Die Zukunft der Stadt:Im absoluten Themenparkverbot

Freizeit oder Freiheit? Im Mai wird das erste deutsche "Legoland" als urbane Utopie eröffnet.

Gerhard Matzig

(SZ vom 23.4.2002) - Die Erde ist keine Kugel - sie ist eine Scheibe. Eine gigantische, grotesk und plastikhaft sich bis zum Horizont schiebende und weiter noch bis in die Unermesslichkeit des Universums hinein sich ausdehnende Scheibe. Auf der Scheibe aber leben Noppen, worauf sich gelbe, rote, blaue Steine ansiedeln. Und diese Steine haben wieder Noppen, damit da andere Steine mit anderen Noppen für wieder andere Steine draufpassen. Die unendliche Geschichte ist eine Geschichte, deren Vokabular sich den ungeheuren Kombinationsmöglichkeiten dieser vier Buchstaben verdankt: L-E-G-O.

Die Zukunft der Stadt: Die Menschen scheinen in diesen Kathedralen den Glauben zu entdecken: den Glauben daran, dass die Transzendenzerfahrung auch im Hier und Jetzt und Heute zu haben ist.

Die Menschen scheinen in diesen Kathedralen den Glauben zu entdecken: den Glauben daran, dass die Transzendenzerfahrung auch im Hier und Jetzt und Heute zu haben ist.

(Foto: Foto: SZ)

Manhattan war von jeher ein Labor zur Erprobung urbaner und antiurbaner Utopien. Die Artikel unserer Serie untersuchen, ob sich nach dem 11. September neue Formen städtischen Zusammenlebens entwickeln werden - und wie diese aussehen könnten.

Der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland hat einmal gesagt: "Die universale Sprache der Welt - das ist weder Englisch noch Microsoft, sondern Lego." Lego, das ist zwar dänisch und heißt eigentlich "leg godt" (also: spiel gut), aber vielleicht ist damit nicht nur das Versprechen auf ein gutes Spiel gemeint - sondern auch jenes auf ein ernsthaft besseres Universum. Demnach wäre L-E-G-O so etwas wie der universale Gen-Code einer Utopie, die aus dem Kinderzimmer kommt; es wäre eine Art Genesis, die uns von der Neuerfindung des Paradieses für alle erzählt - beziehungsweise für jene Menschen, die etwas zu tun haben mit den 200 Milliarden Plastikklötzchen, die in den letzten 50 Jahren in alle Welt verkauft wurden. Insofern geht es um eine Welt, deren kleinsten gemeinsamen Nenner man sich ebenso wie das größte gemeinsame Vielfache vorstellen muss: nämlich wie ein typisches Lego-Atom.

50 Millionen Möglichkeiten

Wer in der Nacht, mit bloßen Füßen, schon einmal auf diese Demokrit-hafte, sich aus kleinsten Teilen unentwegt vervielfältigende Buntsteinwelt getreten ist, der weiß auch, dass das Paradies hart sein kann. Hart, scharfkantig, lautlos fremd und schreiend bunt - und unbegreiflich ubiquitär. Ganz bestimmt ist es jedoch eine Welt der unbegrenzt vor sich hinmutierenden An-, Um- und Weiterbau-Möglichkeiten - zumindest solange die Evolution nicht ihre Kinder frisst.

Mit sechs Achtknopflegosteinen ergeben sich, heißt es, 102.981.500 Kombinationsmöglichkeiten. Was könnte dann erst aus den 50 Millionen Legosteinen werden, die bis jetzt im ersten deutschen "Legoland" verbaut wurden? Im Grunde ist das gar nicht auszudenken - dafür kann man aber diese 150 Millionen Euro teure Legowelt demnächst ausprobieren. Und zwar in der Nähe von Günzburg, gelegen zwischen Ulm und Augsburg, zwischen Stuttgart und München.

Dort, auf einem Terrain, das die Planer "verkehrsgünstig" nennen (das heißt: 25 Millionen Menschen leben höchstens 300 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt), dort wird am 17. Mai das vierte Legoland der Welt eröffnet: als ein wasch- und kinderfarbechtes Legoschlaraffendeutschland. Und zwar in der ausrufezeichenhaft modulierten Form eines so genannten Themenparks.

Niemand weiß, wieviele Themenparkanlagen die Welt am 17. Mai besitzen wird. Aber es ist zu vermuten, dass es am 18. Mai schon wieder ein paar mehr sein werden. Einig sind sich die Freizeitforscher nur darin, dass es seit Jahren einen gewaltigen Boom auf dem Gebiet der Freizeiteinhegung gibt. Noch nie sind - und zwar überall auf der Welt - dermaßen viele "Themenparks" in so kurzer Zeit gebaut worden. Wir erleben eine Epoche geradezu barocker Stadtgründungen. Man kann dazu auch sagen: Vergnügungsoasen, Freizeitdorados, Lunaparks, Erlebniswelten, Movieworlds, Disneylands, Ferienparadiese, Autostädte, Spaceparks, Indooranlagen, Abenteuerüberdachungen... Es geht um das, was aus dem Paradies der Stunde Null geworden ist: die "Kathedralen des 21. Jahrhunderts" (Horst Opaschowski).

Die Menschen scheinen in diesen Kathedralen den Glauben zu entdecken: den Glauben daran, dass die Transzendenzerfahrung auch im Hier und Jetzt und Heute zu haben ist; den Glauben daran, dass Morus' Utopia, das Land also, "das nirgends ist", doch irgendwo existiert. Und sei es in Günzburg an der A 8. Oder in Kalkar, wo ein Atomkraftwerk zum "Kernwasserwunderland" umgebaut wurde": Der Transformatorraum ist jetzt ein englisches Pub, aus dem Kühlturm wurde eine Kletterwand. Diedrich Diedrichsen hat natürlich Recht: "Wir leben in einer freizeitkulturell fanatisierten Gesellschaft."

Aber Eichendorffs Taugenichts hat ebenso Recht. Ihm war das Leben "wie ein ewiger Sonntag im Gemüte" - und das ist das Mindeste, was man beispielsweise den vom Statistischen Bundesamt errechneten 38 Millionen deutschen Haushalten bieten muss, um ihnen jeweils 4.700 Freizeit-Euro zu entlocken. Für ein ganzes Jahr, das nichts anderes als ein Sonntag sein soll. Zwölf Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts werden in der so genannten Freizeit erwirtschaftet: Die Freiheit ist also ebenso dahin wie die Illusion einer unbestimmten, unbesetzten, ortlosen und deshalb freien Zeit, welche die Gesellschaft zu ihrer Verfügung habe. Oder auch nur zu ihrer Reflexion jenseits des neuen Kathedralenglaubens. Aber dies ist, wie Rousseau weiß, ohnehin ein "widernatürlicher Zustand", einer, der dem "Paradiese fern ist". Wobei sich die Illusion vom fernen Paradies eben schon heute erfüllt: und zwar in der Illumination.

Kein Ort der Welt bleibt vor solcher Erhellung verschont. Nicht Santiago de Chile (wo es das "Fantasilandia" gibt), nicht Brunei ("Jerudong Playgrounds"), nicht Auckland ("Rainbows End") - und auch nicht das israelische Armageddon (heute: Megiddo). Dorthin, wo einst - gemäß dem "Buch der Offenbarung" - die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse ausgetragen werden sollte, wünscht sich die israelische Tourismusbehörde schon seit Jahren einen Themenpark mit Hologrammen, Lasershow und Schauspiel. Die Frage ist dann nur: Wer gewinnt? Das Gute oder das Böse? In jedem Fall wohl jene Freizeit- und Tourismusgesellschaft, welche die "zivilisierteste Form der Kriegsführung", so Dietmar Steiner, erfunden hat: "Identitäten werden vernichtet, indem man sie veranstaltet."

Es liegt also eine schreckliche Ironie darin, dass es gerade Krisenzeiten sein sollen, welche urbane Heilsbotschaften, Paradiesersatzkonstrukte oder neue Idealstadtentwürfe hervorbringen: der Themenpark als Panic Room. Als der Architekt Richard Buckminster Fuller in den sechziger Jahren vorschlug, Manhattan mit einer gigantischen Kuppel zu überwölben, damit man dort vom Wetter und anderen Dingen unbehelligt einkaufen könne, hat er die zu Menschenparks erblühenden Shopping-Malls einfach nur hochgerechnet. Sein Projekt sieht aber auch heute noch so aus, als könnte eine solche Blase über Manhattan Schutz vor dem Wetter bieten. Oder vor der übrigen Welt. Oder vor dem Terror vom 11. September. Doch vermutlich muss die Statik, die einen solchen Gedanken tragen und ertragen kann, noch erfunden werden: Die Aufgabe ist zu groß.

60 Hektar Wahrheit

60 Hektar groß ist das - insofern sehr viel einfacher zu beschützende - Legoland in Günzburg. Manhattan ist weit weg, Armageddon noch weiter. Man kann sich also in vollkommener Ruhe den insgesamt sechs "Parkabschnitten" und darin den 40 "Attraktionen" widmen. Plus Café "Ein Stein". Plus "Dino Grill". Plus "Günz-Burger"-Bude. Plus drei Spielplätze. Plus einige tausend Parkplätze. Wobei die sechs Bühnenbilder "Land der Ritter" oder "Land der Abenteuer" heißen. Oder "Imagination", "Lego-City", "Lego X-Treme" bis hin zum "Miniland". Mit all dem verbindet sich das Übliche: eine Lagune, gefüllt mit 2 Millionen Liter Wasser; dazu eine Ritterburg, 4-D- Kino - und so weiter. Alle Menschen sind klein in ihrer Rolle als Vergnügungskonsumenten - und alle Attraktionen sind "großartig".

Dagegen wird man - endlich legotypisch - im "Miniland" zum Gulliver. Man berührt dort eine Welt, die auf ein Zwanzigstel ihrer Größe geschrumpft ist. Aus Original-Legosteinen wurde beispielsweise das Brandenburger Tor in Berlin nachgebaut (128.000 Steine) oder der Frankfurter Messeturm (925.000 Steine). Charmanterweise ist München mit dem "Flughafen Franz Josef Strauß" präsent: 4.000.000 Steine.

60 Hektar: Das sind, wie es immer so anschaulich heißt, 25 Fußballfelder. Womöglich sind es aber auch 1.000 Kinderzimmer. Und genauso muss man sich Legoland vorstellen: als tausendfaches Kindergeschrei-Martyrium, das einem vorkommt wie ein apokalyptisches Endzeitspiel - auszutragen in einem 25-Fußballfeld-großen Hochsicherheitstrakt. Eintritt: ab 12 Euro. Doch vielleicht ist Legoland, bestehend aus jener, wie es bei Lego heißt, "spezifischen Mischung aus Unterhaltung und pädagogischem Anliegen, Kreativität, Spaß, Spiel und Wissensvermittlung", vielleicht ist dieses kindgerechte Renditeversprechen an der Autobahn dennoch ein vom Himmel geliebtes Kinderglück. Wer weiß. Das Dumme ist nur, dass aus Kindern irgendwann Erwachsene werden - also die Einwohner jener Welt, vor der man sich in den Themenpark retten muss, um zu überleben.

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