Experten beurteilen Flugsicherheit:"Tickende Zeitbombe" auf Europas Flughäfen

Noch nie gab es so wenige Opfer im weltweiten Luftverkehr wie 2011 - am sichersten dürfen sich Reisende in Europa fühlen. Dennoch warnen die Experten vor der Kollisionsgefahr auf europäischen Großflughäfen.

Fliegen war im vergangenen Jahr so sicher wie noch nie - jedenfalls war die Zahl der Toten nach Flugunfällen weitaus niedriger als in allen Jahren zuvor: In der zivilen Luftfahrt starben 498 Menschen, wie die Sicherheitsbilanz 2011 des deutschen Unfalluntersuchungsbüros JACDEC ergab.

Dies berichtete das Luftfahrt-Magazin Aero International in seiner jüngsten Ausgabe. Im Jahr zuvor waren noch 829 Flugzeuginsassen ums Leben gekommen. "Nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs starben weniger Menschen bei Flugunfällen", betonte das Magazin und sprach vom "besten Jahr für die Flugsicherheit(...), das es bisher gegeben hat".

Erstmals seit 1964 habe es in der kommerziellen Luftfahrt zudem keinen "Großunfall" mit mehr als 100 Toten gegeben, betonten die Experten. Die große Mehrheit der Unfälle ereignete sich mit Flugzeugtypen, die seit Jahren nicht mehr gebaut werden. Einen traurigen Altersrekord habe im August eine Antonow AN-12 in Russland aufgestellt, die bereits 48 Jahre alt gewesen sei.

Die meisten Unglücke mit tödlichem Ausgang ereigneten sich den Zahlen zufolge auf Regionalstrecken von unter 500 Kilometern. "Anders ausgedrückt kamen Passagiere, die 2011 einen Langstreckenflug gebucht hatten, zu 100 Prozent lebend an ihrem Ziel an", analysierte das Magazin. Als Ursache sehen die Autoren neben immer ausgefeilterer Technik vor allem "bessere Flugüberwachungssysteme an Bord der Flugzeuge sowie die Etablierung einer effektiveren Sicherheitskultur in mehr und mehr Ländern dieser Welt".

Als weitere Besonderheit des Vorjahres gilt die gleichmäßige regionale Verteilung der Unfallopfer innerhalb der Luftfahrtregionen. Die Experten bescheinigten der früheren Problemregion Afrika Fortschritte in Sachen Flugsicherheit. Russland dagegen machten sie als neue "Kopfschmerz-Region" aus. Dort starben im vergangenen Jahr bei sechs Abstürzen 112 Menschen: "Eine besorgniserregende Bilanz".

Bei Unfallanalysen in Russland falle immer wieder auf: "Es mangelt nicht an effektiven Sicherheitsvorschriften, es ist deren mangelnde Einhaltung." Vor allem nicht eingehaltene Wartungsintervalle bei den mitunter extrem betagten Flugzeugen kleinerer Fracht- und Regional-Airlines gehörten dazu.

Europa am sichersten, aber dennoch gefährlich

Unklar bleibe, ob die von der Regierung in Moskau eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der Standards im nationalen Luftverkehr zu mehr Sicherheit führen werden. Während China und Indien 2011 mit Skandalen um gefälschte Pilotenlizenzen oder manipulierte Prüfungen für Aufsehen sorgten, erwies sich Europa nach JACDEC-Auswertung trotz mehrerer Zwischenfälle am Boden erneut als sicherste Luftfahrtregion.

Allerdings mahnen die Autoren vor einer "seit Jahrzehnten tickenden Zeitbombe": Beinahe-Kollisionen von Flugzeugen am Boden und in der Luft. Besonders an Flughäfen mit hohem Verkehrsaufkommen und gekreuzten Start- und Landebahnen lauere Gefahr. Die Zahl der Beinahe-Unfälle sei kaum spürbar gesunken.

In der JACDEC-Liste der 60 sichersten Airlines wurde der jahrelange australische Spitzenreiter Qantas erstmals von der japanischen All Nippon Airways (ANA) von der Spitze verdrängt. Als Grund gibt das Büro eine Änderung seines Sicherheitsindexes durch die Aufnahme neuer Kriterien an, aber auch eine Kette schwerer Zwischenfälle bei Qantas.

Für die Erstellung der Liste werden nicht nur sämtliche Flugzeug-Totalverluste erfasst, sondern auch schwere Zwischenfälle in den vergangenen zehn Jahren. Mit Air Berlin (9. Platz) und Lufthansa (12.) liegen zwei deutsche Fluggesellschaften auf den ersten zwölf Plätzen dieser Liste. Das deutsche Luftfahrt-Unfalluntersuchungsbüro JACDEC (Jet Airliner Crash Data Evaluation Center) in Hamburg ist eine weltweit angesehene Institution mit globaler Datenbank. Das Büro arbeitet mit den führenden Luftfahrtbehörden der Welt zusammen.

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