Bahn:"So ein eng getaktetes System erlaubt keine Regeneration"

Erst Ausfall in der Kälte, nun Kollaps in der Hitze: Der ICE war einst das Schmuckstück der Bahn. Seit einiger Zeit häufen sich die Mängel - aus unterschiedlichen Gründen.

Michael Bauchmüller

Wie war die Welt auf Schienen 1966 noch in Ordnung. "Alle reden vom Wetter. Wir nicht" warb die Bahn damals in ganzseitigen Anzeigen, "Fahr lieber mit der Bundesbahn". Es ist ein Slogan aus einer längst vergangenen Zeit. In der Anzeige pflügte seinerzeit eine E-Lok der legendären Baureihe E 10 durch die Winterlandschaft - heutzutage legt Tief Daisy mal eben ganze ICE-Züge lahm, so geschehen im letzten Winter. In den fünfziger und sechziger Jahren ließ die Bahn erstmals klimatisierte TEE-Züge durchs Land fahren. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends legt Hoch Zadok reihenweise Züge lahm. "Der Zug hat sich selbsttätig abgeschaltet", erfuhren Reisende im ICE von Stuttgart Richtung Norden vorigen Donnerstag.

Deutsche Bahn Hitze Kollaps

Am Wochenende fielen Kühlaggregate in Zügen der Deutschen Bahn aus, drei ICE-Züge mussten evakuiert werden: Bei Temperaturen von mehr als 50 Grad erlitten Passagiere Zusammenbrüche. Wenn derzeit etwas in vollen Zügen zu genießen ist, dann nicht die Reise mit einem ICE.

(Foto: AFP)

Seither häufen sich die Zwischenfälle, bis hin zum "Massenanfall von Verletzten" auf dem Bielefelder Bahnhof am vergangenen Samstag. Weil die Klimaanlage des gesamten Zugs ausfiel, stiegen die Temperaturen im Inneren auf an die 50 Grad, mehrere Reisende erlitten einen Hitzekollaps. In zwei weiteren Zügen geschah Ähnliches, die Staatsanwaltschaft Bielefeld ermittelt: wegen fahrlässiger Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Der ICE, einst Schmuckstück der deutschen Bahnindustrie, will derzeit überhaupt nicht so wie die Bahn.

Die Probleme reihen sich seit Jahren. Nach einem Achsbruch im Kölner Hauptbahnhof stellten Experten bei mehreren Fahrzeugen feine Risse fest, die teils auf ermüdetes Material, teils auf schlechte Wartung zurückgehen. Seitdem kämpft die Bahn mit einem nie dagewesenen Andrang vor ihren Werkstätten. Noch bis 2013 wird es brauchen, bis alle Achsen ausgetauscht sind. In der Zwischenzeit sind die Züge Dauergäste in den Werkstätten zur regelmäßigen Kontrolle. Die Folge: Für den Bahnverkehr stehen weniger Züge zur Verfügung, ergo auch weniger Ersatzzüge, falls einer mal ausfällt.

Damit können kleine Probleme riesige Auswirkungen haben. Als im Winter bei ICEs ein kleiner, aber wichtiger Abfluss einfror, konnte die Bahn tagelang keine ICEs zwischen München und Berlin verkehren lassen - ausgerechnet zwischen Weihnachten und Neujahr, auf einer der Premiumstrecken der Bahn. Dieser Tage sind es Temperaturen von 37 Grad und mehr, die der Elektronik zu schaffen machen. Fällt aber die Klimaanlage aus, gibt es auch keine Lüftung mehr in den Zügen, so will es die Technologie. Fenster lassen sich im ICE ohnehin nicht mehr öffnen - sie haben schließlich eine Klimaanlage.

Weshalb eine verzweifelte Mutter im ICE nach Bielefeld die Scheibe zertrümmern wollte. Aber auch dagegen ist der ICE gefeit, die Scheiben splittern nur, sie brechen nicht leicht. Wer einmal in dem Hochgeschwindigkeitszug sitzt, muss sich auf dessen Funktionsfähigkeit schon verlassen. "Wir haben uns daran gewöhnt, dass die komplexen Systeme funktionieren", sagt der Dortmunder Techniksoziologe Johannes Weyer. Gleichzeitig seien aber auch die Ansprüche gewachsen - die Systeme geraten so immer stärker unter Druck. "Früher stand ein Zug zehn Minuten im Bahnhof, heute muss er nach zwei Minuten wieder raus", sagt Weyer. "So ein eng getaktetes System erlaubt keine Regeneration." Allerdings ist es insgesamt auch schneller, sofern der Zug im Plan fährt.

Aber ein komplexes System wird anfällig für Fehler auch da, wo es keiner vermutet. Beispiel S-Bahn Berlin: Die neueren Wagen verfügen über modernste Technik, die aber empfindlich auf hohe Temperaturen reagiert - weswegen es in den Führerständen inzwischen Klimaanlagen gibt. Nur hat die Bahn zwischenzeitlich auf vielen Bahnhöfen das Personal abgebaut, das die Züge abfertigte, aus Kostengründen. Die Folge: An jedem Bahnhof muss der Fahrer seine Tür öffnen, um seinen S-Bahn-Zug selbst abzufertigen - und die Temperatur im Führerhaus steigt. Nicht alle Wagen verkraften das, einige haben einstweilen hitzefrei. In den verbleibenden Zügen wird es dagegen enger.

"Verkettung unglücklicher Umstände"

"Oft ist es eine Verkettung unglücklicher Umstände", sagt Peter Gratzfeld, Experte für Bahnsystemtechnik an der Uni Karlsruhe. Zwar fänden sich für die meisten technischen Probleme auch gute technische Lösungen, sei die neueste Generation des ICE schon weit besser als die älteren Züge. Aber die Fahrzeuge sind dadurch auch immer schwerer zu durchschauen. "Natürlich sind die Fahrzeuge heute technisch wesentlich komplexer als früher", sagt Gratzfeld. "Versuchen Sie mal, an einem neuen Auto irgendeine kleine Sache zu reparieren. Das wird schwer."

Erst im März hatte das Eisenbahnbundesamt vor Schwachstellen in ICEs und S-Bahnen gewarnt. "Im Zweifelsfall bestimmt immer das schwächste Teil die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems", warnte Behördenchef Andreas Hörster damals vor Verkehrspolitikern des Bundestags. Und das Gesamtsystem ist nicht einmal der Zug allein. Es ist jeweils ein Fahrplan für eine ganze Region, der aus den Fugen gerät - wie zuletzt am vergangenen Wochenende.

Die Bahn, die gerne die Pannen mit den täglich 1400 Fahrten relativieren würde, sucht nun fieberhaft nach dem Fehler. Parallel zu den Ermittlungen von Eisenbahnbundesamt und Staatsanwälten will auch das Unternehmen selbst rasch Klarheit, wie es zu dem Ausfall kommen konnte. Beim Routinecheck der Züge sollen die Werkstätten nun noch genauer auf die Klimaanlagen schauen. Den Leidtragenden des Systemausfalls will die Bahn Schadenersatz zahlen, je nachdem, wie sehr sie unter der Hitze im Zug litten. Auch am Montag fuhren wieder überhitzte Züge ohne Klimaanlage. Immerhin aber, sagt eine Sprecherin, werde es am Dienstag kühler. Diesmal reden wirklich alle vom Wetter.

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