Freeriden in den Dolomiten:Im Rausch der Rinne

Hangneigung bis zu 40 Grad, zu beiden Seiten Felsen - die sagenhafte Abfahrt durchs Mittagstal am Sella-Massiv in Südtirol.

Titus Arnu

Der Start in das Mittagstal ist ein bisschen wie der Start in einer Achterbahn. Ganz oben, an der Einfahrt in die Rinne, sieht man plötzlich einen Abgrund vor sich, ein weißes Loch, umrahmt von braunroten, turmhohen Felswänden. Von hinten pfeift einem der Wind in den Rücken, die Sonne leuchtet die gewaltige Schlucht bis in den letzten Winkel aus.

Beim Blick in die bis zu 40 Grad steile, mit viel Schnee gefüllte Rinne spürt man unweigerlich dieses Kribbeln im Bauch, das man vom Beginn einer Achterbahnfahrt kennt. Nur hat die Abfahrt durch das Mittagstal in Südtirol 1200 Meter Höhenunterschied, es gibt keine gepolsterten Sitze, keine Sicherheitsgurte und keine Schienen - und die Fahrt dauert im Normalfall deutlich länger als drei, vier Minuten.

Es sei denn, man heißt Lukas oder Armin Senoner. Die beiden Freerider aus dem nahe gelegenen Grödnertal haben die sechs Kilometer lange Strecke vor einem Jahr in 4:27 Minuten beziehungsweise 4:40 Minuten geschafft. Damit belegten sie die ersten zwei Plätze beim "Alta Badia Freeride Race" einem Rennen durch die Scharte auf einer nicht präparierten Piste.

Am Wochenende findet der Wettkampf wieder statt, an den Start gehen 200 unerschrockene Wintersportler, mit Pistenskiern, Telemarkausrüstung oder Snowboards. "Die Senoners könnten in diesem Jahr ihren eigenen Rekord brechen, denn die Strecke ist zur Zeit extrem schnell," sagt der Bergführer David Demetz, der sowohl die Senoners als auch das Mittagstal sehr gut kennt.

Demetz, der aus Wolkenstein am Fuß des Sella-Massivs stammt, hat die Tour schon zig Mal absolviert, aber so gut wie in diesem Winter seien die Bedingungen schon lange nicht mehr gewesen, sagt er. Nicht in jedem Jahr ist die Abfahrt möglich. In manchen Wintern ist die Unterlage zu dünn, dann liegen zu viele Felsen im Weg, oft ist die Schlucht auch wegen Lawinengefahr gesperrt.

Derzeit sind die Bedingungen ideal, noch immer liegt sehr viel Schnee im Mittagstal. Allerdings haben wegen des guten Wetters derart viele Skifahrer die Tour absolviert, dass es sich auf dem komprimierten Schnee fast wie auf einer Piste fährt.

Teil: Der wahre Genuss im Mittagstal

Aber nur fast. Denn es gibt keine Pistenmarkierung in der Schlucht, keine Fangzäune und schon gar keine Schnapsbars mit lauter Musik. Es ist still, nur das Kratzen der eigenen Skier auf den hart gefrorenen Buckeln hallt von den hohen Felswänden wider. Nicht nur Freeride-Experten, auch Normalskifahrer geraten hier leicht in den Rausch der Rinne.

Es ist Mittag, die beste Zeit, um die spektakuläre Abfahrt zu beginnen. Nur wenn die Sonne ganz im Süden steht, fällt Licht durch das Tal bis hinunter auf das Örtchen Kolfuschg - und wenn die Bauern im Sommer die Sonnenstrahlen am Talausgang sehen, wissen sie, dass es 12 Uhr ist. Val Mezdí heißt der gewaltige Canyon deshalb auf Ladinisch.

Das Mittagstal ist nur die einmalige Krönung eines Skitages rund um die spektakulär schöne Sella-Gruppe. Denn neben familientauglichen Genießerpisten des Liftverbunds "Dolomiti Superski", mit 1200 Kilometer Pisten das größte Skigebiet der Welt, sind die vielen steilen Rinnen zwischen den rötlichen Felstürmen der Dolomiten mindestens genauso verlockend.

Gefährliche Verlockung

Eine der bekanntesten, die Langkofelscharte, ist im Winter nur mit Tourenski erreichbar, denn die Seilbahn stellt ihren Betrieb im Winter ein. Zu viele Skifahrer waren in der steilen, engen Scharte verunglückt.

Nur für absolute Könner sind die Fünffingerscharte und die Holzerrinne geeignet, in letzterer muss man sich stellenweise sogar über Felsstufen abseilen. Besser erreichbar und auch mit normalen Pistenskiern und Lawinensicherheitsausrüstung befahrbar sind die Pordoischarte, das Lastiestal und das Mittagstal. Denn als Aufstiegshilfe dient dort die Seilbahn vom Pordoijoch auf 2229 Meter zum Schutzhaus Maria auf 2950 Meter Höhe. Von dort aus fährt man kurz und stellenweise steil zur Pordoischarte ab und überquert den Sellastock zu Fuß. Nach einer guten halben Stunden erreicht man die Boé-Hütte, den Einstieg ins Mittagstal.

Durch selbiges sollte man nicht so sagenhaft schnell fahren, wie Armin und Lukas Senoner das am Wochenende wieder tun werden, sonst lässt sich die schöne Kulisse gar nicht mehr genießen.

Es wundert nicht, dass die Einheimischen das Tal früher als mystischen Ort ansahen und glaubten, dass dort Mondprinzessinnen, Waldgeister, Wilde Mädchen und Zwergenkönige lebten. Mondprinzessinnen und Waldgeister zeigen sich natürlich nicht am helllichten Tag, wilde Mädchen nur vereinzelt, aber mitten im Mittagstal sieht selbst der größte Skifahrer wirklich mickrig aus. Wie ein Zwergenkönig.

Informationen: Eine geführte Tour durch das Mittagstal kostet 85 Euro pro Person. Buchung bei Associazione Guide Alpine Val Gardena, Nivesplatz, 39048 Wolkenstein, Italien, www.guidegardena.com, Tel.: 00 39/04 71/79 30 46.

Das Rennen "Freeride Alta Badia" startet am Samstag, 28. März, um 12 Uhr, www.altabadiafreeride.it

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