Buenos Aires und der Papst:Zweimal täglich kostenlos durch Franziskus' Leben

Papst Franziskus
(Foto: Claudio Peri/dpa)

Er hat keine Chance mehr, unbehelligt auf die Straße zu gehen: Papst Franziskus ist längst die größte Attraktion von Buenos Aires. Mit dem Bus kann man die Stationen seines Lebens abfahren - das tun vor allem die Einheimischen.

Von Peter Burghardt, Buenos Aires

Bis vor dreieinhalb Monaten spazierte und fuhr ein älterer Herr regelmäßig weitgehend unbehelligt durch Buenos Aires, der hier heute keinen Schritt mehr machen könnte, ohne Menschenaufläufe zu verursachen. Jorge Mario Bergoglio wohnte damals neben der Kathedrale im Herzen der argentinischen Hauptstadt, er war der Kardinal. Dann flog Bergoglio nach Rom und wurde am 13. März zum Papst gewählt. Jetzt nennt er sich Franziskus, auf Spanisch Francisco.

Den Argentiniern verschlug es kurz die Sprache, aber schnell wurde umso mehr geredet. Längst gibt es Scharen von Einheimischen, die den Pontifex vor seinem Amtswechsel in der U- Bahn getroffen haben wollen oder beim Haareschneiden. Er gilt - anders als sein deutscher Vorgänger Benedikt XVI. - als ausgesprochen leutselig. Schon bald entdeckte die Metropole ihre neue Attraktion. Deshalb gibt es diese Tour.

Der weiße Bus wartet an einem feuchtkalten Samstagnachmittag vor der Basílica San José de Flores. "Circuíto papal" steht auf einem gelben Aufkleber, "päpstliche Rundfahrt". Bis vor kurzem kutschierte das Fremdenverkehrsamt Touristen nur gegen Gebühr in Doppeldeckern an Ziele wie das Teatro Colón, das Stadion von Boca Juniors mit der Maradona-Statue oder den Friedhof Recoleta, wo Evita Perón ruht. Inzwischen geht es an Wochenenden und Feiertagen außerdem zweimal täglich kostenlos durch das Leben des nun berühmtesten Sohnes vom Rio de la Plata.

In die 50 Sitze sinken allerdings weniger Touristen, sondern hauptsächlich "porteños", Bewohner von Buenos Aires - die meisten von ihnen gläubig, weiblich und in etwa so alt wie der 76-jährige Franziskus. Ein paar jüngere Pilger sind auch an Bord und außer einem Deutschen zwei Brasilianer, bald wird der katholische Oberhirte Rio de Janeiro besuchen. Erst wirkt dies wie eine Kaffeefahrt, bei der Heizdecken verkauft werden. Doch die Route sieht 24 Stationen eines himmlischen Aufstiegs vor, es geht dreieinhalb Stunden lang durch neun Stadtteile. "Dies ist eine offene Geschichte", spricht Reiseleiter Daniel Vega ins Mikro, "sie geht ja gerade erst los."

Es beginnt also im Viertel Flores, da verirren sich Fremde sonst selten hin. Flache, meist einfache Häuser, untere Mittelklasse. Bergoglio kam hier 1936 zur Welt, seine Familie war aus dem Piemont eingewandert. Vega erzählt, dass der Dampfer, den die Bergoglios ursprünglich hatten nehmen wollen, vor Brasilien sank. Sie stiegen zum Glück erst auf das nächste Schiff, sonst gäbe es keinen argentinischen Franziskus. Seine Großmutter betrat den Hafen von Buenos Aires trotz Sommerhitze im Wintermantel, unter dem sie den Erlös aus dem Verkauf ihrer Konditorei versteckte. Die Basilika San José de Flores war für den Enkel dann entscheidend, in dem Tempel soll der 17-jährige Jorge seine Berufung gespürt haben.

Kontemplative Gemütlichkeit

Der Ort seiner Erweckung erhebt sich an der Avenida Rivadavia, die sich 35 Kilometer lang durch den Großraum Buenos Aires zieht. Die Straße ist eine Achse in Bergoglios Karriere. Zunächst erreicht man in einer Seitenstraße seinen Kindergarten der Barmherzigen Jungfrau und zwei Ecken weiter die aktuelle Version seines schlichten Elternhauses, Adresse: Membrillar 531.

Das Haus hat zwei Stockwerke, die Jalousien sind heruntergelassen. Im Innenhof: Grill, Zitronenbaum und Grapefruitbaum, aber das sieht man im Vorbeifahren hinter der Holztür nicht. Es zeigt sich nur eine Frau, die froh sein kann, dass die Kamerateams inzwischen verschwunden sind. Und an der Fassade aus marmoriertem Stein versichert eine Tafel: "In diesem Haus hat Papst Franziskus gelebt."

Fast alle Anwohner haben Reportern wochenlang berichtet, dass ihr Papst aus Flores ein außerordentlich netter, normaler, humorvoller, gebildeter und kluger Mann sei. Als Kind Fußballer an der Plazoleta Herminia Brumana, nachher Kettenraucher, später Verlust eines Lungenflügels. Vier Geschwister, von denen nur noch seine Schwester María Elena lebt und sagt, sie sei nun nicht mehr María Elena, sondern die Schwester des Papstes. Mittlerweile wird es abgesehen von diesen Reisegruppen an seinem Ursprung ruhiger, während der bescheidene Franziskus den Heiligen Stuhl aufräumt. Dafür klagen die Nachbarn daheim über Diebstähle.

Man passiert nun das Vikariat von Flores, wo Bergoglio 1992 Bischof wurde. Die Mauern schmückt sein Bild und das der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Dort wollte er sich demnächst zur Ruhe setzen, "aber gut, die Umstände wurden andere", sagt Conferéncier Vega und lacht. "El hombre propone y dios dispone", ruft eine Dame - der Mensch denkt, Gott lenkt.

Der Bus und der Vortrag schaukeln die Reisegruppe in kontemplative Gemütlichkeit. Draußen ziehen Pizzerien vorbei, Fruchtläden, Stundenhotels. Da ist die in die Jahre gekommen Schule, die Bergoglio zum Chemie-Techniker ausbildete. Sprüche auf Wänden gedenken den "desaparecidos", den Verschwundenen der Militärdiktatur. 30.000 Andersdenkende wurden zwischen 1976 und 1983 verschleppt und umgebracht. Bergoglios Rolle in jener Horrorzeit ist umstritten, doch bei diesem Ausflug kein Thema, seine konservative Ader auch nicht. Ausgelassen werden außerdem die Armenviertel, wo er bis vor kurzem Bedürftige betreute. Diese Villas sind zu eng für Busse. Und zu gefährlich.

"Ich bewundere alles an ihm"

Dafür werfen die Passagiere einen Blick auf das Gefängnis Devoto, Bergoglio besuchte dort Häftlinge. Im Wohnviertel Villa Devoto, mit 39 Meter Höhe der Gipfel von Buenos Aires, liegt auch das Seminar der Jesuiten, in das er mit 22 eintrat. Über dem Eingang hängen zerfledderte Fahnen Argentiniens und des Vatikans, himmelblau-weiß und gelb-weiß.

Der erste Zwischenstopp mit Aussteigen ereignet sich dann im Viertel Agronomía am Kloster de la Virgen desatanudos, von Maria Knotenlöserin. Eine Kopie des Ölgemäldes brachte Bergoglio vom Studium aus Augsburg mit, seitdem heißt es, Wallfahrer hätten drei Wünsche frei. "Daran glaubst du doch nicht", sagt eine Frau zu ihrem Gatten. Vega verteilt vor der Weiterfahrt Postkarten mit Franziskus und der Jungfrau.

Weitere Wunder ereigneten sich an den Etappenzielen Basílica de San Carlos y María Auxiliadora im Tango-Quartier Almagro, wo sich Vater und Mutter Bergoglio kennen lernten. Und nebenan, wo 1907 ein Salesianer den Fußballklub San Lorenzo gründete. Der heilige Erstligist vermied den Abstieg, als Vereinsmitglied Bergoglio Papst wurde, und bekam kürzlich sogar einen Titel aus Bergoglios Geburtsjahr 1936 zugesprochen. Ins Fegefeuer zweite Liga muss Independiente, genannt "die Teufel". "Que grande!", schreit einer - wie großartig!

Vorbei geht es an Uni und dem Obelisken (wie Bergoglio Jahrgang 1936) zum Finale vor der Kathedrale an der Plaza de Mayo. Gegenüber leuchtet der pink angestrahlte Präsidentschaftspalast Casa Rosada. Auf dem Programm stünden noch Bergoglios Kiosk und sein Friseur, aber beide haben schon geschlossen. Wenn sie geöffnet sind, dann schwärmt der Zeitungsmann, wie Franziskus 11 160 Kilometer entfernt aus dem Vatikan das Blatt La Nación abbestellte. "Im Ernst, ich bin Jorge Bergoglio, ich rufe dich aus Rom an." Und der Friseur erläutert, wie sie beim Frisieren über Gott und die Welt sprachen.

"Erster Lateinamerikaner als Papst, erster Argentinier, erster "porteño", erster Jesuit, erster Chemiker, erster Fan von San Lorenzo", schließt Daniel Vega mit heiserer Stimme. "Ich bewundere alles an ihm", raunt eine Mitreisende. "Ich habe Hunger", sagt eine andere, "ich könnte jetzt Pasta essen."

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