Bouldern in Spanien:Verrückt nach Felsen

Bouldern in Albarracín

Inmitten von Sandsteinfelsen und Wäldern liegt die kleine nordspanische Stadt Albarracín.

(Foto: Markus Ixmeier, boulderclassics.com)

Albarracín ist nicht nur Unesco-Welterbe und einer der schönsten Orte Spaniens, sondern auch eine Pilgerstätte für Kletterer. Unterwegs mit Boulder-Star Ivan Luengo.

Reportage von Nina Himmer, Albarracín

In Ruhe mit Ivan Luengo zu sprechen, ist schwer. Sobald er einen Fuß in den Wald setzt, scharen sich Boulderer um ihn: "Hast du einen Tipp, wie ich an diesen Griff komme?", "Bist du der aus dem Guidebook?", "Stimmt es, dass du barfuß bouldern kannst?" Jeder will etwas wissen oder kurz mit ihm klettern. Hier, zwischen den hochgewachsenen Pinienbäumen und den rostroten Sandsteinfelsen, ist der 37-Jährige eine Legende.

Einst waren Ivan und ein paar Freunde die Ersten, die nicht wegen der malerischen Altstadt nach Albarracín kamen. Stattdessen interessierte sich die Clique aus Madrid für die wild durcheinandergewürfelten Sandsteinfelsen in den umliegenden Wäldern. Des schroffen Granits ihrer Heimat überdrüssig, durchstreiften die Kletterer die Gegend - und trauten ihren Augen kaum. "Uns war sofort klar, dass wir etwas Einzigartiges gefunden hatten", erinnert sich Ivan Luengo, "etwas, das groß werden würde." Eine Ahnung, die sich knapp 14 Jahre später erfüllt hat. Albarracín ist für Spanien zu dem geworden, was Fontainebleau für Frankreich, Magic Wood für die Schweiz und Bishop für die USA sind: eine Pilgerstätte für Boulderer.

Bouldern ist jene Spielart des Kletterns, die ohne Sicherung auskommt und den Sport auf seine Essenz komprimiert: keine Bohrhaken im Fels, kein Seil am Mensch. Statt um Höhenmeter geht es um technisch anspruchsvolle, kraftintensive Bewegungen wenige Meter über dem Boden. Was als Variation einiger Outdoor-Freigeister begann, hat sich in den vergangenen Jahren zum Trendsport entwickelt.

Dieser boomt, in Spanien ebenso wie im Rest Europas. Hallen werden gebaut und die Zeiten, in denen Bouldern als Training für "richtige" Kletterer belächelt wurde, sind längst vorbei. Als eigenständige Disziplin findet Bouldern immer mehr Anhänger - von denen viele früher oder später genug haben von bunten Plastikgriffen und staubigen Hallen. Dann zieht es sie nach draußen an den echten Fels. Dorthin, wo die Natur sie an die Grenzen von Kraft und Körperbeherrschung bringt.

Aus aller Welt kommen sie nach Albarracín

In Albarracín haben 250 Millionen Jahre Erdgeschichte ihre Spuren in die roten Felsbrocken gefressen. Die Rillen, Kerben, Furchen, Leisten und Löcher sind perfekte Griffe und Tritte für die Kletterer. Der Sandstein, Rodeno genannt, nagt weniger brutal an den Händen als Granit oder Kalk, bietet aber trotzdem viel Halt. Aus aller Welt reisen sie deshalb hierher, um ihre Kräfte an Klassiker-Routen wie Cosmos, La Lagrima oder Techo don Pepo zu messen.

"Es ist verrückt, wie viele Besucher mittlerweile kommen", sagt Ivan. Natürlich kann er verstehen, was sie anzieht. Trotzdem irritiert es ihn manchmal: "Als ich angefangen habe, hat Bouldern in Spanien niemanden interessiert. Keiner hat davon Notiz genommen, dass ich in den schwierigsten Graden unterwegs war." Erst bei einem Besuch in Frankreich habe er erfahren, dass Bouldern eine eigene Sportart ist. Er hält kurz inne. "Für mich ist es kein Sport, sondern einfach mein Leben." Er sagt es ohne Pathos, fast mit einem Schulterzucken.

Dass viele nur herkommen, um besonders schwere Boulder abzuhaken, kann er nicht verstehen. "Bouldern ist mehr. Es reinigt das Ego, hat mit Persönlichkeit, Charakterbildung und Respekt vor der Natur zu tun." Er hat als Jugendlicher damit begonnen, nachdem er sich bei einem Kletterunfall Hüfte und Ellbogen zertrümmerte und danach nicht mehr am Seil klettern wollte. Doch aus der Notlösung wurde eine Leidenschaft.

Bouldern in Albarracín

"Für mich ist es kein Sport, sondern einfach mein Leben": Ivan Luengo

(Foto: Nina Himmer)

So ist es auch mit Albarracín. Nachdem Ivan das Gebiet in der Region Aragón entdeckt hatte, folgte ein großer Bruch in seinem Leben: Er schmiss seinen Job als Promi-Fotograf, verließ seine Verlobte und seine Heimatstadt Madrid und zog in das Tausend-Seelen-Dorf östlich von Madrid, gut 300 Kilometer von seinem alten Leben entfernt. Die ersten Monate hat er in den Wäldern verbracht, kletterbare Linien am Fels gesucht, in Höhlen geschlafen, Tiere und Pflanzen studiert und kleine Klumpen geschmolzenen Eisens gesammelt, aus denen die Römer einst Waffen schmiedeten.

Mittlerweile ist sein Leben etwas gediegener: Mit Freundin Rocia betreibt er einen Kletterladen im Ort, der direkt unter ihrer Wohnung liegt. Doch er verbringt nur wenig Zeit dort, feste Wände und Dächer passen nicht zu seiner Welt. Wann immer Ivan kann, schultert er seine Bouldermatte und läuft den kleinen Pfad zum Wald hinauf. "Es gibt in diesen Wäldern genug Herausforderungen für ein ganzes Kletterleben."

Römer, Araber, spanische Könige - alle haben ihre Spuren hinterlassen

Die andere Seite von Albarracín hat nichts mit Hornhaut, Fingerkraft und starkem Bizeps zu tun. Die um 970 n. Chr. von berberischen Muslimen in den Stein gemeißelte Wehrburg gilt als einer der schönsten Orte Spaniens. Wer einmal durch die schmalen Gassen zwischen den eng aneinander geschmiegten Häuschen gelaufen ist, versteht sofort, warum: Die Abgeschiedenheit des Ortes hat seine Vergangenheit bewahrt, die Epochen fließen an jeder Ecke ineinander.

Albarracín blickt auf eine bewegte Geschichte zurück: Im Herzen des von einer imposanten Mauer umzackten Stadtkerns haben unter anderem Römer, Araber und spanische Könige ihre Spuren hinterlassen. Neben einer Maurenburg, einem Bischofspalast aus dem 16. Jahrhundert und einem Wasserturm schraubt sich eine Kathedrale in die Höhe, dazwischen stehen Herrenhäuser aus Holz und Mörtel, Kirchen voller Renaissancekunst und ein 18 Kilometer langes Aquädukt, seinerzeit eines der aufwendigsten Bauprojekte der Römer in Spanien.

Albarracín wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das haben auch die spanische Regierung und die Unesco erkannt: Das Dorf steht nicht nur unter Denkmalschutz, sondern ist auch als Weltkulturerbe anerkannt. Spanische Touristen kommen seit Langem hierher, um Ruhe zu tanken oder durch die engen Gassen oder die weiten Wälder zu schlendern. Ausländer hingegen verirren sich nur selten nach Albarracín - es sei denn, sie sind verrückt nach Felsen.

"Die Uhren hier ticken anders", sagt Ivan Luengo, der gerne auf der Stadtmauer sitzt und ins Tal schaut. Von dort hat man einen schönen Blick auf den Guadalaviar-Fluss, in dessen Biegung sich Albarracín bettet. Dahinter erstrecken sich ockerfarbene Hügel, die in dichte Wälder übergehen und die Felsen beherbergen. Industrie gibt es nicht in Albarracín, die Menschen leben von der Land- und Forstwirtschaft und dem Tourismus. Einst zog es sie hierher, weil es reichlich Wild in den Wäldern und Forellen im Fluss gab. Noch heute zeugen kunstvolle Höhlenmalereien, die für die Region typische Wildwurst und schmiedeeiserne Picaportes - Türklopfer in Tierformen - davon, wie wichtig die Jagd einst war.

Boulderer und Jäger hätten beide die Wälder gern für sich

Mittlerweile sind die Wälder als Naturpark geschützt und die Jagd ist streng reglementiert. Manchmal geraten Boulderer und Jäger trotzdem aneinander - die einen wie die anderen hätten den Wald gerne für sich. Doch Ivan glaubt nicht, dass das Konsequenzen haben wird. "Mittlerweile kommen so viele junge Spanier hierher - das Gebiet ließe sich nicht mehr sperren." Er denkt, dass die Wirtschaftskrise seines Landes einen Teil dazu beigetragen hat. "Bouldern kostet nichts, gibt jungen Menschen eine Aufgabe und verschafft ihnen Erfolgserlebnisse."

Auch der Ort profitiert von seinen berühmten Felsen, die in zwei dicken Boulder-Führern verzeichnet und mit bis zu 8b- bewertet sind - damit ist die Schwierigkeitsskala des Boulderns nahezu ausgereizt. Obwohl die meisten Boulderer in Bussen auf den Parkplätzen im Wald wohnen, gehen sie doch im Ort einkaufen, tanken und essen - manche Restaurants geben ihnen sogar Rabatte. Vor allem in der Ferienzeit und an den Wochenenden kann es voll werden im Ort.

An diesen Tagen zieht Ivan weiter in den Wald hinein, den Bergkamm hinauf. "Dort gibt es unerschlossene Gebiete und Felsen, die noch niemand angefasst hat." Er wischt sich die Hände an seiner Jeans ab, pudrige weiße Striemen bleiben darauf zurück. Mit dem Magnesium versuchen die Boulderer, den Grip am Fels zu erhöhen. Ivan legt die Finger auf zwei winzige Kerben im Fels, erhöht prüfend den Druck. Ein Projekt, das er sich selbst ausgesucht hat, die Linie ist nirgendwo verzeichnet. Es ist kaum vorstellbar, dass sich ein Mensch an diesen wenigen Millimetern emporziehen kann, doch Ivan ist zuversichtlich. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Boulderer mehrere Wochen oder sogar Monate mit ihren Kletterprojekten kämpfen. Doch bevor Ivan einen ernsthaften Versuch machen kann, kommt eine Gruppe Boulderer aus Finnland dazwischen. "Bist du der aus dem Führer?", wollen sie wissen. Ob er ihnen vielleicht kurz mit diesem Griff helfen könne?

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