Gletscher in der Schweiz:Neue Ufer

Gries- und Hohsandgletscher im Wallis, um 1900 und 2007, Schweiz, Gletscher

Wenn Eis zu Wasser wird: der Gries- und Hohsandgletscher im Wallis um 1900 und 2007.

(Foto: Sammlung Gesellschaft für ökologische Forschung)

Wenn die Ewigkeit dahinschmilzt: Auch in einem Sommer wie diesem geht das Eis der Alpen den Bach runter. Aber dadurch entstehen andere Attraktionen - wie neue Seen und Panoramawege.

Von Dominik Prantl

Er sieht wirklich nicht besonders gut aus, nicht einmal aus der Distanz. Ein ungesundes Braun kleidet sein Antlitz, die Furchen sind tief und die Zunge hat Löcher. Auch für Emil Feuz hat sich der Zustand seines Patienten in den vergangenen Jahren gravierend verschlechtert, und der Bergführer mit einer Vorliebe für Gletscher beobachtet ihn schon lange: "Das Eis ist immer dreckiger geworden."

Dabei geht es dem Steingletscher am Sustenpass in der Schweiz noch weniger dreckig als vielen Leidensgenossen im Alpenraum. Über die Weiße Frau, einen Gipfel im Berner Oberland, sagt Feuz beispielsweise: "Sie ist jetzt nicht mehr weiß. Sie trägt Trauer." Gleichzeitig gehen die Schwindsüchtigen im Wortsinne den Bach hinunter. Das mag zuletzt ein wenig in Vergessenheit geraten sein, weil die vor Jahren so viel beachtete Gletscherschmelze heute meist nur noch eine Randnotiz wert ist. Doch haben allein die Schweizer Gletscher zwischen Herbst 2010 und Herbst 2013 drei Kubikkilometer Eis verloren. Das entspricht etwa 2,75 Milliarden Tonnen oder 2 750 000 000 000 Litern Wasser.

Selbst für den nur mittelgroßen und vergleichsweise langsam schwindenden Steingletscher hat Feuz einen derart hohen Massenverlust errechnet, dass für den Abtransport des Schmelzwassers im Sommer alle fünf Minuten ein voll beladener 40-Tonnen-Lkw abfahren müsste. Schon jetzt sorgen sich die Schweizer, dass die Gletscher irgendwann als wichtige Wasserspeicher für die Stromerzeugung wegfallen. Für Klimaforscher sind sie wiederum ein Früherkennungssystem, weil die Eismassen auf das globale Fieber besonders sensibel reagieren. Zugleich wirken Gletscher auf manche Bergflanken wie Stützbalken, weshalb sich für bestimmte Orte durchaus einige Gefahrenszenarien zeichnen lassen.

"Die Ewigkeit schmilzt dahin"

Langfristig geht mit dem Dahinsiechen der Gletscher aber auch eine großartige Touristenattraktion verloren. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies nur eine Fahrstunde weiter in der kleinen Hotelsiedlung Gletsch unterhalb des Furkapasses. Der Ortsname war einmal Programm. Noch vor 150 Jahren reichte der Rhônegletscher bis fast an die Häuser. Goethe schrieb 1779 über den Gletscher: "Es ist der ungeheuerste, den wir so ganz übersehen haben. Er nimmt den Sattel des Berges in großer Breite ein." Heute hat sich das Eis fast 500 Meter über dem Talboden hinter selbigem Sattel verschanzt; von Gletsch aus ist kaum etwas vom angeblich ewigen Eis erkennbar. "Die Ewigkeit schmilzt dahin", sagt Feuz.

Bevor es endgültig so weit ist, sollte man sich deshalb unbedingt einmal die Steigeisen unterschnallen und sich von einem Experten wie Feuz ans Seil nehmen lassen. "Gletscher verändern das Gefühl für Distanz und Zeit", sagt Feuz. Er hat vor mehr als 40 Jahren seine Bergführerprüfung gemacht und unter anderem in der Suchtprävention gearbeitet. Inzwischen hat es der 67-Jährige mehr mit dem Erzählen als dem Bergsteigen, weil sein linkes Bein Probleme bereitet. Aber das macht nichts. Selbst wer nur einen kleinen, dreckigen Abschnitt des mittelgroßen Steingletschers erkundet, bekommt eine Ahnung, auf welch einem fantastischen Gebilde er sich bewegt. Gerade jetzt im Sommer tritt die wahre Natur der Gletscher deutlich zu Tage. Sie sind weit mehr als einfach nur starres Eis; häufig durchläuft das Wasser alle Aggregatzustände.

Der Mikrokosmos Gletscher lebt von einem ständigen Übergang zwischen Dampf, Wasser und Eis, vom ständigen Gefrieren und Schmelzen, Verdunsten und Kondensieren, Sublimieren und Deponieren. Vor allem die Oberfläche gleicht einem Mosaik aus Altschnee und Firn, sprödem und festem Eis, aus Staub, Geröll und Steinen. Dazwischen gähnen immer wieder Brüche und Spalten wie Haifischmäuler. Sogenannte Wassertaschen ziehen sich wie kleine Brunnen ins Eis. Und während die Sonne ihre Arbeit auf der Oberseite verrichtet, wird das Fels-Eis-Wasser-Konglomerat an der Unterseite von Bächen ausgehöhlt. Zum Leben der Gletscher zählt auch, dass sie nicht einfach in ihrem Bett verharren. Feuz nennt die Faustregel: "Ein Gletscher fließt am Tag eine Hand, in der Woche einen Schritt, im Jahr einen Steinwurf weit."

"Von mir aus darf sich die Welt verändern"

Bergsteiger müssen sich auf die Launen der Gletscher einstellen, sei es der Wechsel zwischen Schnee, Firn, Eis und Wasser, die ständige, Spalten erzeugende Bewegung oder der langfristige Substanzverlust. Ob aber die Masse der Touristen den Rückzug wahrnimmt, da hat Feuz so seine Zweifel: "Es ist sicher so, dass ein Tourist, der seit 40 Jahren hierher kommt, das Gefühl hat, dass es weniger schön ist." Weil derart treue Besucher selten geworden sind, glaubt er: "Für uns mag der Gletscher wie eine Art Film sein. Für Touristen ist er eher ein Foto." Feuz empfindet den Gletscherrückgang jedenfalls als Verlust.

Andererseits zieht das große Schmelzen auch neue Möglichkeiten nach sich. Nur wenige Kilometer westlich des Steingletschers hat sich die Zunge des Triftgletschers innerhalb weniger Jahre in eine Art See verwandelt. 2004 wurde über das Wasser die inzwischen erneuerte Triftbrücke gespannt; 100 Meter hoch und 170 Meter lang. Sie wird als eine der "längsten und höchsten Fußgänger-Hängeseilbrücken Europas" beworben und gilt als Touristenmagnet. In Gletsch ist zwar der Rhônegletscher nicht mehr in Sichtweite, dafür gibt es im Blauen Haus, einer Dependance des Hotels Glacier du Rhône, die eindrückliche Ausstellung: "Die Landschaft am Rhônegletscher im Laufe der Jahrhunderte". Die Eisgrotte im Gletscher selbst lockt die Menschen ohnehin in Scharen.

Gletscher lassen sich auf Lehrpfaden oder auf Langlaufloipen erkunden

Auch anderswo sind neue Attraktionen entstanden. Nachdem an der Oberaletschhütte die Gäste wegen des immer schwierigeren Zustiegs über den Gletscher ausblieben, kämpfte der ehemalige Wirt drei Jahre lang für einen sicheren Wanderweg. Heute hat sich der 2005 eröffnete Panoramaweg als Höhepunkt im Wanderwegenetz der Region etabliert. Sehr beliebt ist vielerorts auch das Anlegen eines Gletscherlehrpfades. Im Oberengadin, wo das Eis des Morteratschgletschers einst bis fast an die Bahnlinie reichte, lässt sich ein solcher Lehrpfad im Winter sogar mit Langlaufskiern erkunden. Knapp drei Kilometer sind dabei vom Bahnhof bis zum Gletschertor zurückzulegen, der Moräne entlang.

Viel aussagekräftiger ist das Umfeld der Gletscher allerdings im Sommer. Auch Feuz hat das Eis inzwischen hinter sich gelassen, er humpelt ein bisschen, der Weg zurück zum Auto wird seit Jahren immer länger. Er schaut sich auf einem Geröllfeld um und meint: "Was sehr tröstlich ist: Sobald der Gletscher wegschmilzt, wächst Gras und die Pionierpflanzen kommen. Das ist doch auch ein Wert." Er will den Fluss der Dinge nicht beklagen: "Von mir aus darf sich die Welt verändern."

INFORMATIONEN: Die einfach erreichbaren Gletscher am Susten- und Furkapass lassen sich mit dem Auto in einer Halbtagestour erkunden. Sehenswert ist in Gletsch die Ausstellung über Gletscher (noch bis Ende September, Eintritt frei). Am Hotel Belvédère unweit der Furkapasshöhe lohnt eine Wanderung mit Blick auf den beeindruckenden Rhônegletscher. Fotovergleiche von einst und heute sind zu finden auf www.gletscherarchiv.de

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