Deutschland:Gute Stadtlage

In Stuttgart grenzen terrassierte Steilhänge an Hochhäuser und Motorenwerke. Um diese besondere Kulturlandschaft zu erhalten, leistet sich die Kommune sogar eigene Weinberge.

Von Dagmar Deckstein

Klein und weiß thront es auf den steilen Hängen des Stuttgarter Kriegsbergs, das Weinberghäusle. Von hier oben hat man einen schönen Rundumblick auf die Stuttgarter Innenstadt. Der Hauptbahnhof, zurzeit eine etwas unschöne Großbaustelle, liegt dem steilen Weinberg zu Füßen, und durch die jahrelangen Scharmützel um "Stuttgart 21" bekommt sein Name eine zeitgemäße Konnotation. Besonders an diesem Weinberg ist nicht nur, dass er so weit wie kein anderer in die Innenstadt hinunterreicht. Er befindet sich - geschuldet einigen Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit - auch im Besitz der Stuttgarter Industrie- und Handelskammer. Als geschütztes Naturdenkmal versinnbildlicht der IHK-Weinberg das ewige Anhängsel Stuttgarts als "Stadt zwischen Wald und Reben": Steillage, v-förmig angeordnete Trockenmauern, steinerne Treppen und Regenabflussrinnen - allesamt Besonderheiten des Stuttgarter Weinanbaus.

"Den Stuttgartern fällt ihr einzigartiges Stadtbild mit den Weinhängen schon gar nicht mehr auf", sagt Frank Kämmer. "Fremden umso mehr." Der Master-Sommelier und Weinfachmann beobachtet das immer wieder, wenn er Nicht-Einheimische vom Zug abholt und diese an der Großbaustelle "Stuttgart 21" beim ersten Blick auf den Kriegsberg in Erstaunen geraten. Wer sich mit dem gebürtigen Schwaben Kämmer auf einige der zahlreichen Weinwanderwege in und um Stuttgart herum begibt, kann da noch eine ganze Reihe tieferer Einblicke in die gepflegten, terrassierten Weinberge erhalten. Auch wenn die Rebfläche in Stuttgart durch Industrieansiedlung und Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist, macht sie immerhin noch zwei Prozent des Stadtgebietes aus. In 16 der 23 Bezirke gehört der Weinbau zur Grundausstattung der Großstadt wie die Spätzlepresse zum schwäbischen Haushalt: Bad Cannstatt, Obertürkheim, Untertürkheim sind nur die bekanntesten davon, Letzterer kurioserweise mitsamt seinem riesigen Motorenwerk der Hauptsitz der Daimler AG.

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Es gibt wenige Orte in Deutschland, wo sich Weinanbau und Großstadt so nahekommen wie hier in Stuttgart-Untertürkheim.

(Foto: imago)

Frank Kämmer, der auch als Experte am Gault-Millau-Weinguide mitarbeitet, ist voll des Lobes für die gepflegten Rebhänge und die neuen, vielfach preisgekrönten Weine aus den Stuttgarter Genossenschaften und Spitzenweingütern. Wie in vielen anderen deutschen Weinanbaugebieten habe hier bis vor 20 Jahren noch die Maxime geherrscht: Masse statt Klasse. "Das hat sich auch in Stuttgart abrupt geändert", sagt Kämmer. Vor allem, seit die beiden befreundeten Familien Wöhrwag in Untertürkheim und Aldinger in Fellbach sich einen ehrgeizigen Wettbewerb um den besten Wein aus dem Neckartal lieferten. Wöhrwag mit seiner Filetlage Untertürkheimer Altenberg, Aldinger mit seinem Untertürkheimer Gips. "Die haben sich gegenseitig so hochgeschaukelt wie einst die Münchner Gourmetrestaurants Tantris und Aubergine", sagt Kämmer, der nicht nur diesen beiden, sondern auch dem Fellbacher Winzer Rainer Schnaitmann regelmäßig Spitzenplätze im Stuttgarter Weinwettbewerb zuschreibt. Und so, stellt Kämmer fest, "haben auch nach und nach alle anderen Stuttgarter Weinbauern nachgezogen: weg von der Massenware, hin zu mehr Qualität". Und das sei auch an der Kehrwochen-Philosophie der Weinbergpflege ablesbar: "Schon wegen der Vorzeigefunktion als Naherholungsregion kontrollieren sich die Wengerter natürlich gegenseitig, und wehe einer schlampt da im Weinberg." Wengerter, so nennt man hier die Winzer, nach den Weingärten, die sie bestellen.

Schlampigkeit, das käme auch für Dieter Weingart nicht in Frage. Der Professor führt zwar vorzugsweise das Skalpell, kann aber auch mit der Rebschere umgehen. Sein Arbeitsplatz ist nur einen Steinwurf vom Weinberghäusle entfernt, von dem aus man immer mal den Rettungshubschrauber auf dem Dach des Katharinenhospitals landen sieht. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie betreibt mit seinem Freund Alfred Schefenacker seit 2008 zehn Ar Weinberge in Untertürkheim und in Korb im Remstal. Wein, erzählt der 61-Jährige, habe ihn schon immer interessiert. "Wo sich Berufskollegen vielleicht beim Golfspielen erholen, widme ich mich lieber den Rebstöcken." Deren Trieben rückt er gelegentlich mit einer kieferorthopädischen Zange zur Entfernung von Zahnkronen zu Leibe. Mehr als 1500 Flaschen Rotwein und 1400 Flaschen Weißwein der Marke Viventum geben die Rebstöcke nicht her. Für eine Besenwirtschaft reicht das nicht, aber das Schwarzwälder Sternelokal "Traube" schenkt diesen sozusagen chirurgisch veredelten Wein aus.

Reise
(Foto: sz)

Apropos Besenwirtschaften. Sie sind untrennbar mit dem Weinbau in Stuttgart verbunden. Direkt an der Quelle, das heißt im Wohnhaus des oft nur wenige Ar bewirtschaftenden Winzers kann man den neuen Lemberger oder Rivaner kosten, dazu ein "Veschper" mit Wurst und oder Leberkäse essen. Früher hängte man einen Besen über die Tür, um anzuzeigen, wann ausgeschenkt wurde.

Stuttgart ist mit fünf Genossenschaften und 25 weiteren privaten Weinbaubetrieben sowie zahlreichen Hobby- und Nebenerwerb-Wengertern eine der größten Weinbaugemeinden im Land. Im Neckartal werden auf den 430 Hektar Keuper-Verwitterungsböden vor allem Trollinger, Lemberger und Spätburgunder, aber auch Riesling, Rivaner und Weißburgunder angebaut.

Die Stadt Stuttgart - wiederum eine Besonderheit - macht sich das sogar zur öffentlichen Aufgabe. Seit 65 Jahren betreibt sie ein eigenes Weingut mit 17 Hektar Rebfläche auf den historischen Innenstadtweinbergen. Dazu gehören die Stuttgarter Mönchhalde, der Cannstatter Zuckerle oder die Cannstatter Halde. Seit jeher schaffen das warme Klima im Talkessel und die hohe Sonneneinstrahlung auf den Hanglagen in der Stuttgarter Innenstadt ideale Anbaubedingungen. Aber nicht unbedingt auch ideale Bewirtschaftungsbedingungen.

Reisetipps

Wein trinken: Eine Besonderheit Stuttgarts sind die sogenannten Besenwirtschaften. Diese Kleinst-Winzer, die nur einige Ar Rebfläche bewirtschaften, laden zur Weinverkostung nebst "Veschper" ein. Einen Überblick findet man unter www.besentermine.de. Museal aufbereitetes Wein-Wissen mit Weinstube gibt es in Uhlbach, www.stuttgart-tourist.de/de/a-weinbaumuseum-stuttgart. Alle Anstrengungen münden im Herbst in ein Fest, das sogenannte Stuttgarter Weindorf: www.stuttgarter-weindorf.de

Unterkunft: In der Stadt nahe den Weinhängen Hotel Zur Weinsteige, zwei Personen im DZ ab 110 Euro, www.zur-weinsteige.de

Festival: Trollinger on the Rockz, www.trollinger2punkt0.de

Niemand weiß das besser als Bernhard Nanz, der verantwortlich ist für die Pflege der städtischen Weinberge. Der 64-Jährige hat nur noch ein Team von fünf Angestellten zur Verfügung. Hinzu kommen 30 ehrenamtliche Helfer für die Pflege der Flächen und weitere 30 zur Rebenlese. "Hier muss alles noch von Hand gemacht werden, ohne freiwillige Helfer ginge das nicht", sagt Nanz, der seit Jahrzehnten die städtischen Steillagen pflegt. Auch wenn der enorme Aufwand vielfach preisgekrönte Rieslinge, Trollinger oder Lemberger hervorbrachte, für die Stadt Stuttgart ist der Wein seit Jahren ein Verlustgeschäft. 2014 zahlte die Kommune 800 000 Euro drauf. Schon seit Längerem wird deshalb im Stuttgarter Gemeinderat darüber diskutiert, ob die Stadt ihre Rebenflächen verkaufen oder gar zerschlagen solle. Das eine ist aber erst einmal so illusorisch wie das andere. Ein stadtprägendes Kulturerbe abholzen und die Fläche einfach bebauen? Das geht allein aus Gründen des Klimaschutzes im Stadtkessel nicht. Und welcher Privatwinzer wollte sich wohl solch betriebswirtschaftlich prekäre Steillagen hinzukaufen?

Erst am vergangenen Samstag hat Nanz zusammen mit dem Bürgermeister, mit Stadträten und Amtsleitern im städtischen Weinberg Mönchhalde gut 5000 Kilo Lemberger mit 96 Grad Oechsle gelesen. "Es ist ein super Lemberger-Jahrgang. Hier stimmen Menge und Spitzenqualität überein", freut sich Nanz. Immerhin ein Trost für die subventionierenden Stadtverwalter. "Damit kommen sie einer für die Wald- und Rebenstadt nicht unwichtigen landschaftspflegerischen Aufgabe nach", sagt der Waiblinger Wein-Meister Frank Kämmer. Und das solle nach Möglichkeit auch so bleiben. Oder, wie der Stuttgarter Stadt-Wengerter Bernhard Nanz sagt: "Die Rebterrassen sind das Gesicht Stuttgarts. In Ägypten haben sie die Pyramiden. Die Terrassen sind unsere Pyramiden."

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