Fernreisen mit Diabetes:Alles auf Zucker

Fernreisen mit Diabetes: Bin ich eine Belastung für die Gruppe? Schaffe ich das? Die Tibet-Reise war für Edith Fuchs-Leier eine Herausforderung. Sie hat sie gemeistert.

Bin ich eine Belastung für die Gruppe? Schaffe ich das? Die Tibet-Reise war für Edith Fuchs-Leier eine Herausforderung. Sie hat sie gemeistert.

(Foto: Catherina Hess)

Zwischen unserer Autorin und der Verwirklichung ihrer Traumreisen stand Diabetes. Sie fuhr trotzdem nach Tibet und Marokko. Ein Erfahrungsbericht.

Von Edith Fuchs-Leier

Als ich erwache, bin ich unruhig. Ich kenne das Gefühl. Es ist ein Pochen im ganzen Körper, das mir anzeigt, dass mein Zuckerwert zu niedrig ist. In der Dunkelheit taste ich herum. Fremdes Hotelzimmer. Kathmandu. Erste Nacht. Ich finde die Lampe und mein Messgerät. Der Wert liegt bei 29, er dürfte nicht unter 80 liegen. Ab wann fällt man ins Koma? Gute Frage - aber jetzt nicht meine Frage. Denn: Ich bin wach, ich bin auf meiner Traumreise und ich werde jetzt nicht den Löffel abgeben. Das Gute an dieser Nacht ist: Ich weißt jetzt, dass auf meinen Körper Verlass ist. Ich wurde wach. Bin nicht still für immer eingeschlafen. Klar ist jetzt aber auch: Ich werde es nicht mehr so weit kommen lassen. Der Diabetes hat mir schon mal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt werde ich ihm helfen, dass er mich gut begleitet.

Funktioniert das Messgerät auf dieser Höhe? Und wie sage ich's dem Reiseunternehmen?

Seit ich zwölf Jahre alt bin, will ich nach Tibet. Dann wurde ich 50. Ein guter Zeitpunkt für eine Traumreise. Mit drei Reisebegleitern sollte es nach Lhasa gehen und zum Kailash, dem heiligen Berg. Dann kam der Diabetes eins. Ich musste sofort spritzen. Mein Arzt riet mir von der Reise ab. Zehn Jahre später, 2014 - mit 60 -, nun also der zweite Anlauf. Am späten Nachmittag sind wir auf dem Flughafen in Kathmandu gelandet. Die kleine deutsche Reisegruppe sitzt am Tisch im Hotel. Der Geschäftsführer des Reiseunternehmens setzt sich zu mir. "Wir würden Sie gerne nach dem Essen sprechen. Ist das okay?" Die sechs anderen Mitglieder der Reisegruppe schauen mich fragend an.

Ich hatte vorher lange überlegt. Soll ich, muss ich dem Reiseunternehmen sagen, dass ich Diabetikerin bin, und wenn ja, wann sage ich es wem? Ich rief zunächst bei dem Reiseunternehmen als Else Müller an und fragte, ob Diabetes für Reisen in den Himalaja ein Problem sei. "Kein Problem", sagte die Dame am Telefon. Also buchte ich, unter meinem echten Namen, und informierte meine Kontaktperson beim Reiseunternehmen eine Woche vor Beginn der Reise. "Gut, dass Sie das jetzt rechtzeitig sagen", bekam ich zur Antwort. "Wir informieren die Reiseleitung vor Ort, damit Sie sich mit denen besprechen können." Ich war erleichtert.

Snow mountain Tibet

Tibet - Traum und Herausforderung.

(Foto: E+/Getty Images)

Das war nur einer der Punkte, die ich vorab klären musste. Wie viele Teststreifen nimmt man mit, wie viel Insulin? Wohin mit dem Insulin in der Hitze und Kälte? Brauche ich eine Ersatzpumpe - und wo bekomme ich die her? Was bedeutet die Zeitumstellung für meine Pumpe? Misst mein Messgerät in einer Höhe über 5000 Metern? Ich rief bei der Herstellerfirma an und hatte Glück: Die freundliche Dame am Telefon fand heraus, dass es ein neues Gerät gibt, dass bis 6300 Meter funktioniert. Beim Thema Krankenversicherung lohnte es sich ebenfalls zu recherchieren. Ich schloss eine etwas teurere ab, bei der auch der Rücktransport übernommen wird, wenn er medizinisch sinnvoll ist. Eine Ersatzpumpe erhielt ich über den Vertreter des Herstellers, obwohl ich erst zehn Tage zuvor darum gebeten hatte. Vier Wochen vor Reisebeginn wäre besser gewesen.

Von meinem Arzt bekam ich genügend Insulin und Messstäbchen verschrieben - und erhielt die internationale Bestätigung für meine Geräte, die man für die Flüge benötigt. Adressen und Telefonnummern von Botschaften, Krankenhäusern und Ärzten hatte ich aus Reiseführern, Informationsbroschüren und dem Internet und meine Basalrate aus meinen Unterlagen. Alles in meinem kleinen roten Tagebuch notiert. Und trotzdem hätte meine übliche Pi-mal-Daumen-Mentalität hier ins Auge gehen können.

Ich hatte nicht genau berechnet, wie viele Messstäbchen ich pro Tag brauche. Auf einer Reise herrschen andere Umstände, da muss ich häufiger messen als daheim. Deshalb habe ich während der gesamten Reise Angst, dass mein Vorrat nicht reicht. Tut er dann natürlich doch. Diese Unruhe hätte ich mir sparen können.

Jetzt sitze ich also in Kathmandu, und sechs Augenpaare sehen mich fragend an. Nach dem Essen bittet mich der Chef in einen kleinen Raum. Er und Deepak, unser Reiseführer, fragen sehr freundlich, wie sie mich unterstützen können und welche Dinge sie bei meiner Krankheit beachten müssen. Beide kennen keine Diabetiker. Ich erkläre und beschreibe. Sie stellen Fragen. Deepak versteht, dass ich in ein diabetisches Koma fallen könnte (was mir bisher noch nie passiert ist) und fragt, was er dann tun muss. Als ich davon spreche, dass ich Orangensaft gegen den Unterzucker dabei habe, sagt er, dass man nach Tibet keine Flüssigkeit einführen darf. Er bietet an, Mangopulver zu besorgen.

Nicht krank und schwach, sondern beschützt und aufgehoben

Wir gehen zu den anderen zurück und ich sage ihnen, dass ich Diabetikerin bin. Ich spüre Verunsicherung. Vermutlich denken sich meine Mitreisenden: Ist ja nicht schön für sie, aber wird sie unsere Gruppe belasten? Werden wir permanent Rücksicht nehmen müssen? Ich verstehe das. Diese Reise ist nicht billig. Nicht nur ich habe einen Traum. Ich spüre aber auch: Ich kann sie jetzt nicht beruhigen. Es wird sich zeigen, ob ich als Diabetikerin eine Last bin oder nicht. Darüber hatte ich mir vor der Reise nie Gedanken gemacht.

Drei Tage sind vergangen, wir laden unser Gepäck in riesige Säcke. Aufgrund eines Erdbebens können wir nicht die gesamte Strecke im Kleinbus nach Tibet fahren, sondern müssen zu Fuß zwei Stunden über Geröllhalden klettern. Träger schultern unser Gepäck. Als ich bei der Überquerung eines Baches auf den Steinen strauchle, nimmt Deepak meinen schweren Rucksack - und mich bei der Hand. Ich fühle mich dabei nicht krank und schwach, sondern beschützt und aufgehoben. Ein Gefühl, das während der gesamten Reisezeit bleibt.

Dass die Grenzüberquerung zu Tibet keine lustige Angelegenheit sein würde, hatte man uns zuvor schon gesagt. Jetzt stehen wir an der Grenze und unser ansonsten fröhlicher Reiseführer Deepak ist nervös. Er macht ungewohnt ernste Ansagen: nicht sprechen, nicht lachen, auf keinen Fall fotografieren, in der Reihenfolge bleiben, in der die Pässe geordnet sind. Bei der Leibesvisitation ertastet die ernste Frau in Uniform meine Pumpe. Als ich "Insulin" und "Diabetes" sage, huscht ein scheues, entschuldigendes Lächeln über ihr Gesicht. Sie lässt mich passieren.

Wir erreichen Lhasa, eine Stadt mit unglaublich viel Verkehr, riesigen Reklameschildern, großen Shopping-Straßen und jeder Menge Chinesen. Nach kurzer Rast gehen wir zum Potala. Mein Traum zerplatzt. Es tut mir weh, die bunten und kitschigen Lichtinstallationen vor dem Palast zu sehen und später die angeblichen Mönche im einstigen Sitz des Dalai Lama. In einer Touristenmasse werden wir durch die wundervollen Gebäude und Räume geschleust, von denen ich mein Leben lang geträumt habe. Mir ist klar: Ich bin 40 Jahre zu spät. Das ist Disney-Tibet-Land. Die Chinesen haben ganze Arbeit geleistet. Günter Grass sagt in einem Gedicht: Es gibt Dinge, die lassen sich nicht nachholen.

In der großen Höhe - wir überqueren Pässe auf 5840 Metern - haben fast alle in unserer Gruppe Probleme: starke Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Schlafstörungen. Ich aber fühle mich wie ein Fisch im Wasser und bin kaum zu bremsen. Ich freue mich darüber und bin stolz. Das ist natürlich völlig unsinnig und auch nicht mein Verdienst. Trotzdem ist es gut für mich und für die Gruppe. Der Tibet-Traum bleibt zwar unerfüllt. Aber das gute Gefühl, im Reisen Fremdes und mich selbst zu erleben, ist wieder da. Wie damals, als ich während des Studiums Israel, Nepal, Indien und Kamerun bereiste. Pater Lossem von der französischen Missionsstation an der Grenze zu Tschad fällt mir wieder ein. "Edith Fuchs hat mehr Glück als Verstand", sagte er. Schön, dass das so geblieben ist, auch mit dem Diabetes.

Die Zeit vergeht, die Rente kommt. Mit einem alten Wohnmobil wollen wir - mein Mann, ebenfalls Diabetiker eins, unser Hund Paula und ich - nach Marokko. Einiges ist jetzt anders. Ich habe einen Sensor, muss also nicht immer mein Blut umständlich messen, sondern kann meine Werte problemlos jederzeit scannen. Allerdings wird es schon in Spanien unangenehm heiß. In Tarifa, an der andalusischen Küste, sagt mein Mann morgens beim Frühstück: "Ich denke, Marokko ist zu heiß für mich." Für mich ist Hitze kein Problem. Wir beschließen, dass ich alleine übersetze. Ich nehme nur einen Rucksack mit und plane für drei Tage. In meinem Rucksack verstaut sind jede Menge Pumpen-Utensilien, ein Insulin-Pen, zur Sicherheit, ein Ersatz-Messgerät mit Teststreifen. Für das Insulin, dass ich ja längere Zeit in der Hitze mit mir herumtragen werde, habe ich eine für mich neue Lösung: eine kleine Tasche mit Kühlelementen, die 24 Stunden durchhalten sollen.

Anders als in Tibet bin ich hier ganz allein. Ohne Gruppe, ohne Reiseleitung, ohne meinen Mann. Ohne Sicherheit? Nein, denn schnell fühle ich mich in der ruhigen, angenehmen und entspannten Stimmung von Marrakesch aufgehoben. Ich scanne häufig meine Werte und habe immer meine Leinentasche dabei. Im Supermarkt in Tarifa habe ich kleine süße Teilchen gekauft, später kommt noch Fladenbrot hinzu. In kleinen Stücken helfen auch sie schnell gegen Unterzuckerung. Meine Werte sind angenehm unaufgeregt. Ich werde mutiger, erfülle mir wieder einen Traum. Ich buche drei Tage Wüste auf einem Kamel. Mein Mann versteht: Es wird doch etwas länger dauern.

Diesmal geht es alleine los - in Begleitung eines Berbers und mit zwei Kamelen durch die Wüste

Wie versprochen holt mich der Reiseveranstalter ab, ich übernachte in seinem wunderschönen Riad, bis es am Morgen per Jeep weiter in die Wüste geht. Dort stellt sich mir Brahim vor, in Muskelshirt und Trainingshose. Er sagt, es gehe in drei Stunden los. Um 18 Uhr werden zwei Kamele gesattelt und langsam wird mir klar: Brahim und ich gehen alleine in die Wüste. Mittlerweile ist aus Brahim ein ansehnlicher Berber in Turban und langem Gewand geworden. Ich reite auf dem Kamel. Neben mir das Lastentier und vor mir Brahim, der mein Kamel führt. Wir sprechen wenig, gebrochen Französisch und gehen zurückhaltend vorsichtig miteinander um. Es scheint: Für ihn ist die Situation ebenso merkwürdig wie für mich. Das neugierige Kamel besucht mich in der Mittagshitze, als ich unter dem Wüstenbusch döse. Seine dunklen alten Augen beäugen mich ernst. Ich darf es später füttern und seine warme, weiche Schnauze vorsichtig, respektvoll streicheln. Ich liebe seine dicken Sofakissen-Hufe.

Meine Werte sind stabil. Dank meiner Leinentasche mit dem Messgerät und den süßen Teilchen kann ich jederzeit auch auf dem Kamel scannen und notfalls essen. Der Diabetes spielt keine wesentliche Rolle. Einmal rutscht mir mein Scanner-Gerät vor dem Zelt aus der Pumphose. Ich habe es gleich gemerkt. Das hätte unangenehm werden können. Die Insulin-Kühltasche funktioniert. Sie ist klein, praktisch und leicht zu handhaben.

Ich bin froh, dass ich die Tour gemacht habe. Und: Ich freue mich auf das Gesicht meines Mannes, wenn ich ihm erzähle, dass ich ganz alleine mit einem Berber in der Wüste war.

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