Halloween in Salem:Lasst die Toten sprechen!

Was heute in der US-Kleinstadt Salem als fröhlich-kommerzielles Spektakel daherkommt, fußt auf einem grausigen Hexenprozess im Jahr 1692. Nachts kann es noch immer ganz schön unheimlich werden

Ingo Hübner

Das warme, dezente Licht der Lampe macht schläfrig. Sie steht auf dem Boden in der Mitte des Raumes und sieht aus, als sei sie von Superman vom Planeten Krypton mitgebracht worden: ein großer Quarzkristall mit einer geheimnisvollen Leuchtkraft im Inneren.

In einem Kreis herum sitzen etwa 20 Menschen, darunter Barbara - wegen ihr sind alle gekommen. Im Rücken der Gruppe ein großes Schaufenster nach draußen, vor dem sich die Bäume im abendlichen Herbststurm biegen. "Schließt jetzt die Augen und atmet ganz bewusst und langsam", Barbaras Worte klingen noch einige Sekunden in der Stille nach. "Atmet und entspannt euch."

So machen das alle einige Minuten lang und man hat fast schon das Gefühl als befände man sich in einem Yoga-Kurs. Doch nein, wir sind mitten in einer Séance und Barbara, das Medium, will mit Verstorbenen kommunizieren, die den Anwesenden nahe standen.

Die Spannung ist jetzt fast greifbar im Raum. "Ein Mann, Mitte 50, graues zurückgekämmtes Haar, ein Loch in seiner Stirn, er sagt, sein Name sei George", Barbara richtet den Blick in die Runde: "Fühlt sich irgendjemand an George erinnert?" Zögerlich meldet sich eine ältere Frau zu Wort: "Mein Mann hieß George, er ist bei einem Unfall an einer Kopfverletzung gestorben", sagt sie. "Hatte er eine Taschenuhr?", fragt Barbara. "Ja." - "George sagt, sie sollen ihm nicht mehr nachtrauern und endlich ihr eigenes Leben weiterführen."

Zwei Stunden geht die Séance in diesem Stil weiter, dann ist Barbara erschöpft. "Danke, dass ihr gekommen seid und Entschuldigung, dass nicht jeder zum Zug gekommen ist", sagt sie zum Abschied.

Ein ziemlich unspektakuläres Ende für eine unspektakuläre Séance. Doch genau das hat die Veranstaltung so mysteriös gemacht. Es können ja nicht die Hälfte der Anwesenden gekauft sein und mit Barbara unter einer Decke stecken. Das waren doch echte Touristen, ihre Salem-Einkaufstüten und ihr Dialekt haben sie eindeutig verraten! Punkte, die der Verstand akribisch auflistet, während er fieberhaft nach einer logischen Erklärung für das Geschehene sucht.

Dümmlich grinsende Kürbisfratzen verhöhnen mich aus Schaufenstern und vor Hauseingängen. Jemand in einem Hexenkostüm huscht über die Straße und verschwindet in einer schmalen Gasse. Halloween und Hexen, eine verstörende Mischung in dieser Nacht.

Lasst die Toten sprechen!

Im alten Halloween-Glauben ist die Rede davon, dass in der Nacht zum 1. November Samhain, der Gott der Toten, die Erde besucht und der Vorhang ins Jenseits weit geöffnet ist, man sogar mit den Toten kommunizieren könne. Also funktioniert es doch? Die Kirche hat ja immerhin mit Allerheiligen ein Gegengewicht zu diesem heidnischen Fest in die Waagschale geworfen.

Erschien Salem bei Tag wie ein einziges knallbuntes kommerzielles Halloweenspektakel, bekommt diese Fassade nun tiefere Risse. Was heute während der vier Oktoberwochen fröhlich aufgetischt wird, hat ein grausames geschichtliches Ereignis zum Hintergrund.

Salem wurde 1692 zum Schauplatz der bedeutendsten und grausamsten Hexenjagd in der amerikanischen Geschichte. Im Januar dieses Jahres hatten zwei junge Mädchen plötzlich ohne erkennbaren Grund wiederholt hysterische Anfälle. Der zur Untersuchung herbeigerufene Doktor attestierte rasch, die Mädchen stünden unter dem Einfluss des Bösen.

Des Doktors Befund fiel auf fruchtbaren Boden, zur damaligen Zeit war der Glaube an das Übernatürliche in der Gegend weit verbreitet. Schließlich behaupteten die Mädchen, sie seien verhext worden. Als man sie befragte, fielen bald Namen vermeintlicher Hexen und Hexer, und das Unheil nahm schnell seinen Lauf. Ein dreiviertel Jahr später waren 20 Menschen tot, 19 gehängt, einer zu Tode gepresst. Fünf weitere starben im Gefängnis.

Einer, der sich schon lange mit der faszinierenden Geschichte dieser Hexenjagd beschäftigt, ist der Historiker Jim McAllister. Im Oktober führt er auf seinem Witch Trial Trail durch das nächtliche Salem. "Wie es zu dem hysterischen Ausbruch kam, der in einer so groß angelegten Hexenjagd endete, wissen wir bis heute nicht genau", erklärt McAllister gleich zu Beginn der Führung. Vielleicht wollten die Mädchen nur Spaß machen, aus dem Korsett des sittsamen und strengen Puritanismus ausbrechen, ein bisschen Aufmerksamkeit heischen.

Oder sie hatten im Brot einen alkaloidhaltigen Pilz, dieser befällt diverse Getreidesorten und wirkt ähnlich wie LSD. Oder, oder, oder.

Die Folgen ihres Verhaltens wiegen auf jeden Fall schwer und haben Salem den Beinamen Witch City beschert. Findige Geschäftsleute machten daraus bereits 1892 eine Marke und so ist es beinahe logisch, dass heute förmlich alles in Salems Straßen von dem Marketingartikel Hexerei überflutet ist. Esoteriker, moderne Hexen, Medien, viele haben in Salem ein neues Zuhause gefunden.

Lasst die Toten sprechen!

Der Sturm ist mittlerweile stärker geworden und fordert den Bäumen viele Blätter ab, Jim kann nur mit sehr lauter Stimme dagegen halten. Die Straßen sind fast leer und in dem milchigen Licht der Laternen wirkt alles ein wenig zwielichtig, gespenstisch.

In der Ferne ist für einen Augenblick die Sirene eines Krankenwagens zu hören. Schnellen Schrittes führt Jim zum nächsten Halt, dem alten Burying Point und dem angrenzenden Witch Trial Memorial. "Bemerkenswert ist, dass keines der Opfer auf dem Friedhof begraben ist, ihre Gräber wurden nie gefunden. Nur einer der Richter im Prozess, John Hathorne, wurde auf diesem Friedhof begraben", erzählt Jim.

"Aus den Protokollen wissen wir, dass Hathorne besonders unnachsichtig war und mehr als Ankläger denn als Richter agiert hat. Sein Ur-Urenkel, der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne, hat sich aus Scham das W in den Nachnamen schreiben lassen, um nicht mit dem Richter in Verbindung gebracht zu werden."

Dunkelheit liegt über dem Friedhof, nur schemenhaft sind die Grabsteine zu erkennen. McAllister berichtet weiter über die damaligen Greueltaten und wie die Hexerei benutzt wurde, politische Gegner zu diffamieren oder gleich ganz aus dem Weg zu räumen. Der Terror war geschickt und diffizil.

Im Grunde nagt jetzt aber etwas ganz Anderes an mir, eine wirklich ziemlich gespenstische Frage: Warum nimmt ein Medium in Salem nicht einmal Kontakt zu den Opfern des Hexenprozesses auf? Das wäre mal eine Halloweenshow ...

Information:

Auskunft

Fremdenverkehrsamt Massachusetts: Discover New England, c/o Buss Consulting, Postfach: 1213, 82302 Starnberg, Tel. 08151 739 774.

Übernachten

Boston: Westin Copley Place, 10 Huntington Ave., Tel. (001) 617 262 9600. Wenn man lieber in Boston nächtigen möchte, bietet sich z.B. das Westin an - auch wegen dem fantastischen Blick auf die Stadt. Die Salem Ferry verkehrt mehrmals am Tag zwischen beiden Orten.

Peabody: Hampton Inn Boston-Peabody, 59 Newbury St., Tel. (001) 978-536-2020. Das Hotel liegt etwas außerhalb von Salem, ist aber eine gute Wahl. In Salem kann es im Oktober nämlich sehr voll werden.

Auf der Internetseite "Hautend Happenings Salem" finden sich weitere Unterkunftsmöglichkeiten sowie ein Kalender für alle Veranstaltungen.

Unternehmen

Im Salem Witch Museum wird die Geschichte der Hexenverfolgung in halbstündigen Shows nacherzählt, 19 ½ Washington Square, Tel. (001) 978-744-1692.

Die nächtliche Führung Witch Trial Trail geht den Spuren der Hexenverfolgung in Salem nach, Derby Square Tours, Tel. (001) 978-745-6314.

Das Medium Barbara Szafranski hält Séancen auf Anfrage ab. Kontakt: Angelica of the Angels, 7 Central Street, Tel. (001) 978 745 9355.

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