Urban Explorer:Reiz des Verbotenen

Urban Explorer steigen in verlassene Häuser ein, weil deren morbide Schönheit sie fasziniert. Legal sind diese Touren nicht.

Von Franziska Türk

Was bringt einen Menschen dazu, in den Großen Ballsaal des verlassenen Gesellschaftshauses in Berlin-Grünau zu steigen, in der Ruine herumzuklettern, wo jederzeit die Decken herabstürzen können, unter den Füßen morscher Boden?

Vielleicht weiß jemand wie Felix C., der in dieser Geschichte keinen vollen Namen tragen soll, die Antwort. Wenn er dort im Modergeruch seine Augen schließt, steigen sie in ihm auf: bruchstückhafte Bilder rauschender Feste, wie sie hier einst stattgefunden haben müssen. Elegant gekleidete Frauen mit Pagenkopf und Perlenkette, die Absinth trinkenden Männern zuzwinkern. Der Kronleuchter funkelt, auf der Bühne spielt das Orchester. Öffnet ein Besucher wie Felix C. dann im Jahr 2015 wieder die Augen, sieht er vergilbte Tapeten, zerfetzt und von der Wand hängend, das Holzgerippe, wo einst die Bühne war und ein Graffito, wo einmal das Orchester saß. "Es ist schade, dass ein Gebäude, das einmal die Massen angezogen hat, völlig verlassen ist", sagt Felix C.

Geschichtliches Interesse und Hoffnung

Der Student ist Urban Explorer, so werden Menschen genannt, die auf eigene Faust leer stehende Gebäude in Städten erkunden. Geschichtliches Interesse und die Hoffnung, längst verloren geglaubte Motive mit der Kamera einzufangen, haben den 27-jährigen Hobbyfotografen in das ehemalige Ausflugslokal klettern lassen, das die Berliner Oberschicht seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert in Scharen angezogen hat und das nun seit 24 Jahren vor sich hin verfällt.

Natürlich ist Urban Exploration nicht auf Berlin beschränkt. Es tritt weltweit überall dort auf, wo es "Lost Places" gibt, vergessene Orte also. Das können geschlossene Krankenhäuser sein, stillgelegte Bahnanlagen oder Botschaftsgebäude, die bei Kriegsausbruch in aller Hektik verlassen wurden. Zu den wohl bekanntesten Zielen der "Urbexer"-Szene gehört Buzludzha, ein Ufo-ähnliches sozialistisches Monument mitten in der Einöde des bulgarischen Balkangebirges. Wie viele Menschen das Hobby weltweit betreiben, weiß niemand.

Nach deutschem Gesetz begehen sie Hausfriedensbruch

Passiert sei ihm zum Glück noch nie etwas, sagt Felix C. Und auch geschnappt wurde der Student bei seinen Streifzügen bisher nicht. Denn legal ist das, was er da tut, natürlich nicht. Ganz gleich, aus welchem Grund Urban Explorer ein leer stehendes Gebäude betreten - nach deutschem Gesetz begehen sie Hausfriedensbruch. Zumindest theoretisch müssen sie mit einer Geld- oder gar Freiheitsstrafe rechnen.

Allerdings müssen sich Urban Explorer keine allzu großen Sorgen machen: Die Polizei ermittelt nur, wenn der Eigentümer Anzeige erstattet. Also in der Regel nicht. "Welches Interesse sollten die Eigentümer denn haben herauszufinden, ob sich jemand illegal dort aufhält?", fragt ein Berliner Polizeisprecher. Legale Ausflüge in die Vergangenheit kann man beispielsweise in die unterirdischen Anlagen von Berlin machen, in ehemalige Luftschutzbunker, nie vollendete U-Bahnhöfe und die Kanalisation.

Soll die Lage der Orte im Netz verbreitet werden?

Man könnte den Urban Explorern unterstellen, dass sie bei ihren Touren nur den Kick suchen. Nach Ansicht von Bradley Garrett aber ist es weit mehr: "Verlassene Gebäude unterscheiden sich stark von dem, was wir im Alltag erleben. Wohnung und Arbeitsplatz sind sehr strukturierte Orte", sagt Garrett, der als Kulturgeograf an der Universität Southampton arbeitet und sich seit Jahren mit diesem Phänomen beschäftigt. "Unter dem sonst so starren Blick des Staates gibt diesen Leuten eine Ruine die Möglichkeit, sich frei und unbeobachtet zu fühlen", sagt Garrett. Zersplittertes Glas, verbogener Stahl und bröckelnde Ziegel schreien dem Betrachter förmlich ins Gesicht: Alles ist vergänglich - also nutze jeden Augenblick!

Angesichts gentrifizierter Städte, die kaum Platz für Fantasie und freie Entfaltung bieten, könnte man meinen, Urban Exploration sei ein Phänomen der Postmoderne. Ist es aber nicht. Schon im 18. Jahrhundert haben Menschen im Schein einer Kerze die Pariser Katakomben durchstreift. Trotzdem hat sich die Art, wie Urban Exploration praktiziert wird, mit dem Aufkommen des Internets gewandelt. Obwohl die meisten Urban Explorer alleine zu ihren Streifzügen aufbrechen, werden in der globalen Online-Community Bilder ausgetauscht, wird auf interessante Orte hingewiesen. Letzteres allerdings sehen nicht alle gern. Um die verlassenen Orte zu schützen, darf ihre genaue Lage nicht bekannt gegeben werden, so die Forderung in einigen Foren. Aber wie kann man Regeln einführen in einem Gebiet, dessen Schönheit durch die Abwesenheit von Regeln erst entsteht?

Im Gesellschaftssaal in Berlin-Grünau mag das dann so aussehen: Einzelne Sonnenstrahlen dringen durch die großen Fenster in den ansonsten schummrigen Raum. Felix C. erzählt, dass er vor jeder Tour online recherchiert, zum Beispiel auf Blogs wie abandonedberlin.com. Dort versucht er herauszufinden, welche verlassenen Orte es in der Nähe gibt, wie man am einfachsten Zugang dazu findet - und auch, welche möglichen Gefahren an den Orten lauern. Übrig geblieben sind ja oft nur Ruinen.

Die Urban Explorer eint ihr Entdeckergeist

Die Szene der Urban Explorer ist nicht wirklich homogen. In einer Ruine kann man auf Menschen aller Altersklassen und Gesellschaftsschichten treffen: auf Fotografen natürlich, aber auch auf Mechaniker, Zahnärzte und Studenten. Wenn die Urban Explorer überhaupt etwas eint, dann ist es ihr Entdeckergeist und das Interesse am Dokumentieren vergangener Zeiten. Wer durch alte Ballsäle und modrige Keller streift, trägt immer einen Fotoapparat mit sich herum.

Die Eigentümer der leeren Gebäude - und die gibt es immer - haben oft kein großes Interesse an ihrem Besitz, das macht es leichter. Aber für Bernd Hamm, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Ortsgestaltung des Ortsvereins Grünau, ist das Desinteresse auch "fürchterlich ärgerlich". Das Gesellschaftshaus beispielsweise sei lange Zeit der Identifikationspunkt des Stadtteils gewesen. Nach der Eröffnung im Jahr 1898 gab es Bälle und Konzerte, bei Sonnenschein verfolgten bis zu 50 000 Zuschauer Regatten auf der angrenzenden Dahme.

Im Ballsaal standen noch abgebrannte Teelichter

Hamms Vermutung zum mangelnden Engagement der Besitzerin: Die Geschäftsfrau, die das Gebäude 2006 erworben hat, wolle wohl abwarten, ob es nicht zusammenfällt - dann nämlich würde sich auch das Problem mit dem Denkmalschutz erledigen. Stellenweise ist das Dach tatsächlich schon eingestürzt, zwischen zerborstenen Türrahmen und Schuttbergen wuchern Sträucher. Über eine vergilbte Blümchentapete hat jemand trotzig das Wort Paradise gesprüht. Wenn Hamm Menschen über die Grundstückmauer zum Gesellschaftshaus klettern sieht, spricht er sie an. Er sagt zu ihnen: "Sie begehen Hausfriedensbruch."

Im Ballsaal standen noch abgebrannte Teelichter, als Felix C. dort war - rund ums Piano auf dem Boden verstreut. Sie bezeugen wohl, dass noch immer Menschen hierherkommen, in das baufällige Gesellschaftshaus, vielleicht sogar zum Tanz. Bernd Hamm von der Arbeitsgruppe Ortsgestaltung erzählt von der Anfrage einer Balletttänzerin, die im Ballsaal proben wollte. Er hat Nein gesagt. Würde die Frau trotzdem nachts einsteigen, dort tanzen und wie in alten Zeiten durch den Ballsaal schweben - er könnte sie nicht davon abhalten.

Eine Übersicht über verlassene Orte im Raum Berlin gibt es unter abandonedberlin.com. Websites, die Orte weltweit vorstellen: www.urbanexplorers.net; www.marodes.de; www.lost-places.com. Öffentliche Führungen unter www.berlin-unterwelten.de

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