3D-Bergsteigen:Virtueller Höhenrausch

Schnell mal auf den Mount Everest oder die Zugspitze: Digitale Technik ermöglicht Foto-Touren auf berühmte Gipfel - inklusive Schwindelgefühl.

Von Hans Gasser

Kurz vor dem höchsten Punkt der Erde geht es vom Südgipfel noch mal zehn Meter abwärts. Alle Bergsteiger müssen hier über einen schmalen Grat. Es ist die exponierteste Stelle der Südroute auf den Mount Everest. Rechts würde man 2400, links sogar 3350 Meter fast senkrecht hinunterfallen. Stolpern wäre fatal, zum Glück kann man sich hier in ein Fixseil einklinken. Vor uns, etwas höher, stauen sich die in bunte Daunenanzüge gehüllten Bergsteiger an der zwölf Meter hohen Felsstufe des Hillary Step, der letzten Prüfung. Danach wäre es geschafft. Aber jetzt nur an den nächsten Schritt denken!

Man ist mitten drin, kann sich drehen und an den Abgründen echte Schwindelgefühle kriegen. Dabei ist alles virtuell. Der Sportartikelhersteller Mammut hat im vergangenen Mai ein Sherpa-Team die Südroute des Everest hinaufgeschickt. An ihren Rucksäcken waren 360-Grad-Kameras befestigt. Alle 30 Sekunden machten diese automatisch ein Rundumbild. Das ermöglicht Interessierten nun, bequem vom Wohnzimmer aus mit auf den höchsten Berg der Erde zu steigen, inklusive freier Sicht auf Khumbu-Gletscher und Lhotse-Flanke, exklusive Kälte und Qual. Im (Gratis-)Angebot hat Mammut bisher elf Touren auf berühmte Berge, darunter neben dem Everest die Eiger-Nordwand, die Nose am El Capitan im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien, das Matterhorn.

Virtuelle Realität ist das Gebot der Stunde, nicht nur für Sportartikel-Hersteller, die damit Lust aufs Bergsteigen und vor allem auf den Kauf von teurer Ausrüstung machen wollen; auch für Reiseveranstalter, die immer öfter in den Reisebüros ihre Hotelanlagen und Traumstrände per 3-D-Brille bewerben.

Da war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Deutschlands höchster Berg virtuell besteigbar sein würde. Vor Kurzem haben Phil und David Schmidt, zwei deutsche Website-Entwickler und Hobby-Bergsteiger, ihre Seite Zugspitze360.com freigeschaltet. Man kann darauf in drei Etappen von Grainau durch die Höllentalklamm und über Wasserfall, Grünen Buckel und Jubiläumsgrat bis auf den Gipfel der 2962 Meter hohen Zugspitze steigen.

Ähnlich wie beim Online-Dienst Google Streetview klickt man sich auf dem Weg immer weiter, neue Aussichten eröffnen sich, mit Festhalten der Maustaste kann man sich einmal um die eigene Achse drehen und in der Landschaft herumschauen. Möglich macht dies die Essenz aus 25 000 hochaufgelösten Einzelfotos und mehr als 900 Rundum-Panoramen, die die beiden Brüder im vergangenen Spätsommer mit Spiegelreflexkamera und Stativ angefertigt haben.

"Es war schon ein großer Aufwand", sagt Phil Schmidt, "allein zehn Tage waren wir zum Fotografieren dort, die Arbeit am Computer dauerte mindestens vier Wochen." Man habe sich dieses Projekt schon lange in den Kopf gesetzt gehabt, und es nun weitgehend eigenfinanziert umgesetzt. Allein der Talort Grainau habe eine kleine finanzielle Unterstützung gegeben, der Alpenverein habe die Übernachtungen auf dem Höllentalangerhaus spendiert.

Die virtuelle Besteigung bietet nicht nur 360-Grad-Aussichten. An vielen markanten Punkten der Tour bekommt man aus dem Off die Besonderheiten zu dem erklärt, was man gerade sieht: von einem einheimischen Bergführer etwa, worauf man am exponierten "Brett" achten soll, oder vom Klammwart, wie der befestigte Steig durch die Höllentalklamm entstanden ist. Vier Experten sind es, die die Schmidt-Brüder interviewt haben und die den virtuellen Bergsteiger auf diese Weise unterwegs unterhalten. Das ist gut gemacht und sehr informativ. Zusätzlich gibt es Tipps für solche, die nach der Betrachtung wirklich auf die Zugspitze steigen wollen.

"Der Everest ist natürlich spektakulärer", sagt Phil Schmidt, "aber für die allermeisten wird diese Besteigung rein virtuell bleiben. Uns geht es nicht nur um schöne Bilder, sondern auch darum, den Leuten ein Planungstool für ihre Tour auf die Zugspitze an die Hand zu geben."

Die Betreiber der Websites lehnen die Haftung für spätere, reale Bergunfälle ab

Tatsächlich bekommt man durch die virtuelle Besteigung, die auf der Google-Maps-Software basiert, einen sehr guten Eindruck von den Anforderungen der Tour, was Länge, Steilheit und Kletterstellen anbelangt. Für Menschen, die im Lesen von Karten nicht so gut sind, kann das eine nützliche Ergänzung bei der Tourenplanung sein. Allerdings ist es kein Ersatz. Auch auf der Website von Mammut muss man erst einmal einen Haftungsausschluss für "Schäden und Folgeschäden der Verwendung dieser Plattform" bestätigen, bevor man sich auf virtuelle Tour begibt: Sie ersetze nicht die gründliche Touren-Vorbereitung, heißt es dort.

Die Überraschung der unerwarteten An- und Ausblicke ist natürlich passé, wenn man sich vorher die Besteigung in allen Einzelheiten ansieht. Ob aber nun virtuell oder ganz real, eines bleibt keinem Bergsteiger erspart: der Schock, wenn er am Gipfel der Zugspitze steht und sich zum Betonklotz der Bergstation mit den vielen Seilbahntouristen umdreht - oder wenn er die Müllhalde aus alten Zelten, Gasflaschen und Verpackungen am Südsattel des Everests sieht.

Informationen: Virtuelle Besteigung der Zugspitze: zugspitze360.com. Everest, Matterhorn und andere Berge: project360.mammut.ch

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