Friedrich Ani:"Natürlich fahren wir ans Meer, Schatz!"

Der Schriftsteller wollte nie in den Urlaub fahren. Dennoch führte ihn nicht nur seine erste Reise an Frankreichs Küste. Schuld sind die Frauen - und er selbst.

Friedrich Ani

Hinterher war ich noch schlauer als vorher. Ich war so schlau, dass Lena, meine Freundin, immer wieder ausrief: "Du bist ja so schlau! Du bist ja so schlau!" Stimmt. Ich war so schlau. Aber sie hatte mir nicht geglaubt, sie nicht und alle meine Freundinnen nicht, mit denen ich später zusammen war, und nicht nur zusammen, sondern im Urlaub.

URLAUB.

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der vor jedem Urlaub alles besser wusste und hinterher erst recht, aber dem nie jemand geglaubt hat, keine Frau, egal, welchen Alters. Dies ist die Geschichte eines Mannes, der im Alter von zwanzig Jahren seine erste eigene, also eltern- und lehrerlose, Reise unternahm und der es bis heute, neunundzwanzig Jahre später, nicht geschafft hat, eigene Reisen zu unterlassen. Er verreist immer noch. Und warum? Wegen der Frau.

Die Frau will verreisen.

Ist das ein Naturgesetz? Oder alterte ich vor mich hin, ohne - bei durchaus mannigfaltigen Versuchen - auf eine Frau zu treffen, die ungefähr einen Monat nach der ersten Begegnung den Satz gesagt hätte: "Schatz, ich liebe dich, verreisen müssen wir deswegen aber nicht, oder?"

Bitte? Ja? Nein, war mir nicht beschieden, solcherlei Zweisamkeit. Stattdessen: "Wo fahren wir eigentlich im Sommer hin, Schatz?" - "Äh, Herr Ober, ich hätt' gern noch..." - "Lenk nicht ab, wie wär's, wenn wir ans Meer fahren, in ein kleines Dorf..." Ans Meer. Sie wollen immer ans Meer, ist ja klar. Warum ist das klar?

Nächstes Jahr werde ich fünfzig, und es gibt immer noch zu viele Fragen, auf die ich nicht die geringste Antwort weiß. Die Frau an deiner Seite will ans Meer. "Lena", sagte ich damals - und es ist, als sagte ich es gestern -, "Lena, ich weiß nicht, ob ich im August Zeit hab, ich hab doch diesen Job als Kabelhelfer, ich muss Geld verdienen und außerdem, weißt du, im Englischen Garten oder an der Isar können wir doch auch..." Am vierten August saß ich in einem Zug nach Paris.

Nachts. Ich saß nachts in einem Zug nach Paris. Ich lag nicht, ich saß.

Ist billiger. Schließlich mussten wir sparen. Deswegen hatte Lena auch vorgeschlagen, wir sollten zelten.

ZELTEN.

Vielleicht bin ich deswegen noch immer nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten: Weil ich eines Tages vor meinen Schöpfer treten und ihn fragen möchte, welche Schuld ich auf mich geladen hatte, dass er mich zwang, irgendwo an der atlantischen Küste, an einem blühenden Augusttag, bei meiner ersten erwachsenenlosen Reise, zu Beginn der großen Freiheit meines selbstbestimmten Lebens, Heringe aus Metall ins Erdreich zu hämmern und gelbes Plastik auf Stangen zu spannen.

Irgendwo an der atlantischen Küste? Quiberon hieß der Ort. Hieß er nicht. Den richtigen Namen habe ich vergessen, verdrängt, abgeschüttelt wie den Regen und die Tränen ... Dazu gleich.

"Natürlich fahren wir ans Meer, Schatz!"

Zuerst stiegen wir kurz vor Mitternacht am Münchner Hauptbahnhof in den Zug. Ziel: Bretagne. Warum dorthin? Man ist Ursache allen Übels selbst, sagte Thomas Bernhard. Lena gegenüber hatte ich erwähnt - bei einem gemütlichen Beisammensein, das sich später als strategisches Vorgespräch herausstellte -, wie ich mit der Schulklasse zweimal nach Frankreich gefahren war, einmal nach Vichy und einmal in die Normandie.

Friedrich Ani

Friedrich Ani zu Zeiten seiner ersten Reisen

(Foto: Foto: privat)

Und, das betone ich ausdrücklich, ich hatte nicht versäumt hinzuzufügen, dass uns die Franzosen in Vichy sehr merkwürdige Fragen über Politik gestellt hatten, und ich beinahe verhungert wäre, weil ich bei meiner Gastfamilie außer oui und non keinen Ton herausbrachte, und mir das Essen extrem übersichtlich vorkam, und mein Magen sehr laut knurrte, in dem superkarg eingerichteten Haus gab es fast ein Echo.

In der Normandie, auch das verschwieg ich Lena nicht, übernachteten wir im Freien, das fanden alle total abenteuermäßig. Ich nicht. Ich schlafe nicht gern auf feuchtem Gras in einer mir völlig unbekannten Dunkelheit, bewanzt von Jungs, die ich zwar kannte, deren Nähe ich aber in diesem fremden Land, in dieser echt total abenteuermäßigen Situation, eher als aufdringlich und beengend empfand.

Vielleicht hätte ich Lena rechtzeitig sagen sollen, dass bei mir der bloße Anblick eines Schlafsacks Beklemmungen auslöst, die bis in meine Träume andauern. Allein in einen Schlafsack zu kriechen, gleicht dem Betreten einer klaustrophobischen Vorhölle. Zu zweit in einem Schlafsack zu nächtigen, verleiht dem schönen englischen Begriff "panic room" eine völlig neue Bedeutung. So bin ich halt.

"Nein, so bist du nicht", sagte Lena. Diesen Satz hörte ich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten noch oft. Ich sei gar nicht so. "Nein, das ist doch toll, unter freiem Himmel in einem Zelt eng aneinandergeschmiegt, am besten in einem Schlafsack, das ist so romantisch." Ja, romantisch muss es sein.

Ich sagte: "Ich bin nicht so romantisch." - "Stimmt ja gar nicht, du bist total romantisch." - "Nein, bin ich nicht." - "Doch, doch."

Verreisen bringt so viel Wahrheit ans Licht.

Leider nützt die Wahrheit nichts. Ich kann kein Zelt aufbauen. "Klar kannst du das, siehst du, es klappt doch!" Mein Französisch ist sehr schlecht, außerdem mag ich keinen Milchkaffee und diese Hörnchen auch nicht, die einem unter den Fingern zerbröseln. "Du bist so nett, wenn du vor dich hingrummelst, bitte bestell mir noch einen Café au lait und ein croissant." - "Äh, madame, excuse..." - "Du musst mademoiselle sagen, sonst ist sie beleidigt."

Plötzlich, eines Morgens, saß ich in einem Pariser Café, zu meinen Füßen zwei Rucksäcke.

ZWEI RUCKSÄCKE.

Hiermit verneige ich mich vor allen Rucksacktouristen dieser Erde, beglückwünsche sie zu ihrem Tun und widme ihnen mein Staunen über ihre Art der Fortbewegung, sie ist archaisch, zeugt von Unerschrockenheit und Ungebundenheit und Heldenhaftigkeit. So ungefähr.

ICH HASSE RUCKSÄCKE.

"Ach was, Schatz, das redest du dir nur ein ..."

In Paris wechselten wir den Bahnhof und fuhren in einem fast leeren Zug in Richtung Westen. Überall Natur, oder, mit Herbert Achternbusch gesprochen: "Vui Gegend".

Die einzelnen Baumarten kann ich heute nicht mehr aufzählen, die Blumen blühten prachtvoll, das weiß ich noch. Den Weg vom Bahnhof zum Campingplatz fanden wir problemlos. Abgesehen davon, dass mir die Nervenstränge beidseitig aus dem Körper hingen, und mein Selbsthass biblische Ausmaße annahm.

War ja logisch, dass der Campingplatzwärter (oder wie diese Leute heißen) nur lupenreines Französisch sprach. Ich bezahlte eine Gebühr, dann durften wir uns einen Platz aussuchen. Lena fand ihn, und ich begann, das Zelt aufzubauen.

Nie zuvor hatte ich ein Zelt aufgebaut, ich hätte auch nie gedacht, es jemals zu tun. Es war die Liebe. Es war die Feigheit. Es war eine Mischung aus Liebe, Feigheit, Ratlosigkeit, oktroyierter Romantik, aufgeplusterter Willenskraft, brutalstmöglichem Selbstbetrug. Es war, was es war: Ich.

Ich stellte dieses gelbe Zelt da hin, Lena öffnete eine Dose, wir erhitzten das Blech auf einem Gaskocher und löffelten unter Sternen das Glück in uns hinein. Genau so. Dann kam die Nacht, und es regnete. Falsch: Es schüttete. Warum auch nicht? Meine Nervenstränge wurden nass, ich drehte durch.

Ich stand neben einem zusammengeklappten, lächerlichen Zelt auf einem matschigen Campingplatz an der bretonischen Atlantikküste, umzingelt von total unbeeindruckten RUCKSACKTOURISTEN und einer in ihrem nassen Sommerkleid unfassbar sexy aussehenden, herumhüpfenden Lena und alterte innerhalb von zwei Minuten um vierzig Jahre. Am Ende des Regens war ich ein alter Sack.

"Natürlich fahren wir ans Meer, Schatz!"

"Du bist sowas von unromantisch", sagte Lena weinend, als wir uns in Quiberon in ein seriöses Hotel hineinbettelten (in welcher Sprache eigentlich?). "Mit dir macht das Verreisen überhaupt keinen Spaß. Wenn ich das vorher gewusst hätte!"

Hat sie ja. Oder? Nein, hat sie nicht. Ich hatte mich nicht eindeutig genug ausgedrückt, das ist fatal, wenn man gemeinsam verreisen muss, äh, will. Später schlenderten wir am Hafen entlang. Die Fahnen klirrten im Wind. Die Sonne schien. Urlaub. Am Ende des Hafens stand ein verwildertes Haus, junge Reisende aus Deutschland hatten es uns als preiswerte Unterkunft empfohlen. Ein Mann, der aussah wie ein französischer Künstler, öffnete uns die Tür, legte sein halb gegessenes Butterbrot auf die Treppe und zeigte uns ein Zimmer im ersten Stock. Vor dem Fenster lag das blaue Meer.

Wir holten unsere RUCKSÄCKE aus dem Hotel und verbrachten die kommenden Tage in diesem modrig riechenden, romantischen Haus, dessen Besitzer mit wirrem Haar, aus der weißen Hose hängendem blauen Hemd barfuß durch die Räume schlich und kein Wort sprach. Lena und ich redeten auch nicht viel. Abends las ich ihr manchmal Gedichte von Hölderlin vor, das funktioniert fast immer, und so brachten wir diesen Urlaub relativ entspannt zu Ende. Und ebenso unsere Beziehung.

Seltsamerweise fuhr ich ein paar Jahre später wieder nach Quiberon.

"Du, Schatz, hast du dir schon mal überlegt, wo wir im Sommer hinfahren könnten?" Sie hieß Lisa, wir arbeiteten und wohnten zusammen, und meine Klaustrophobie hielt sich in Grenzen. Trotzdem hätte ich Folgendes nicht sagen dürfen: "Ich war mal in Quiberon an der bretonischen Atlantikküste, das ist recht schön da." Warum sagt ein Mann, der schon einschneidende Erfahrungen mit weit heraushängenden Nervensträngen hinter sich hat, so etwas zu einer Frau, deren Nähe er durchaus freiwillig täglich teilt? Was will er sich damit sagen?

"Da liegt eine Insel vor Quiberon", sagte Lisa. "Belle-Île, da fahren wir hin." So war das. So ist das. Da fahren wir hin, lautet die Devise, und dann fahren wir da hin. Nach vier Tagen auf Belle-Île hatte ich eine Eiweißvergiftung. Oder sowas Ähnliches.

Jeden Tag Fisch zum Essen, das schlaucht. Hinzu kam, dass Lisa wahnsinnig gern radelte. Auf der Insel bot sich das an, weil sie flach ist, und man mit dem Fahrrad viel herumkommt und viel sieht: Wiesen, bunte Häuser, Rhododendron, Eidechsen. Belle-Île, ehrlich, ist eine wunderschöne Insel.

Würde ich gern Urlaub machen, würde ich jedes Jahr hinfahren.

Überhaupt: Verreisen, vor allem ans Meer, wer sagt da nein?

Nein, ich nicht.

Ich sag nicht nein zum Verreisen ans Meer, das täuscht. Ich bin gern am Meer. Für jemanden, der in einem katholischen Dorf in den Bergen aufgewachsen ist, bedeutet das Erwachen am Meer eine tägliche Auferstehung von den Toten. Aber muss ich deswegen jedes Jahr am Meer Urlaub machen?

Urlaub?

Jedes Jahr?

Am Meer?

Na ja. Gibt es in Frankreich eigentlich noch diese unmöglichen Toiletten?

Von Friedrich Ani erschien zuletzt im Hanser Verlag das Kinderbuch "Meine total wahren und überhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb"

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