Freeriden extrem in Chamonix:Es wird steil

Bei den Gelände-Abfahrten über spaltige Gletscher im französischen Chamonix werden auch harte Jungs kleinlaut.

Thomas Becker

Bloß nicht auf die Piste! Keine Sekunde zu lang fahren auf dem Gebügelten! Stattdessen mit den Skiern lieber sofort rein ins Unverspurte, Butterweiche. Herrlich. Und alles ohne Angst: Der Ortskundige fährt ja vor. Man muss da jetzt rein, hinter ihm her, muss ihm an den Hacken kleben. Sonst kann es gefährlich werden hier oben, 2300 Meter oberhalb von Chamonix, wo einem die dicken Granitklötze ringsum Respekt einflößen. Kaum ein anderer Ort in den Alpen steht so für das Freeriden, also das Fahren abseits der Piste.

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(Foto: Foto: Alexander Rochau)

Allein mit dem Bergführer kommt man in diese Hänge fern des blaurotschwarz geregelten Pistenbetriebs. Nur Lebensmüde fahren hier ohne ortskundigen Führer abseits der Pisten. In unserem Fall heißt er Patrick Jost und kommt gar nicht aus Chamonix, sondern aus Hindelang im Allgäu, ist ein drahtiges, pfiffiges Kerlchen, das kernige Sprüche auf Lager hat und noch mit ein paar anderen, verblüffenden Fähigkeiten ausgestattet ist.

Plan A: Mit der Gondel rauf zur Aiguille de Midi, auf 3842 Meter, mit Skiern auf dem Buckel den berüchtigten Grat entlang zum Einstieg ins Valle Blanche und dann zwanzig Kilometer Abfahrt über das Mer de Glace. Was für ein Erlebnis.

Nur - es wird nichts daraus. Das Wetter passt einfach nicht, und gerade in den Westalpen sollte man bei der Routenwahl nicht das Wetter übergehen.

Also Plan B: Eine Runde zum Warmwerden, wie Patrick sagt, ein paar Kilometer weiter in Argentière. Die Aufwärmtour beginnt am Ende einer sehr langen, sehr vereisten Alu-Treppe unterhalb der Grand-Montets-Gondel auf 3275 Metern, bei Windgeschwindigkeiten, die einem fast die Mütze vom Kopf zerren, bei einer Sicht, die diesen Namen nicht verdient.

Ab und zu geben Nebelfetzen den Blick frei auf den Gegenhang, wo ameisengleich eine Skitourengeher-Karawane auf der Haute Route unterwegs ist. Bergauf, mit Fellen. Dagegen sind wir faule Gondelfahrer.

Die erste Abfahrt führt durch die Combe du Cordier, die Schlucht der Seiler. Es geht runter zum Argentière-Gletscher. "Eine spaltige Angelegenheit", sagt Patrick, "ihr müsst kurz warten." Mit seinem Bergführerkollegen seilt er sich an und sondiert den Hang.

Teil 2: Bloß nicht reinschauen!

Eben haben die beiden noch ihre grausigen Geschichten von verunglückten Kollegen ausgetauscht, die es auf diese oder jene tragische Art erwischt hat. Nun tasten sie sich im Nebel den spaltendurchzogenen Hang hinab und geben schließlich Zeichen: "Einzeln fahren!"

Höchste Alarmstufe, gleich zum Warmwerden. Den Sitzgurt haben wir schon morgens angezogen. In Hüfthöhe klappern die Karabiner gegeneinander. Möglich, dass wir seitdem ein bisschen breitbeiniger, einen Tick cooler gehen. Der Lawinenpiepser wird bei jedem kontrolliert, alle haben Schaufel plus Sonde im Rucksack.

Patrick ruft hinauf: "Fahrt genau in meiner Spur, verstanden?" Wir verstehen. Brav wie die Chorknaben folgen wir seiner Spur, vorbei an so mancher Querspalte. Bloß nicht reinschauen!

Tausend Höhenmeter tiefer sind wir warmgefahren. Patrick hat sich ein Bild vom Können der Begleiter gemacht - und schon die nächste Tour im Kopf. Er will über den Pas de Chèvre, den "Ziegentritt", runter ins Mer de Glace.

Von der Mittelstation Lognan geht es mit der Gondel Bochard auf knapp 2800 Meter, fast eineinhalb Kilometer unterhalb des mächtigen Blocks der Aiguille Verte. In Abfahrtsrichtung taucht die felsige Nadelspitzen-Gipfelstation der Aiguille de Midi auf, dahinter der Mont Blanc mit seinem gleichmäßigen, sanften Rücken.

Leicht, fluffig und spaltenfrei geht es die ersten paar hundert Höhenmeter hinunter. Dann kommt der Nebel. Schlagartig. So dicht, dass wir stehen bleiben müssen, um uns nicht zu verlieren. Was tun, Chef? "Nichts", sagt Patrick, "warten."

Es vergeht eine sehr lange halbe Stunde, ohne dass sich etwas tut. Kollektives Gestarre ins nebulöse Nichts. Die Blicke auf die Uhr werden besorgter. Es ist schon nach Mittag. Endlich sagt Patrick wieder was. "Da. Bis zur Kuppe da vorn können wir erst mal fahren." Die Kuppe. Keiner von uns sieht eine Kuppe. Wir sehen nur: nichts.

Auch viele Pulverschwünge weiter unten beweist der Allgäuer eine beeindruckende Ortskenntnis. Erst später, von der gegenüberliegenden Station der Montenvers-Zahnradbahn aus, werden wir seine Leistung zu würdigen wissen: Vom Pas de Chèvre hinab auf die Gletscherzunge des Mer de Glace gibt es auf einem etwa zwei Kilometer langen Felsabbruch genau eine Stelle, wo ein Abstieg möglich ist, wenn auch nur am Seil, mit den Skiern in der Hand. Patrick Jost findet die Stelle, wie die Nadel im Heuhaufen.

Patrick fährt vor, wir folgen, er wartet - an einer Kuppe. Erst allmählich lichtet sich der Nebel, der Blick aufs Gelände wird wieder frei. Allgemeines Staunen.

Teil 3: Skifahren mit Seilsicherung

Nur auf den letzten Metern wird er ein wenig unruhig: "Beeilt euch! Wir müssen hier weg." Es ist warm geworden, feuchter, schwerer Schnee rutscht nach, ein paar Felsbrocken purzeln mit. Höchste Zeit, dass wir endlich unten auf dem Gletscher sind, in Sicherheit. Über eine endlose Steintreppe geht es hinauf zur Zahnradbahn; Turnschuhtouristen kommen uns entgegen. Aber wir kommen uns nach dieser Abenteuertour mindestens wie verwegene Polarforscher vor.

Das erste Bier unten im Restaurant "Les deux Gares" zischt nur so, beim Käsefondue in der Brasserie "L'M" glühen feuerrote Wangen um die Wette. Und Patrick erzählt schon mal von der nächsten Tour: vom ENSA-Couloir, benannt nach der örtlichen Skischule.

Der nächste Morgen. Die Abenteurer sind auf dem Weg zum Brévent, dem Gebiet auf der anderen Seite des Ortes. Die Karabiner klappern, die Wangen glühen immer noch. Steil wird es heute werden, hat Patrick angekündigt, und nach dem Ausstieg aus der Gondel und kurzem Aufstieg an besagtem Couloir wird deutlich, wie recht er mal wieder hatte.

Es ist steil. Verdammt steil sogar. 45 Grad. Und dazu so eng, dass man kaum einen Schwung hinbekommt. Fast senkrecht liegt das Dorf unter uns, 1500 Meter tiefer. "Ich lasse euch am Seil die ersten hundert Meter rein", sagt Patrick, "dann wird es etwas breiter. Wer will zuerst?" Och . . .

Der Schnee im Couloir ist schwer. Es hat bis hinauf geregnet, aus Pulver ist Pampe geworden. Keine leichte Übung, dieses ENSA. Hat man erst mal den Karabiner ausgeklinkt, sind es immer noch 1400 Meter bis ins Tal - und die Hangneigung lässt auch kaum nach. Eine schweißtreibende Angelegenheit. "Da ist aber wenig Sauerstoff im Hang", scherzt einer schnaufend. Weiter unten geht es durch gefrorene Lawinenausläufer, später dann ist es eher Wasserskilauf. Wer jetzt stürzt, fabriziert unweigerlich einen Seemannsköpper.

Irgendwann sind wir an der Schneegrenze angelangt - und der Ort ist noch ganz schön weit weg. Turnschuhe raus, Skistiefel an den Rucksack und losgewandert. "Chamonix ist nichts für Parfumbergsteiger", sagt Patrick und grinst. Den Plan für morgen hat er natürlich auch längst parat: "Da drüben, das Cosmique-Couloir. Da wird's dann richtig steil."

Informationen

Anreise: Mit dem Auto in etwa sieben Stunden von München nach Chamonix.

Bergführer: Freeride-Wochen in Chamonix veranstaltet etwa das Hindelanger Bergführerbüro. Sechs Tage Organisation und Führung samt Leihausrüstung kosten 590 Euro. Tel.: 08324/95 36 50, www.bergschulen.de

Weitere Auskünfte: www.chamonix.com Tel.: 00 33/450/53 00 24

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