Generation Goa in Indien:Nicht so schön wie es scheint

Noch immer suchen Aussteiger in Goa nach Erleuchtung oder fliehen vor ihrem stressigen Beruf - doch in Indiens kleinstem Bundesstaat wartet ganz anderer Stress.

B. Winterfeld

Ein Ring mit Shiva-Auge ist nicht gerade das ideale Accessoire für die nächste Vorstandssitzung, aber er ist ein hübsches Souvenir aus Goa - und ein Fingerzeig, wie das Leben des Mittfünfzigers möglicherweise auch hätte verlaufen können.

Wolfgang, Syndikus eines Pharmakonzerns, kehrt mit verklärtem Blick in sein Luxushotel zurück. An seinem Mittelfinger glänzt der Ring, den er gerade auf dem Hippie-Flohmarkt von Anjuna erstanden hat. "Der schwäbische Alt-Hippie, der ihn mir verkauft hat, dürfte mein Jahrgang gewesen sein. Sonnengegerbte Haut, lange, graumelierte Haare", sinniert der promovierte Jurist, der plötzlich das Gefühl hat, als spiegelten sich die Träume wider, die er damals hatte.

Damals, das war in den experimentierfreudigen sechziger und siebziger Jahren, als Europas Jugend noch an Utopien glaubte und sich keine Gedanken übers Geldverdienen machen musste. Als das Stichwort "global" noch nicht als Bedrohung, sondern als Verheißung über der Zukunft schwebte und man beflügelt von den Beatles, die in Indien ihren Guru gefunden hatten, mit VW-Bus, Gitarre und Gitanes über Istanbul und Kabul nach Asien zuckelte.

Damals wurde Goa zur Endstation Sehnsucht, zur Chiffre für ein zwangfreies, selbstbestimmtes Lotterleben ohne kapitalistische Sachzwänge.

Lange, viel zu lange ist diese Zeit für den im heimischen Hamsterrad gefangenen Juristen her. Doch jetzt schnurrt sie zusammen auf ein paar selige Stunden. Bei einer Nostalgie-Runde Haschisch hat Wolfgang seinem flippigen Alter Ego gestanden, dass er sich am täglich frisch gefegten Strand seines Luxusresorts langweilt und sich lieber eine Auszeit in einer einfachen Bambushütte gönnen würde, um das unbeschwerte Goa-Feeling von damals neu zu beleben.

Seine Frau Marianne hat bestätigend gekichert und ihrem Mann liebevoll die Hand gedrückt. Auch der schwäbische Hippie-Händler dürfte sich gut gefühlt haben. Schließlich passiert es nicht oft, dass ein eher recht und schlecht im Provisorium lebender Aussteiger und ein gutsituierter Möchtegern-Hippie übereinstimmend feststellen, dass Goa nicht nur ein real existierender Ort, sondern ein Lebensgefühl ist.

Ein Flair von jugendlicher Freiheit und Alles-ist-möglich liegt über dem tropischen Aussteigerparadies, das selbst etablierte Verantwortungsträger zu subversiven Gedankenspielen verführt. Als vor 40 Jahren die ersten Blumenkinder hüllenlos am Strand herumtollten, ließen die verblüfften Goaner sie staunend gewähren.

Vincent, damals Schuljunge, heute Hotelmanager, kann sich noch gut an seine erste Begegnung mit den exotischen Fremden erinnern: "Ich rannte sofort zum Strand runter, wo erwachsene Menschen nackt durch die Wellen hüpften und sich wie Kinder benahmen. Meine Mutter geht bis heute nur im Sari ins Meer."

Die liberalen Goaner begegneten den Neuankömmlingen mit neugieriger Nachsicht. Nach vier Jahrhunderten portugiesischer Zwangsherrschaft waren sie Schlimmeres als kindliches Verhalten gewöhnt und bereits immun gegenüber westlichen Marotten.

Immerhin hatten sie zuvor schon den Katholizismus in ihren bunten Hindu-Pantheon integriert, und auch das Haschisch-Rauchen waren sie von ihren heiligen Männern gewöhnt. So existieren in Goa seither Rosenkranz und Räucherstäbchen, Madonna und Mala, Hippies und Henna-Händler friedlich nebeneinander.

Kein Wunder, dass viele Blumenkinder so großen Gefallen an ihrem neuen Sandkasten fanden, dass sie sich bis heute darin einbuddeln. So wie jener Kalifornier, den alle nur Eightfinger nennen, weil er durch einen Unfall zwei Finger verlor. Dieses Jahr feierte der lässige Senior-Hippie seinen 80. Geburtstag, und alle kamen nach Anjuna, weil es wieder ein tolles Familienfest gab.

Auch Jungle hat mitgefeiert, der italienische Bildhauer, der vor 40 Jahren als jugendlicher Backpacker mit anarchistischer Grandezza seinen Reisepass im Meer versenkte.

Zwischen Renter-Hippies und Alt-Aussteigern

Der große, programmatische Wurf blieb allerdings nicht ungesühnt, denn als sich Jungle später in eine Russin verliebte, wurde er wieder bürgerlich und musste sich vor der Hochzeit einen neuen Pass organisieren. So viel zu den Utopien von einst.

Den Flower-Power-Kids aus Kalifornien & Co. ist längst die zweite und dritte Generation von Rucksackreisenden, Ravern und Rentnern, von Kurz- und Langzeittravellern, Freaks, Faulenzern, Künstlern, Lebenskünstlern und Sinnsuchern gefolgt. Auf der Suche nach einem sonnigen, preiswerten Platz abseits des Mainstreams erschließen sie feinsandige Strände und aufgeschlossene Einheimische für den Fremdenverkehr und ebnen damit - ebenso ungewollt wie unausweichlich - dem verachteten Massentourismus den Weg.

Heute ist Indiens kleinstes Bundesland ein Biotop für Winterflüchtlinge jeglichen Alters und jeglicher Couleur. Wer dem ursprünglichen Goa-Groove nachspüren und Hippie auf Zeit spielen will, sollte sich im äußersten Norden oder Süden einquartieren.

Auf den digitalen Anschluss zum Alltag muss er dabei selbst in der entlegensten Bucht nicht verzichten. Unter jeder dritten Palme haben die Goaner ein Internetcafé improvisiert, das sich allerdings oft so träge gebärdet wie eine bekiffte Schnecke, weil immer wieder mal die Stromversorgung zusammenbricht.

Minimalistisch reduziert sind auch die Hütten, die man sich hier für ein paar Euro mieten kann: vier zusammengetackerte Bambuswände auf einem mit Bastmatten ausgelegten Sandboden, ein Bett mit Moskitonetz, darüber eine nackte Glühbirne. Draußen eine Gemeinschaftstoilette, für die sich jeder selbst das Toilettenpapier kauft, und eine Hängematte. Mehr gibt es nicht - und mehr braucht man nicht, um das Leben wieder unkompliziert zu finden.

Aussteigervisionen keimen da von ganz allein auf und werfen mit jedem Sonnenuntergang eine farbenprächtigere Blüte ab. Und wer in einem solchen Ambiente überhaupt keine Vision hat, war vermutlich nie jung.

Was man von Lars wahrlich nicht behaupten kann. Der Schwede, dessen Wikingermähne von der jahrzehntelangen Tropensonne so ausgebleicht ist, dass sich die grauen Strähnen im Strohblond verlieren, lebt seit den siebziger Jahren in Indien und gehört damit zum Aussteiger-Altinventar. Von den spätberufenen Rentner-Hippies aus England, die in Goa überwintern und ihre in klammen Büros erarbeiteten Altersansprüche mit Bier und Chips anreichern, unterscheidet sich der hagere Hüne schon allein durch die völlige Absenz eines Bierbauches.

Hardcore-Hippies der ersten Stunde sind sehnig und ausgemergelt und bleiben so dank auszehrender Drogen, Müsli und Mangolassi. Sie treten im Asketenlook auf, die tiefgebräunte Brust so ledern wie die Latschen unter dem geknoteten Hüfttuch. Ihr Arbeitsengagement beruht auf dem Studium der Weltkarte und klug kalkulierter Saisonarbeit.

Im Sommer, wenn der Monsun gegen die Küste anstürmt, ziehen sie zum Himalaya hoch. Seinen Lebensunterhalt verdient Lars, indem er Nachwuchs-Hippies bei der Suche nach Erleuchtung hilft und ihnen Qi Gong beibringt. Das "Wechselspiel von Yin und Yang" hält auch Lars einigermaßen jung.

Am Strand von Agonda haben ein paar Esoterik-Hippies mit bunten Flaggen ihr Terrain abgesteckt. Jeden Morgen meditieren sie sich ihrem Seelenheil und dem Weltfrieden entgegen. An den Palmen pappen Flyer, die einen lockenköpfigen Guru in einer so verschraubten Yoga-Stellung zeigen, dass dem untrainierten Betrachter schon vom Hingucken ein paar Bandscheiben rausspringen.

An diesem frühen Morgen steht der indische Meister leibhaftig im Sand: einbeinig, das andere Bein angewinkelt, die Hände über dem Kopf aneinandergelegt, die Augen geschlossen.

In den Mienen seiner Anhänger, die sich mit wackeligem Erfolg um Nachahmung bemühen, halten sich Andacht und Anstrengung die Waage. Nachdem sie ihre Glieder sortiert haben, löffeln sie im Yoga-Café nebenan Fruchtsalat. Ab und zu spaziert eine zierliche Kuh vorbei und guckt dabei so seelenvoll, als suche auch sie nach Erleuchtung und nicht nach Abfall.

Für Bernd, den spät berufenen Goa-Gastarbeiter aus Hamburg, sind Indiens Kühe allerdings eher scheinheilig als heilig - und ein Symbol für Land und Leute. "Die Inder sind wie ihre stumpfsinnigen Kühe: Ungerührt trotten sie durch das größte Verkehrschaos und verfolgen stur ihren Kurs. Während alle anderen in den Straßengraben ausweichen, kommen sie so genau dort an, wo sie hinwollen", lästert der agile 59-Jährige.

Seine Worte spiegeln den Frust und die zwiespältige Haltung, die viele Indien-Aussteiger empfinden, wenn die anfängliche Euphorie dem Alltag gewichen ist.

Nicht weniger, nur anderer Stress

Der ehemalige Stylist blieb vor vier Jahren nach einem Burn-out und einer Ayurvedakur in Goa hängen. Er beschloss, aus dem "oberflächlichen, hektischen Modezirkus auszusteigen" und machte am Strand von Agonda ein Restaurant auf. Obwohl das Geschäft gut läuft, hat der bekennende Perfektionist heute nicht weniger, sondern nur anderen Stress.

Neben der "indischen Wurstigkeit", wie er sagt, machen ihm vor allem die Behörden zu schaffen. "Sie drangsalieren dich mit Auflagen, und wenn du kein Bakschisch zahlst, geht gar nichts", stöhnt Bernd, der inzwischen schon wieder mit dem Ausstieg vom Ausstieg liebäugelt.

Mit ähnlichen Problemen kämpft auch die junge spanische Modedesignerin Susanne, die ihre selbstentworfenen Baumwollkleider unter dem Label "Miss Monkey" in Boutiquen in Goa und Ibiza verkauft. Susanne verkörpert einen neuen Typ der Generation Goa, deren Motive denen der Flower-Power-Kinder von damals diametral entgegenstehen.

Die 35-Jährige sucht nicht nach Erleuchtung, Selbstverwirklichung oder der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, sondern nach einer tragfähigen ökonomischen Basis. Und schimpft dabei wie die Kapitalisten, vor denen die Blumenkinder einst flohen, über ihre "schlampigen Näherinnen", die ihre Termine nicht einhielten.

Nun will die Jungunternehmerin sich ein zweites Standbein als Ayurveda-Therapeutin erarbeiten. Und während die jungen und alten Hippies gemütlich in den Sonnenuntergang hineinmeditieren, büffelt Susanne mit ihrem indischen Lehrer Abhyanga-Treatments.

Damit sie sich, falls alle Stricke reißen, in Deutschland eine neue Existenz aufbauen kann.

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