seine Frau das Hotel noch ein paar Jahre weiter. Doch der Duvalierismus in Gestalt des Sohnes "Baby Doc" lässt das Land immer tiefer im Elend versinken, Tourismus wird zum Fremdwort, und 1986 ist das Oloffson am Ende.

Es ist wie beim Ableben eines gern gesehenen, alten Bekannten, jedenfalls klingen die Nachrufe so, zum Beispiel der im Miami Herald: Die Karibik, heißt es da, habe ihr bekanntestes Hotel verloren - "das bunte und schrullige Grand Hotel Oloffson starb einen stillen Tod."

Das Mobiliar einschließlich der Mahagoni-Bar wird verscherbelt, und danach vernagelt man die Türen und überlässt das Haus dem Staub, dem Verfall und dem Vergessen.

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Voodoo-Palace

Doch die Leiche mag sich nicht abfinden mit ihrem Schicksal, und so kommt es, dass anderthalb Jahre später der Miami Herald eine Wiederauferstehung zu vermelden hat. Es wird nicht gerade eine Rückkehr in die Liga der großen Hotels, dazu müsste der Retter ein steinreicher Mann sein, doch das ist Richard Morse nicht.

Genau genommen hat er überhaupt kein Geld, er hat noch nicht mal einen richtigen Job. Selbst heute mag man es nicht so recht glauben, dass der jugendlich und sehr lässig wirkende große Mann mit seinen langen, hinten zu einem Schwanz zusammengebunden grauen Haaren ein Hotelier sein soll, und das seit mehr als zwanzig Jahren. Er selber glaubt es ja auch kaum: "Ist doch nicht zu fassen, oder?"

Morse, Sohn eines amerikanischen Historikers und einer haitianischen Sängerin, wird in Puerto Rico geboren und wächst in den USA auf. Er studiert Anthropologie, er macht Musik, irgendwann landet er in einer New Yorker Band.

Hotelier in Haiti, warum nicht?

Aber dann geht es nicht recht weiter, er weiß nicht wohin im Leben, und so geht er nach Haiti, in die Heimat seiner Mutter, um sich dort mit Voodoo-Rhythmen vertraut zu machen. Er hat eine Tante in Port-au-Prince, Anna de Pradines, und es gibt auch eine Verbindung zur Familie Sam, in deren Besitz sich das geschlossene Hotel noch immer befindet.

Statt es vergammeln zu lassen, bietet sie Morse das Oloffson zur Pacht an, und da der ohnehin gerade dabei ist, sich eine Arbeit zu suchen, nimmt er an. Hotelier in Haiti, warum nicht?

Morse muss sich Geld leihen, um aus der leeren Hülle wieder ein Hotel zu machen. Zimmer sind zu möblieren, Wände zu streichen, Kellner und Köche einzustellen. Die alte Mahagoni-Bar treibt er irgendwo in der Stadt auf und schafft sie an ihren alten Platz zurück, und weil die Bar ohne Morgan Destouches eigentlich nicht denkbar ist, holt er auch den Mann zurück, der dort ein Vierteljahrhundert seine berühmten Rum-Punsche gemixt hat.

Das Comeback ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn Destouches ist mürrisch geworden im Alter, und Morse kann keine Griesgrame brauchen.

Eigentlich müsste das Oloffson saniert und von Grund auf renoviert werden, so hat es nur seinen Charme, die Ahnung vergangener Größe und die Hoffnung, dass Gäste über so manche Schmuddelecke und die Moskitos hinweggucken und sich nicht daran stören, wenn ein Türgriff fehlt, ein Lichtschalter zickt oder wenn es irgendwo durchregnet.

Lesen Sie weiter, in welche Bedrängnis der neue Hotelier gerät.

Voodoo-Palace

Viele Gäste sind es sowieso nicht, wo sollten sie auch herkommen? In Europa warnen die Regierungen vor Reisen nach Haiti. Morse sagt: "Ich weiß gar nicht richtig, was das ist, ein Tourist." Manchmal schickt ihm das französische Kulturinstitut Leute, manchmal kommt ein Künstler, manchmal ein Journalist, manchmal steigen Helfer von humanitären Organisationen bei ihm ab.

Früher waren es die Noel Cowards, Marlon Brandos und Mick Jaggers, heute kommt allenfalls mal ein zweitklassiger Sänger oder ein Filmregisseur, dessen Name Morse aber gerade nicht einfällt. Und, ach ja, Bill Clinton sei mal da gewesen für einen Schwatz auf der großen Terrasse, da, sagt Morse und zeigt auf die Stelle. Aber natürlich nicht zum Übernachten. Es ging um Hemingway und ob der auch mal im Oloffson war.

Bescheiden ist das alles, und es hält nicht Schritt mit den großen Träumen, die Morse hat, als er das Oloffson übernimmt. Da will er Haitis Kultur und seinen Fremdenverkehr beleben, und das Oloffson soll der Impulsgeber dafür sein.

Die Zeiten sind wieder mal nicht so

Er holt eine haitianische Tanztruppe in sein Hotel und wandelt sie langsam um in eine Band. Eine der Tänzerinnen namens Lunise wird seine Frau und die Leadsängerin in seiner Band, die sich Ram nennt - die Abkürzung von Richard Auguste Morse. Rams Tag wird der Donnerstag.

Doch die Zeiten, die sind wieder mal nicht so. Haiti Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, das ist, als würde man im Präsidentenpalast unentwegt Reise nach Jerusalem spielen: Ein Herrscher verdrängt den anderen, in rasender Folge. Morse erinnert sich an einen Tag, an dem habe es drei verschiedene Regierungen gegeben.

Allen, die da amtieren, ist der Mann im Hotel Oloffson nicht recht geheuer. Die Musik, die er mit seiner Voodoo-Rockband macht, kommt an, die Leute mögen ihn, so viel Beliebtheit ist verdächtig, und sind da nicht heimliche politische Botschaften versteckt in den Songs?

In der Militärjunta von General Raoul Cédras glauben sie solche Botschaften heraushören zu können, und sie mögen sie gar nicht. Da ist zum Beispiel dieser Song "Fey", der im Radio viel gespielt wird, große Popularität erlangt und bald als eine Art Protestlied gegen das Regime gesungen wird.

Das Regime Cédras reagiert mit einem Verbot und mit finsteren Drohungen gegen Morse. Man lässt ihn wissen, es gebe genug Killer in der Stadt, die ihn für weniger als einen Dollar umbringen würden.

Nach Cédras kommt Aristide, dann Préval, dann wieder Aristide, die Machthaber wechseln, nur Baron Samedi nicht, der Herr über Leben und Tod. Voodoo mit seinen Hunderten Geistern ist die einzige Konstante in Haiti, und jetzt ist da auch noch dieser unabhängige Geist im Oloffson.

Wie gefährlich das Leben und Feiern im "Oloffson" war - auf der nächsten Seite.

Voodoo-Palace

Der lässt sich nicht kaufen und gerät in immer größere Bedrängnis. Aufeinanderfolgende Regime stellen sein Hotel gleichsam unter Quarantäne, niemand darf mehr hinein. Manchmal schafft es der eine oder andere trotzdem, vor allem an den Donnerstagabenden, aber dann kommt die Polizei, maskiert und mit Waffen, und scheucht die Gäste auseinander.

Einmal verhaften sie Bandmitglieder, mitten in der Show. Ein andermal gibt es einen merkwürdigen Autounfall, wenn es denn wirklich einer war und nicht ein Mordanschlag auf die Band. Morse selber bleibt unangetastet. Er hat einen amerikanischen Pass.

Jahre geht das so, und wenn man den Erzählungen des Richard Morse nur lange genug zuhört, dann ist es, als fände da einen Widerhall, was wir in den "Comedians" gelesen haben. Was Greene beschreibt, liegt mehr als fünfzig Jahre zurück, aber es wirkt als wär's heute.

Verrückt: Da sitzt man auf der großen Terrasse des Oloffson, Tiger Woods neben sich auf den Fliesen, und liest einen nicht mehr ganz taufrischen Roman, aber all das, was das Land derzeit plagt, findet darin bereits Erwähnung. Das Wort Hungerunruhen fällt zwar nicht, wohl aber der Satz: "Wenn einem heute ein Mensch sagt: 'Ich verhungere', dann glaubt man ihm."

Es ist der Hunger, der die jüngste Krise auslöst in Haiti, dabei ist es die letzten Jahre eher ruhiger geworden im Land. Viele atmen auf. Die es sich leisten können, gehen abends wieder aus, und auch das Oloffson profitiert. Ein bisschen.

Morse denkt, dass er genug Geld verdienen möchte, um dem Haus die Verjüngungskur zu ermöglichen, die es braucht. Wenigstens das Dach müsste instand gesetzt werden. Müsste. Aber woher soll das Geld dafür kommen?

Morse hat zwanzig Zimmer, und wenn es hoch kommt, ist die Hälfte belegt. Davon muss er die Pacht bezahlen und seine Angestellten. Im Moment macht er mehr Geld mit seiner Band, und das steckt er dann ins Hotel, für das Allernötigste. Warum er sich das antut? Morse zuckt mit den Schultern. "Weil mir noch keiner einen besseren Job angeboten hat."

Das freilich ist nur ein Spruch. In Wahrheit liebt er dieses alte Haus mit dem großen, grünen Garten davor. Es mag zu dem "Haufen Elend" gehören, der "ein paar Meilen vor Florida im Meer schwimmt", so wie Greene das formuliert, aber es ist ein Stück Heimat geworden. Als Richard Morse nach Port-au-Prince kommt, ist er 28, heute ist er fünfzig, und es sieht nicht so aus, als sei er auf dem Sprung woanders hin.

Lesen Sie weiter über die spezielle Donnerstags-Atmosphäre im Hotel.

Voodoo-Palace

Morgens, wenn die Luft noch ein bisschen Frische hat, kommt Morse zum Frühstück auf die große Terrasse, und dem Kellner muss er nichts sagen. Er ist dann oft sein einziger Gast außer Baron Samedi natürlich, der mit Frack und Zylinder als Holzfigur in der Treppennische steht. Morses Blick verliert sich dann in den Palmen und alten Bäumen, und er sagt sich: Dies ist kein schlechter Platz.

Ist es ein Donnerstag, dann weiß er, was ihm bevorsteht. Heute ist Donnerstag, die Vorzeichen für das, was kommt, sind unübersehbar, aber bis Mitternacht ist es noch lang. Von 22 Uhr an beginnt sich das Hotel zu füllen, und das sind Leute, die in der Lage sind, 300 Gourdes Eintritt, also acht Dollar, zu zahlen, was ungefähr dem entspricht, was in Haiti die meisten in einer ganzen Woche verdienen.

In den "Comedians" heißt es, die Frauen von Haiti seien die schönsten auf Erden, und donnerstags zieht es die Schönen ins Oloffson. Mit einem samtenen Lächeln kommen sie die Treppe herauf, die Vorband kaum beachtend. Erst später, wenn die Band faucht, fauchen sie zurück.

Feuer unter der Kruste aus Elend, Furcht und Depression

Haiti ist ein unglückliches Land, hier aber sind ein großer Mann mit einem gelb glänzenden Tuch um den Kopf und eine kleine, sehr wendige Frau mit einem gelb glänzenden Tuch über der Schulter, und die treiben ihre Band an, treiben die Leute an, treiben etwas aus und etwas anderes rein und bringen so ein bisschen was von dem zum Vorschein, was sonst verborgen ist unter dieser Kruste aus Elend, Furcht und Depression.

Tiger Woods hat sich längst verzogen, und auch die blutrünstigen kleinen Viecher, die man Moskitos nennt, sind geflüchtet vor dem Krach. Anna de Pradines aber hält eisern ihre Stellung an der Bar. Auf und zu geht die Kiste, und man denkt, so eine Finanzministerin müsste das Land haben.

Irgendwann spät in der Nacht stehen wir unten im Garten. Aus der Entfernung und gefiltert durch das viele Grün sieht es auf einmal gar nicht mehr aus, als zittere da eine alte, morsche Villa vor Angst. Von wegen: Das hell erleuchtete Oloffson scheint zu sprühen vor Lebenslust, und wenn man genau hinsieht, dann sieht man, dass es rockt und rollt, als gäb's kein Morgen.

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