Ende einer Ära:Servus Sylt!

Schauen statt gesehen werden: Deutschlands berühmteste Insel ist startklar für den Massentourismus.

Eva-Elisabeth Fischer

Aha, Sonnenglast. Das Watt schimmert bei Ebbe im Sonnenglast. Sogar in die fromme Sylt-Prosa von Fritz J.Raddatz ist das altmodische Wort eingegangen.

Die über Sylt schreiben, tun das gemeinhin über die Häuser und Parties der Reichen und üben sich als Naturlyriker. Über die Insel kursieren seit 40 Jahren gebetsmühlenartig die ewig gleichen Stereotypen, so dass man glatt vergessen könnte, dass sie auch eine Geschichte hat:

Während der Nazizeit war die Insel geschlossenes Militärgebiet, nach dem Krieg strandeten hier Flüchtlinge vorwiegend aus dem Osten. In den alten Kasernen war die Bundeswehr stationiert.

Diese Realitäten sind heute noch sichtbar und bestimmen die aktuelle Baupolitik. An der Insel frisst nicht nur der Blanke Hans. Es gibt in den Dörfern zum Beispiel immer weniger Grünfläche, weil Grundstücke parzelliert werden oder die kleinen Häuser der Kriegsflüchtlinge aus den 50er Jahren abgerissen und an deren Stelle nun größere oder gleich mehrere gebaut werden. Das ist der Lauf der Zeit und überall so.

Auch wenn Christoph Schmattloch, gebürtiger Rosenheimer und Bürgermeister von Sylt-Ost sagt, dass sich die Gemeinden bemühen, die ursprüngliche Bebauung einzuhalten.

Man ist trotz allem geneigt, romantisch zu glotzen. Das Rantumer Becken im Herbst mit seinen Deichschafen, den algenbehangenen Aal-Reusen und den Schwärmen eifrig pickender Rekgänse, die hier auf dem Flug nach Südfrankreich Station machen, ist, ebenso wie unter zarten Nebelschleiern bei Nieselregen Sehnsuchtsort.

Jedenfalls solange nicht ein hier bislang unbekannter Riesenvogel über den Himmel braust und den verschreckten Radler über den Lenker drückt. Tiefflieger im Naturidyll.

Das ist einer von den Touristenbombern, die seit dem Sommer auf der Insel landen und dort ihre Fracht ausspucken. Drei bis sechs Maschinen von drei verschiedenen Fluglinien sind es an manchen Tagen in der Hochsaison in den Monaten Juli und August. Sie kommen aus Berlin, Zürich, Wien, Düsseldorf und Hamburg. Der letzte geht um halb elf in der Nacht.

Offiziell: Denn manchmal fliegen sie bis um halb eins und dann, wenn gerade die meisten Kurzurlauber ihre Ruhe wollen - freitags und sonntags.

Die Einflugschneise führt übers kleinbürgerliche Wenningstedt an der Strandseite im Westen der Insel und über das gleichermaßen schnuckelige wie geldige Keitum am Watt im Osten derselben. Sie haben Sylt startklar gemacht für den Drei-Tage-Tourismus mit ihrer frischgeteerten passagierflugzeugtauglichen Landebahn auf dem ehemaligen Militärflughafen.

Nicht nur etliche Gastwirte, die Bewohner und Gäste, nein auch die Immobilienmakler sind darüber wenig erbaut.

Deshalb richten sie nun ihre Besichtigungen nach Flugplan.

Peter Douven, Chef des Tourismusbüros in Westerland und der Flughafen GmbH, wolle mit der Luftfahrtbehörde wegen einer zusätzlichen Einflugschneise über Westerland verhandeln, um die Lärmbelästigung zu mindern, sagt Tourismusmarketingfrau Gabriele Weidner.

Außerdem soll Sylt im kommenden Jahr zu den Kernzeiten zwischen acht und 20 Uhr angeflogen werden, spätestens jedoch um 22 Uhr. Schmattloch legt nach: "Die Kaffeflieger vor 20 Jahren sind vieler lauter gewesen. Und außerdem sind die damals kreuz und quer geflogen."

Seit der Zeit wünschte man sich lieber größere Flugzeuge, aber dafür weniger. Denn die Fluganbindung, die wollte man unbedingt aus touristischen Gründen.

Eckehard Volquardsen betreibt mit seiner Frau einen Reitstall in Braderup und ist Mitglied im Wenningstedter Gemeinderat. Er schaut mit bitterer Neugier in die Zukunft: "Ich bin gespannt, was mit dem Areal passiert, auf dem die Nazi-Kasernen stehen." Einen 18-Loch-Golfplatz hat man schon zwischen den Flughafen und Volquardsens Weiden gebaut.

Nun gibt es drei Greens auf der Insel, und es gibt Leute, die wollen allen Ernstes noch einen vierten. Land ist wertvoll auf der nur 99 Quadratkilometer großen Insel.

Da ja eigentlich genereller Baustopp herrscht, weckt jedes freigegebene Fleckchen Begehrlichkeiten. Das Grundstück im Flughafen gehört dem Bund und wird verkauft. In diesem Fall kann Volquardsen ruhig schlafen.

Die Gemeinde Sylt-Ost verhandelt mit der Bundesimmobilienverwertungsgesellschaft, will das Gelände im Frühjahr kaufen und ist einstimmig für die Nulllösung, will heißen: Renaturierung.

Volquardsen hält auf Sylt inzwischen alles für möglich. Doch in einem Punkt wehrt er lachend ab. Der Schleswig-Holsteinische Verkehrsminister Dietrich Austermann hat kürzlich mitgeteilt, dass im kommenden Jahr mit den 100 Millionen Euro teuren Bauarbeiten an der eingleisigen Bahnstrecke Niebüll-Westerland begonnen werden soll.

Nein, nein, das hätten die seit 20 Jahren vor, die Verbindung zwischen dem Festland und der Insel zweigleisig auszubauen. Das ist immer wieder vom Tisch gefegt worden, so Volquardsen.

Und wieder kann Schmattloch differenzieren: Man solle die Strecke - auch dies wegen der besseren Anbindung und um Verspätungen zu vermeiden - zwischen Niebüll und Klanxbüll erweitern, auf der Insel ginge da so nichts.

Warum aber, fragt man sich, sollen die noch so viel Geld in den Schienenverkehr stecken, wenn doch jetzt jeder mit dem Billigflieger "zum Taxipreis", so ein Werbeslogan, anlanden kann und die einfache Fahrt mit dem Autozug mehr als das Doppelte kostet?

Andererseits muss man auch an die Sylter Ureinwohner denken.

Verglichen mit derzeit nahezu 650.000 Touristen im Jahr bilden die 21.000 Sylter eine verschwindend kleine Minderheit.

Zumal da die Insel zumindest darin einen Venedig-ähnlichen Status erreicht hat. Das lokale Leben verödet. Das liegt zum einen an den zahlreichen verwaisten Zweitwohnsitzen wohlhabender Syltgäste aus Hamburg und Düsseldorf.

Und zum anderen daran, dass es sich, wer keinen Grundbesitz, kein Haus hat, kaum leisten kann, auf der Insel zu wohnen, weil die Mietpreise unerschwinglich sind.

In Archsum zum Beispiel gibt es einen kommunalen Bebauungsplan für Wohnungen, in denen vorwiegend junge Leute angesiedelt werden sollen. Auf Erbpacht, um dem Immobilienwucher vorzubeugen. Dennoch kommen viele, die auf der Insel arbeiten, vom Festland. Andere wiederum, die Jungköche und Bedienungen feiner Hotels beispielsweise, leben in Wohngemeinschaften.

"Wenn wir nicht das Haus hätten, das wir zusperren können und das Land drumherum, würde ich auch nicht hierbleiben wollen", sagt Bettina Sönksen-Volquardsen. Es lässt tief blicken, wenn eine so redet, die nur einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt geboren und aufgewachsen ist und sichtlich an ihrer Heimat hängt.

Aber sie sieht gefährdet, weshalb Generationen von Stammgästen ihrer Insel treu blieben - der Naturschönheit wegen.

Nun ist es nichts Neues, dass Schwarzseher den unvermeidlichen Untergang ihrer geliebten Insel prophezeihen. Richtig exklusiv ist Sylt aber schon lang nicht mehr.

Im Frühjahr 1995 warb die Deutsche Bundesbahn mit einem "Schönen Wochenend-Ticket" für 15 Mark. Dies allerdings nur kurz. Denn, wie befürchtet, schwappte es prollige Billigheimer in Rudeln auf die Insel.

Bis heute überwiegen Biederleute, die eher zum Schauen als zum Gesehenwerden auf die Insel kommen. Aber die kommen in Scharen.

Bettina Sönksen-Volquardsen macht darauf aufmerksam, wie viele Fahrradverleihe es inzwischen gibt: "Und die können alle davon leben." Zur Hauptsaison in den Sommermonaten käme es zu regelrechten Staus auf den Dünenwegen; die Stellen, wo man sich ungestört zurückziehen kann, seien gezählt. Sylt erleidet in den Sommermonaten den Verkehrskollaps, so viel ist sicher.

An Watt und Strand, zu Pferde und zu Wasser

Auch in diesem Zusammenhang ist es interessant, das Ergebnis einer Studie des Hotelberaters Treugast zu lesen, wonach es für die Zielgruppe Familien auf Sylt kein nennenswertes Angebot gebe. Nur komisch, wo die dann alle herkommen, die Väter, Mütter und Kinder, die man an Watt und Strand, zu Pferde und zu Wasser und in den Restaurants trifft. Sie wohnen bis dato vorzugsweise nicht im Hotel, sondern bei einem der 6500 privaten Vermieter, denn auf Sylt vermietet so gut wie jeder Ferienwohnungen.

Das wird sich möglicherweise ändern. Das Argument, mit den bald an die 1200 zusätzlichen Hotelbetten würden neue Arbeitsplätze geschaffen, zieht nicht.

Im besten Fall bedeutet das eine Umschichtung, aber keinen Zuwachs. Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Austermann ist bestrebt, den Wettlauf als Touristenziel mit Mecklenburg-Vorpommern zu Gunsten Schleswig-Holsteins zu entscheiden.

Weshalb er den unvermeidlichen Roland Berger um ein Konzept gebeten hat. Austermann gehört zu den Verfechtern grenzenlosen Wachstums, dem offenbar schon die Angstperlen auf die Stirn treten, wenn die Zahlen ein Jahr lang plusminusnull anzeigen.

Die aktuellen Bauvorhaben auf der Insel sind dazu angetan, selbst die Stirnen strahlender Optimisten in Falten zu legen.

Gerhard Pohl, Geschäftsführer der beiden Luxushotels "Fährhaus" in Munkmarsch und "Aarnhoog" in Keitum, zählt auf:

180 zusätzliche Betten im hochpreisigen "Arosa"-Golf- und Wellnesshotel in List, so es denn überhaupt gebaut wird; 90 neue Einheiten, sprich etwa 150 Betten in Hörnum, 200 bis 250 Betten im Hotel der neuen Keitum-Therme, deretwegen man das alte Kurmittelhaus und das Meeresschwimmbecken hat verrotten lassen; 150 Betten im Kurzentrum in Wenningstedt, das derzeit wegen mangelnder Parkplätze allerdings einem Baustopp unterliegt.

Horror-Dorf im Dorf

Hinzu kommt der Horror von allen: Die Tui-Bettenburg in Gestalt eines so genannten Dorfhotels in Rantum, ein "Familienhotel mit Vier-Sterne-Standard" als Dorf im Dorf für etwa 30 Millionen Euro mit 159 Familienzimmern, was 600 Betten entspricht, dessen Gäste wohl schon im kommenden Juni zweimal wöchentlich mit Hapag Lloyd aus Köln und Stuttgart einfliegen werden.

Tui rechnet mit einer jährlichen Bettenausnutzung von siebzig Prozent, verspricht 70 Arbeits- und 20 Ausbildungsplätze.

Dass Pohl sauer ist, weil der Eigentümer des Hotels um den Anbau von gerade mal 19 Zimmern im "Fährhaus" erbittert kämpfen musste, ist klar. Dass es generell den Chefs der wenigen existierenden Luxus-Hotels nicht zupass kommt, wenn hier im Norden und Süden nach den Vorgaben Bergers im Vier- und Fünf-Sterne Bereich aufgerüstet wird, versteht sich von selbst.

Und trotzdem: Profitmaximierung kommt von Masse, nicht Klasse.

Dafür spricht, dass das hochpreisige Riesenhotelkonzept doch nur in Kombination mit den Billigfliegern funktioniert. Sylt hat in den vergangenen Jahren bereits viel von seiner Weltläufigkeit, auch seiner sportlichen Eleganz eingebüßt, die es allen anderen friesischen Inseln und Nordseebädern voraus hatte.

In Rantum jedenfalls kriegt jeder einen dicken Hals, den man auf das Tui-Dorfhotel anspricht. Helge Jansen, der Rantumer Bürgermeister und Amtsvorstand, habe, so sagt man, nach monatelangem Gerangel und endlosen Sitzungen über Nacht überraschend den Vertrag mit dem Reiseveranstalter unterschrieben.

Es ist ganz bestimmt üble Nachrede, wenn erzählt wird, man habe an entscheidender Stelle großzügig dazu beigetragen, ihm den künftigen Ruhestand, möglicherweise auf dem Festland zu vergolden. Es liegt laut Sylter Rundschau allerdings eine Anzeige gegen ihn bei der Kripo in Flensburg wegen Vorteilsnahme im Amt.

Nein, Tui zieht kein Spießer-Manhattan hoch wie in Westerland in den 1970er Jahren. Am Rantumer Becken wächst in der Nachbarschaft ehemaliger Kasernen, die lang schon als Kindererholungsheime genutzt werden, und alter Hangars eine Art Lego-Land mit Pool und Spa und Häuschen so klein und Grünstreifchen so schmal vorn dran, dass einer dem andern jederzeit bequem in den Hals schauen kann.

Von dort werden sie ausströmen, die Massen, in den Sonnenglast im nahe gelegenen Watt und das letzte Fleckchen Einsamkeit besetzen.

Informationen

Anreise: Mit dem Nachtzug der Deutschen Bahn nach Hamburg-Altona, Schlafwagen Deluxe, Spar-Night-Preis, einfache Fahrt, bei Zweierbelegung mit Dusche/WC 89 Euro pro Person

Unterkunft: Fährhaus, Heefwai1, 25980 Sylt-Ost/Munkmarsch, Tel.: 04651/9397-0, Fax: -10, E-Mail: info@faehrhaus-sylt.de, www.faehrhaus-sylt.de

Hotel Aarnhoog, Gaat13, 25980 Sylt-Ost/Keitum, Tel.: 04651/3990, Fax: 39910, E-Mail: info@aarnhoog.de, www.aarnhoog.de, DZ je nach Saison jeweils ab 95Euro

Für Reiter: Feldenkrais und Reiten, Familie Volquardsen, Terpwai 17, 25996Braderup, Tel.: 04651/44369, E-Mail: info@sylt-feldenkrais.de, www.sylt-feldenkrais.de

Weitere Auskünfte: Sylt-Tourismus, www.sylt-tourismus.de

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