Eisbergklettern in Kanada:Russisches Roulette auf dem Meer

"Allen in der Gruppe ist klar, dass das, was wir tun, uns töten kann": Eisberg-Klettern vor der Küste Neufundlands ist eine exklusive Sache - und ein Spiel auf Leben und Tod.

Bernadette Calonego

Tom Priggs Gesicht ist starr vor Besorgnis, als er sich aus dem Motorboot auf die Holzplanken am Ufer hievt. Es scheint, als sei dem Amerikaner erst jetzt richtig aufgegangen, wie gefährlich sein Vorhaben ist. "Russisches Roulette", sagt er und bläst seinen Atem in die kalte Luft, "es ist wirklich russisches Roulette."

Prigg schaut zum Eisberg hinaus, der einige Kilometer vor der Nordspitze Neufundlands im aufgewühlten Wasser schaukelt. Diesen riesigen Eiswürfel im Nordatlantik, der jederzeit ohne Warnsignal kentern und auseinanderbrechen kann, wollen Prigg und eine Gruppe von Extremkletterern aus der US-Stadt Pittsburgh besteigen.

Am Morgen sind sie mit dem kanadischen Fischer Godfrey Parsons aus dem Weiler Hay Cove zum Eisberg hinausgefahren, um die Lage zu prüfen. Es sah nicht gut aus. "Die Wogen sind heftig", sagt Prigg, "und der Eisberg dreht sich wie verrückt." Noch am Abend zuvor hatte der 40-jährige Gehirnforscher beim Krebsessen trocken erklärt: "Allen in der Gruppe ist klar, dass das, was wir tun, uns töten kann." Weniger als 20 Menschen auf der Welt hätten einen Eisberg erklettert, ließ er die Einheimischen wissen: "Im Weltall waren mehr Leute."

Für Bergführer Prigg ist es eine der letzten Möglichkeiten, irgendwo der Erste zu sein. Es gibt schließlich Tausende Menschen, die auf dem Gipfel des Mount Everest standen. Eisberge dagegen sind noch ein exklusiver Bereich für Extrem-Kletterer.

Der Amerikaner Mark Twight gilt als Erster, der Mitte der achtziger Jahre einen Eisberg in der Antarktis erklomm. 20 Jahre lang hat es daraufhin niemand mehr gewagt.

Dann erstieg der Kanadier Will Gadd vor sechs Jahren einen weiteren vor der Küste von Labrador, die man von Hay Cove aus sehen kann. Aber auf das Eis dort draußen hat noch nie jemand einen Fuß gesetzt. Der Berg könnte schon morgen nicht mehr da sein. Und obwohl er mit nur etwa 20 Metern Höhe eher unspektakulär wirkt, ist das Unternehmen derart gefährlich, dass die Abenteurer aus Pittsburgh keine Konkurrenz zu fürchten haben. "Vielleicht sind wir die letzten Eisbergkletterer", sagt Prigg.

Er war bereits im vergangenen Jahr hier und hat ein kleineres Exemplar bestiegen. Anschließend schwor er sich: nie wieder. Viel zu gefährlich. Jetzt ist er erneut im Osten Kanadas, obwohl seine 17-jährige Tochter und die Lebenspartnerin entsetzliche Angst um sein Leben haben.

Ein Seil? Zu gefährlich!

"Nur noch einmal", versichert Prigg allen, die es hören wollen, "diesmal einen größeren, frei schwimmenden Eisberg, weit im Ozean draußen." Aber der Fischer Godfrey Parsons weigert sich vorerst, die Gruppe in seinem kleinen Boot so weit hinauszufahren: Die Strömung sei viel zu stark, die Eisberge seien zu weit weg. Die anderen Fischer halten die Pläne der Amerikaner für verrückt. "Ich habe zu viele Eisberge vor meinen Augen auseinanderbrechen sehen", sagt einer. "Man könnte mir 100.000 Dollar zahlen, und ich würd's nicht tun."

SZ-Grafik

Neufundland liegt im äußersten Osten Kanadas.

(Foto: SZ-Grafik)

An diesem Morgen bläst der Wind aus Nordosten, was die See immer bedrohlich macht. Godfrey Parsons fürchtet, sein Boot könnte am Eisberg zerschellen. Tom Prigg sorgt sich, dass die Kletterer zwischen Eisberg und Boot zerquetscht werden könnten. Mit schweren Verletzungen ist er vertraut. Er untersucht an der Universität Pittsburgh, ob man das Gehirn so stimulieren kann, dass Amputierte etwas in ihren künstlichen Gliedmaßen fühlen.

Nach der Erkundung am Morgen ist Prigg auf den Boden der Realität zurückgekehrt. Er berät sich mit Don Wargowsky, der mit Priggs Team 44 Stunden von Pittsburgh nach Hay Cove durchgefahren ist, um dann im Schuppen eines Fischers ein Lager einzurichten. Auch Wargowsky, ein 27-jähriger Kunstlehrer, ist sichtlich nervös.

Godfrey Parsons verkündet, er werde sich jetzt mal in seinem Haus mit einem Drink stärken, und steigt in seinen Pick-up. Die beiden Amerikaner gehen zum Geräteschuppen, in dem Gummimatten und Schlafsäcke säuberlich gestapelt sind. Ein Holzofen spendet Wärme. Die Gruppe aus drei Frauen und vier Männern sieht sich am Laptop gespannt den Film an, den Wargowsky an diesem Morgen vom Eisberg gedreht hat. Alle sind jünger als Tom Prigg, zwischen 20 und 30 Jahre alt.

Sie wollen noch einen Tag abwarten, als plötzlich Parsons auftaucht und meint: "Heute oder nie mehr, das Wetter wird nur noch schlimmer." Tom zieht seinen Neoprenanzug an, packt die Steigeisen, zwei Pickel, keinen Helm und auch kein Seil. Falls der Eisberg ins Wasser kippt, könnte sich ein angeseilter Bergsteiger nicht befreien.

Sprung ins Eiswasser

Parsons Boot prescht über die Wellen, der Bug schlägt immer wieder hart auf. Der Himmel ist grau. Tom Prigg erwartet keine Probleme mit dem Eis. Im vergangenen Jahr war der von der Sonne beschienene Eisberg weicher als die vereisten Wasserfälle, auf denen er trainiert hat. Pickel lassen sich da mühelos einschlagen.

Der Eisberg nähert sich, sein Gipfel erinnert ans Matterhorn. Priggs Adrenalinspiegel steigt. Sieben Jahre lang hat er sich darauf vorbereitet, hat Führer von Eisbergtouren befragt, den kanadischen Eisdienst konsultiert und Videofilme studiert. Aber was er heute erlebt, hat er nicht erwartet. Das Boot fährt hart an die flachere Seite des Eisbergs. Prigg steigt als Erster aus.

Der Absprung aus dem Boot, in dessen Bug er eine behelfsmäßige Plattform eingelegt hat, ist das Schwierigste. Er schlägt eine Axt in die Flanke des Eisbergs, fünf-, sechsmal. Dann die zweite. Eine böse Überraschung: Das Eis ist hart und brüchig. Dieser Teil der Oberfläche muss lange unter Wasser gelegen haben. Prigg rammt beide Füße ins Eis. Riesige, runde Stücke lösen sich. "Dinner Plating" nennen das die Kletterer. Prigg kämpft sich nur einen kleinen Abhang hoch und steigt dann wieder ab.

Zweimal treffen Eisbrocken den Propeller von Parsons Boot. Der Motor erstirbt, und der Fischer hat Mühe, ihn wieder in Gang zu setzen. Allen ist klar, dass auch Parsons hier sein Leben aufs Spiel setzt.

Das Boot umrundet den Eisberg. Don Wargowsky und Eliot George, ein 28-jähriger Ingenieur, setzen nun zum Sprung aus dem Boot an. Wargowskys Bein wird fast zwischen Boot und Eisberg eingeklemmt. Eliot ergeht es schlimmer: Er kugelt sich beim Absprung eine Schulter aus und muss sie im Boot wieder einrenken. Dann hangeln sich beide zum Gipfel hoch. Schnell steigen sie wieder ab, die Wellen lassen den Eisberg tanzen. Eis fällt krachend ins Wasser.

Tom Prigg verzichtet auf den Gipfelanstieg. Er klettert allerdings noch einmal mit Wargowsky auf die flachere Seite, um dort die Asche eines Freundes zu zerstreuen, der Selbstmord beging. Wargowsky springt von einem kleinen Vorsprung in den eisigen Nordatlantik und lässt sich ins Boot ziehen. Noch so ein Spiel mit dem Tod. Prigg will nun möglichst schnell Distanz zum Eisberg gewinnen. "Genug ist genug, man muss es nicht zum Äußersten treiben", sagt er später, als alle benommen auf der kleinen Werft von Hay Cove stehen.

Aber der Eisberg lockt. Am nächsten Tag möchte Prigg erneut hinausfahren. Er will diesmal den Gipfel bezwingen. Die Sonne scheint, der Wind hat sich deutlich gelegt. Der Eisberg schaukelt heftig auf und ab.

Plötzlich rollt er auf die Seite, taucht und bricht auseinander. Tom Prigg ist beinahe erleichtert, dass er es mit eigenen Augen gesehen hat. "Ich glaube, ich bin fertig mit Eisbergen", sagt er und packt seine Sachen zusammen, "ich mache jetzt etwas anderes."

Informationen

Anreise: Flüge von Deutschland nach Toronto und zurück für ca. 1200 Euro, weiter per Mietwagen. Unterkunft: Viking Village Bed and Breakfast, Box 127, Hay Cove, L'Anse Aux Meadows, Newfoundland, DZ ab 26 Euro pro Person, www.vikingvillage.ca

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