"Deutschlandreise" zur Zugspitze:Der Zauberberg

Zugspitze

Das Gipfelkreuz auf der Zugspitze in Grainau: Der Berg, so heißt es, war ein Geschenk.

(Foto: dpa)

Mit dem "Alpinen Gipfelführer" von 1905 geht es auf den Gipfel der Gefühle - die Zugspitze. Mal schauen, ob noch alles beim Alten ist. Ob etwas dran ist an der "fröhlichen Bergfahrt", die der Reiseführer beschreibt.

Von Jan Heidtmann

Der Berg ruft? Es wäre wirklich einmal interessant zu hören, wer sich diesen Unsinn ausgedacht hat. Luis Trenker war das doch, oder? Hier, jetzt und heute jedenfalls ruft nichts. Wenn ein Berg tatsächlich ein Eigenleben führen sollte, dann dies: der Berg stinkt. Nach Kuhmist. Und er ist traurig, der Berg, er heult in spitzen Tropfen, die an ihm herunterfallen. Ein alter, stinkender, trauriger Mann ist dieser Berg.

Am Parkplatz vor der Zugspitze hat ein Trupp Bundeswehrsoldaten neben zwei sehr hellblauen Dixi-Klos ein Frühstückslager aufgeschlagen. Es ist halb sieben an einem Mittwochmorgen im Sommer. Die Soldaten haben beschlossen, Deutschlands höchsten Berg nicht zu besteigen. Sie wollen lieber ein bisschen "herumwandern". Herumwandern. Wenn das Ursula von der Leyen wüsste.

Die Zugspitze, so heißt es, ist ein Geschenk des österreichischen Kaisers Franz-Joseph an die bayerische Prinzessin Sissi. "Damit's auch an richtigen Berg habt." Eigentlich ein hässliches Ding, keine richtige Spitze, anders als an der Alpspitze nebendran. Österreicher, Schweizer und Franzosen lachen sich natürlich kaputt über diesen Hügel am Ende der deutschen Republik. Aber da es für die Deutschen nun mal nichts Höheres gibt, wurde die Zugspitze auch zum höchsten der Gefühle. Ihr Zauberberg. "Als höchster Berg des deutschen Reiches anerkannt ein politischer Berg, die Verkörperung deutscher Kraft und Einigkeit", schreibt ein Beobachter 1921.

Sätze so schwer wie ein Rucksack voller Steine.

Acht bis neun Stunden für den Aufstieg

Von unten betrachtet ist die Zugspitze dann vor allem ein doch sehr hoher Berg. Genaugenommen 2962 Meter. Das Vorhaben ist Folgendes: Mit dem "Alpinen Gipfelführer Zugspitze" von 1905 bis ganz nach oben. Schauen, ob noch alles beim Alten ist; ob etwas dran ist an der "fröhlichen Bergfahrt", die der Reiseführer beschreibt. Oder, ob früher tatsächlich alles besser war.

Acht bis neun Stunden soll der Aufstieg dauern, der Weg führt durch das Höllental, die schwierigste Route. Im Reiseführer heißt es, sie sollte "nur von geübten, schwindelfreien Bergsteigern gewählt werden, und nur in guter Ausrüstung und mit Führer". Wenn Regenjacke, Bergschuhe als "gute Ausrüstung" gilt, ist zumindest ein Kriterium erfüllt. Das mit dem Bergführer verhält sich so: Der mutmaßliche Erstbesteiger, Leutnant Josef Naus, hatte 1820 in seinem Tagebuch notiert: "Dem Führer auf den Zugspitz 2 Gulden 42 Kreutzer". Heutzutage kostet es 360 Euro, sich über das Höllental auf die Zugspitze führen zu lassen. Das muss auch ohne gehen.

Es ist jetzt halb acht, die ersten der sogenannten Höhenmeter sind geschafft, und das lief sich auch ganz gut. Die Hütte am Eingang zur Höllentalklamm ist noch geschlossen, die Kasse aber geöffnet. Ein junger Mann sitzt in dem Häuschen, er trägt einen Hoodie und sagt, heute seien schon 30 Menschen auf dem Weg zum Gipfel. An einem Mittwochmorgen um 7.30 Uhr. Und das sei ein schwacher Tag. Er verlangt vier Euro, was in Ordnung ist.

Der Ausbau der Klamm - ein Tunnelweg, zwischen 1902 und 1905 in den Berg entlang eines reißenden Bachs gehauen und gesprengt - muss ein viehisches Unternehmen gewesen sein: "Wasserstürze und Steilstufen werden durch Tunnels und einen Schacht überwunden; dazu die wilde Grossartigkeit der Klamm, das ohrenbetäubende Brüllen der schäumenden Wasser", schreibt der Führer. Worte für die Ewigkeit.

Statt "herrlicher Lage" ein Bild wie am Flughafen Berlin-Brandenburg

Eine halbe Stunde später ein Schild an einem Baum. Dort steht, dass Hunde an die Leine müssen. Was natürlich die Frage aufwirft, welche Hunderasse auf die Zugspitze klettern kann. Es sind jetzt nur noch wenige Minuten bis zur Höllentalangerhütte, "eine herrliche Lage", wie der Führer sagt, und, vor allen Dingen: "Die Verproviantierung ist gut." Momentan ist es allerdings nichts mit Verproviantierung. Die alte Höllentalhütte wurde abgerissen. Demnächst soll das neue Gebäude, ein Flachbau, lawinenfest, brandgeschützt, hypermodern, eröffnet werden.

Diese Entwicklung könnte man nun beklagen. Aber angesichts der Geschichte ist jegliches Lamento überflüssig. Denn die Geschichte der Alpen ist immer auch eine Geschichte der Erschließung und Industrialisierung der Alpen. 1873 wurde der deutsch-österreichische Alpenverein gegründet, "Zweck des Vereins ist, die Kenntnis der Alpen zu erweitern und zu verbreiten, sowie ihre Bereisung zu erleichtern", hieß es in den Statuten. Kilometerweise Klettersteige und über 500 Schutzhütten entstanden.

Die Alpen wurden von nun an in einem Tempo urbar gemacht, dass es manchen zu viel wurde. So zerstritt sich Ende des 19. Jahrhunderts die Münchner Sektion des Alpenvereins heillos über die Frage, ob auf dem Gipfel der Zugspitze eine Hütte gebaut werden sollte oder nicht. Dies würde nur noch mehr Wanderer anziehen, beklagten die Kritiker. "Man soll die stumpfe Menge nicht auf den Gipfel locken", mahnte der Alpinist Wilhelm August in seinem Plädoyer. Doch das Münchner Haus wurde 1897 gebaut; so wie ein Vierteljahrhundert später die erste Zugspitzbahn - "ein Symbol unserer raschlebigen Zeit", wie es in einer Werbeschrift der Bahngesellschaft hieß.

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Haken, Karabiner, Eisentritte: Vielleicht weint der Berg deshalb so sehr

1930 wurde die Garmischer Bahn fertiggestellt. Eine gigantische Unternehmung, an der 2000 Menschen Tag und Nacht arbeiteten, unter teils unwürdigen Bedingungen. Zehn Arbeiter kamen ums Leben, was den Schriftsteller Ödön von Horváth antrieb, den Eroberungswahn und die Profitgier zum Thema eines seiner Volksstücke zu machen. "Wir müssen zwingen. Und sollte es Schwefel schneien", herrscht da der Aufsichtsrat des Bahnkonsortiums den Ingenieur trotz bitterster Kälte und Schneesturm an.

Eine Herde Schafe, schwarze, weiße und schwarz-weiße, kraxeln mit ungeheurer Geschicklichkeit über den Hang. Sie blöken, es klingt, als würden sie einen auslachen. Nachtschwarze Salamander dösen auf dem Weg. Wenig später dann die "Leiter" und das sogenannte Brett, beides steil aufsteigende Wände, glatt und ohne Halt. Sie waren der Grund, dass die Tour über das Höllental die letzte war, die wegbar gemacht wurde.

Die Ersten, die hier entlangkamen, 1872 war das, stiegen ab, in weitem Bogen um die unüberwindliche Steilwand. Später wurden eiserne Griffe und Stifte hineingehämmert. Ein Eingriff in die Natur, der unter Bergsteigern immer auch umstritten war. In seinem Buch "The Romance of Mountaineering" beklagt der Engländer R. L. G. Irving zu Beginn des 20. Jahrhunderts die "Mechanisierung des Kletterns" durch Haken, Karabiner, Eisentritte. Vielleicht weint der Berg ja auch deshalb so sehr.

Warum? Überwindung? Neugier? Weil der Berg doch ruft?

Ungefähr eine Stunde vom Gipfel entfernt hat ein guter Mensch in einigem Abstand Zahlen auf die Felsen geschrieben, 10, 9, 8, ein Countdown zum Gipfel. So ein Aufstieg hat ja etwas wunderbar körperlich Existenzielles, was es im Alltag kaum mehr gibt: Das Gletscherstück, wo man wirklich kurz droht, ins Nimmerwiedersehen abzurutschen. Oder die überhängenden Stellen am Klettersteig, wo eine gröbere Unachtsamkeit mit zahllosen Frakturen bestraft werden würde. Jetzt läuft der Schweiß in Rinnsalen, der Atem geht schwer. Frage: Warum macht man das? Warum klettern Erdbewohner auf Berge? Sport? Überwindung? Neugier? Weil der Berg doch ruft?

Bis ins 18. Jahrhundert hinein hat sich kein Schwein für die Berge interessiert. Eine "barbarische Landschaft" nannte sie der Archäologe und Begründer der Kunstgeschichte Johann Joachim Winckelmann. Wenn er dann doch durch das Gebirge fahren musste, zog er die Vorhänge seiner Kutsche zu. So waren die ersten Bergsteiger auch Jäger und Hirten, auf der Suche nach Beute oder dem entlaufenen Vieh.

Freiwillig auf einen Gipfel zu steigen, galt bis in das 19. Jahrhundert hinein als ausgemachter Blödsinn. Es war schließlich die Wissenschaft, die einige Männer gezielt auf die Gipfel trieb. Der erste Offizielle auf der Zugspitze, Leutnant Naus, war im Auftrag seines Königs unterwegs. Maximilian I. wollte endlich einmal seinen Herrschaftsbereich kartografiert haben. Doch die Menschen im Tal, in Garmisch und in Partenkirchen glaubten Naus kein Wort. Zu abwegig, zu unmöglich erschien das Unterfangen dieses Mannes.

Die Tat des einfachen Mannes, die Uranfänge des Alpinismus

Ein Maurermeister aus Partenkirchen ebnete dann den Weg für die Zugspitzbesteigungen von heute. Simon Resch bestieg den Berg ohne besonderen Zweck, einfach so. "Wir finden in der Tat des einfachen Mannes die Uranfänge unseres sportlichen Alpinismus", heißt es in Josef Doposchegs Zugspitzführer 1921. Bis 1919 hatten 30 000 Menschen die Zugspitze bestiegen, darunter auch Versehrte aus dem Ersten Weltkrieg, mit nur noch einem Bein oder ohne Füße hinaufgehievt. Die Zugspitzbahnen brachten den Durchbruch für den massenhaften Besuch des Gipfels, seit den 1970er-Jahren bis zu 500 000 Menschen Jahr für Jahr, über 25 Millionen insgesamt.

Ein freundlicher Mann öffnet die Tür zur Wetterstation, es geht eine steile und enge Stiege zu seinem Büro empor, zwei Schreibtische, zwei Stühle, ein Schrank, ein Computer auf engstem Raum. Ein Foto zeigt das Büro 1900, Josef Enzensperger, war der Erste, der auf der Zugspitze vom Wetter berichtete. Ein "prächtiger, kraftstrotzender, junger" Kerl, eher ein Abenteurer, der auch gerne viel trank. Besonders, wenn er hier in den Wintermonaten allein mit seinem Hund Putzi bei Eiseskälte hockte. Auf dem Foto sitzt er im vollgestopften Büro am Schreibtisch und so viel hat sich seitdem gar nicht geändert.

Wetterwart Pirmin Weis geht zum Schrank und klappt ein Bett heraus. "Das Bettzeug liegt dahinten in der Schublade", sagt Weis. Man hätte gleich Lust, hier ein paar Tage Meteorologe zu sein. In der Nacht übernehmen komplizierte Gerätschaften den Dienst, zwischen fünf Uhr morgens und 21.30 muss Weis alle halbe Stunde das Wetter überprüfen. Dafür geht er zu einem kleinen Fenster neben dem Bettschrank, öffnet es und schaut hinaus. "30 Meter Sicht und leichter Regen", stellt Weis fest. Diese Angaben und die Daten der Wetterfühler auf dem Dach der Station überträgt er dann in den Computer. So wie es in allen Warten in der Welt zum selben Zeitpunkt geschieht. Daraus entsteht dann ein Wetterbericht.

Die Wetterwarte auf der Zugspitze ist eine der ältesten Deutschlands. Ob es sie noch länger geben wird, ist unsicher. In Deutschland sind von den rund 180 Haupt-Wetterstationen noch 60 mit Menschen besetzt, "alle anderen sind inzwischen Automaten", wie Weis das nennt. Und es werde immer schwieriger, Nachwuchs zu finden, der Deutsche Wetterdienst bilde nur noch wenig aus und gerade die Stelle auf der Zugspitze sei unbeliebt: "Die dünne Luft, die steile Stiege, die Höhe", zählt Weis auf, "viele Kollegen macht das krank." Aber Weis, der eigentlich in Karlsruhe arbeitet und hier nur hin und wieder aushilft, liebt die alte Wetterwarte: "Das ist einfach keine Station wie jede andere."

Deutschlands höchster Leberkäs, Deutschlands höchster Irrsinn

Der Countdown auf den Felsen hatte schon bei der "3" aufgehört. Angekommen am Gipfel aller deutschen Gipfel, der Anti-Klimax. Freizeitterror. "Deutschlands höchster Biergarten", Deutschlands höchster Leberkäs, Deutschlands höchster Irrsinn, ein ständig fiepender Warnton der Zugspitzbahn, kreischende Japanerinnen, Araber, die Selfies machen. 1000 Menschen von 500 000 im Jahr. Vielleicht gibt es einmal an der Funktionswäsche auch eine Funktion, um all das auszublenden.

German Alps Draw Summer Tourists

Aussichtsplattform über Aussichtsplattform - hier auf der Alpspitze

(Foto: Johannes Simon/Getty Images)

Einmal, da war Hansjörg Barth zwei Monate am Stück hier oben, ohne eine einzige Talfahrt. "Da wirste blöde", sagt Barth. Er ist auf der Zugspitze aufgewachsen, das können nur wenige Menschen von sich behaupten. Seit 91 Jahren bewirtschaften die Barths die Hütte, er selbst zusammen mit seiner Frau im 34. Sommer. Barth und ein paar Männer sitzen um den Tisch am Ende der Küche herum, "das ist unser Wohnzimmer", es gibt keine Dusche mit fließendem Wasser, die Schlafplätze für Familie und Angestellte sind eng. "Wir leben hier so primitiv", sagt Barth, "nachts pieseln wir in den Eimer." Andererseits sei es aber so: "Je mehr Edelstahl und Beton sie hier oben verbauen, desto besser geht diese alte Hütte."

Der Bau einer neuen Bergbahn ist nun beschlossen, die alte reicht beim stetig steigenden Ansturm nicht mehr aus. 700 Besucher sollen ab Ende 2017 stündlich auf den Berg transportiert werden können. Da aber das Zugspitzplateau inzwischen so zubetoniert ist, kann es gut sein, dass das alte Münchner Haus mitsamt Wetterstation weichen muss. Wie so viele, die mit der Zugspitze verwachsen sind und gleichzeitig von ihr leben, tut sich auch Barth schwer mit dem Businessmodell Zugspitze: "Es ist einfach eine verzwickte Sache mit dem Berg", sagt er. "Die Zugspitze ist nur noch ein Geschäft, da leben so viele Menschen davon. Und sie leben gut davon."

Was die Zugspitze einmal war, diese tolle Einsamkeit, der irrsinnige Blick, manchmal ein Adler, der Kreise zieht, das gibt es nur noch als Ahnung. Morgens beim Frühstück, wenn Sie draußen vor dem Haus säßen zum Beispiel, sagt Barth. "Und die Abende, wenn die Leute weg sind. Dann ist es wunderbar."

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