Berliner Kleingärten (SZ):Bleibe, wo du gießt!

Dem Tüchtigen gehört das Beet: Eine Erkundungsreise durch deutsche Kleingärten, dem Urlaubsparadies der Daheimgebliebenen.

Karin Kails

(SZ vom 14.08.2001) - Zu Jockels Füßen liegt Bo und döst wie sein Herrchen in der Mittagssonne. Die Drogen sind alle und Jockels Party-Gäste endlich nach Hause gegangen. Die Übriggebliebenen sind zu erschöpft, um die Idylle in den Kleingärten der Eisenbahnlandwirte im Berliner Westen noch zu stören.

Berliner Kleingärten (SZ): Gärtner, bleib bei deinen Leisten.

Gärtner, bleib bei deinen Leisten.

(Foto: Foto: Archiv)

Einer liegt wie ein vergessener Schirm auf dem Bett in der Laubenecke und schläft seinen Rausch aus. Und der andere isst noch schnell die Bowle-Früchte auf und erklärt dabei, wie man schnell zu einer guten Dröhnung kommen kann: "Du legst Pfirsiche drei Tage lang in Amaretto, schüttest siebzigprozentigen Rum darüber und Baby, ich sag dir, dann hast du mal so richtig Spaß." Den hat Jockel gestern auch gehabt. Nur so ist es zu erklären, dass sich der Dornröschenschlaf der Kleingarten-Anlage heute Mittag auf seinen Garten ausdehnen kann.

Normalerweise wirkt Jockels Garten in der Anlage so deplatziert wie ein Jumbo-Jet in einem Meditationszentrum. Seine Nachbarn wünschen sich wahrscheinlich, sie könnten diese ausnahmsweise ruhige Szene als Endlosvideo sehen: Jockel, wie er döst oder konzentriert Kunst-Wurf-Angeln übt.

Die S-Bahn, die hinter Jockels Laube in die Haltestelle Westkreuz ein- und ausfährt, nimmt er schon seit Jahren nicht mehr wahr: "Och, in den Gärten, die drüben an der Fernbahn liegen, dort ist es laut. Aber die Bahn hier, die höre ich gar nicht", sagt Jockel und hält inne: "Oh, da ist wieder eine neue Vogelstimme, dieser Garten ist wirklich ein Vogelparadies."

Sein Paradies ist es auch. Fast sein ganzes Leben hat er in der Anlage verbracht: als Kind im Garten seiner Eltern, als Erwachsener im eigenen Garten. Obwohl sich Jockel alle Mühe gibt, nicht so ein Gartenzwerg wie die anderen zu werden, ist er längst einer. Jeder Tag ohne Garten macht Jockel ein schlechtes Gewissen: "Es gibt so viel zu tun, und ich habe ja keine Frau, die mir hilft", sagt Jockel. In Urlaub gefahren ist er "schon ewig nicht mehr". Urlaub, Reisen, Meer und Berge, all das braucht Jockel nicht. Schließlich hat er ja den Garten, wo es schön ist und er sich erholen kann.

Genau wie die Spießer, die Jockel insgeheim verachtet, sucht er sich seine heile Welt fürs Wochenende. Das eint heute die Kleingärtner von Berlin bis Leipzig. Früher waren die Gärten in den Industriegebieten weniger erholsam: In ihnen pflanzten Arbeiter und Arme Gemüse, um überleben zu können. Teilweise wohnten sie sogar dort in Hütten.

Städte, Kirchen und gemeinnützige Organisationen stellten diese Parzellen gegen eine geringe Pacht zur Verfügung. Spekulanten nutzten die Situation und zwangen die Laubenpieper in Knebelverträge. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Gärten nicht mehr zur Ernährung gebraucht. Damit die Kleingärtner nicht in den Besitz eines öffentlich geförderten Wochenendhäuschens kamen, schreibt seit 1983 das Kleingartengesetz vor: Ein Drittel für die Nutzpflanzen, das zweite für Wiese und Zierde und das dritte für sonstige Bebauung.

Mahagoni und anderes Gerümpel

Gerümpel ist in dem Gesetz nicht vorgesehen. Deswegen bekommt Jockel regelmäßig Ärger mit seinen Gartennachbarn. "Nur weil die anderen ihre Gartenzwerge pflegen, ist das hier noch lange kein Gerümpel!" sagt Jockel und verweist stolz auf sein rostiges, selbst restauriertes Motorrad, das an der Laubendecke hängt. Der Vorstand droht mit Garten-Entzug. Jockel aber sorgt sich nicht, denn je größer die handwerklichen Fähigkeiten des Gartennutzer, desto größer ist die Toleranz des Vorstands.

Wenn jemand so wenig handwerkliches Talent hat wie Philipp, der "Exot" aus der Biergasse, ist das Verständnis für seinen Naturgarten gering. "Warum soll ich das Unkraut bearbeiten, es kommt doch sowieso wieder", sagt Philipp und qualifiziert sich damit als klassischer Außenseiter seines Kleingartenvereins. Er will sich die Freizeit nicht von seinem Garten diktieren lassen, und wenn er in Urlaub fahren möchte, dann lässt er den Garten - zum Entsetzten seiner Nachbarn - auch mal zwei Wochen allein.

"Ein Garten ist schließlich keine Lebensaufgabe, der ist zum Genießen da." Und nur dafür hat Philipp ihn gepachtet: für den täglichen Kurzurlaub vor der Haustür, zum Frühstücken im Sonnenschein, zum Grillen an lauen Sommerabenden. Fast so, als hätte er ein Häuschen im Grünen, nur dass es mitten in der Stadt steht. Billiger als ein Häuschen ist die Parzelle allemal: Die durch das Kleingartengesetz geregelte Pacht für die 300Quadratmeter beträgt rund 300 Mark im Jahr.

Für dieses kleine Stadt-Ferien-Glück nimmt Philipp den Ärger mit den Spießern in Kauf. Leute wie er fallen in fast jedem der etwa 15.000 deutschen Kleingartenvereine auf.

Jüngere Pächter leben oft eine Garten-Philosophie, die nicht in das Weltbild der alteingesessenen Laubenpieper passt. Der Pflanzenwart eines anderen Berliner Vereins erzählt stolz, wie es ihnen gelungen ist, eine solche Pächterin rauszuekeln: "Die war ja so eine Grüne, die ihren Garten total hat verlottern lassen."

Sein getrimmter Golfrasen ist jedenfalls vorbildlich, nicht einmal ein welkes Blütenblatt hat dort eine Chance, länger als zehn Minuten liegen zu bleiben. Angeblich soll er komplizierte Rasenteile sogar mit einer Nagelschere pflegen.

"Die sind ja so verbohrt. In deren Augen ist alles Natürliche jenseits vom Rollrasen ja schon Unkraut, und die Pflanzen wollen sie immer gleich in diese Betongräber einfassen", schimpft Philipp. Um sich zu wehren, wird er selbst zum bürokratischen Pedanten. Dass seine Süßkartoffeln ein Gemüse sind, hat er sich jetzt amtlich bestätigen und wetterfest einlaminieren lassen: "Damit kann ich bei der nächsten Gartenbegehung beweisen, dass ich sogar mehr als das vorgeschriebene Drittel meines Gartens für Gemüse nutze". Das "Unkraut" bleibt.

Das ärgert Laubenpieper Horst, schließlich liegt sein Garten nur zwei Parzellen weiter. Er muss mit dieser ständigen Bedrohung leben, vor der ihn nicht einmal sein Schäferhund Tell von Frankengold - genannt Karli - beschützen kann: Die Unkraut-Samen könnten auch in seinen vorbildlichen Garten geweht werden. Bei dem Kleingartenfreund nebenan soll das Gestrüpp ja schon gewurzelt haben, sagt Horst. Den zuständigen Gruppenleiter des Vereins hat er vorsichtshalber davon in Kenntnis gesetzt.

Seinen Nutzgarten pflegt Horst seit 28 Jahren vorbildlich. Für jedes Gemüse hat er den passenden Tipp. Beispielsweise für die Tomate: "Wenn mir eine Tomate besonders gut schmeckt, spucke ich die Kerne aus, wasche sie ab und ziehe daraus die Staude. Da kann man sich wenigstens sicher sein, dass die Tomaten gut werden." Abgesehen von seiner wenig populären Tomaten-Technik, ist Horst heute der Prototyp des deutschen Kleingartenfreunds.

Mehr als eine Million Kleingärten gibt es in Deutschland. Knapp die Hälfte aller Gartenfreunde ist zwischen 55 und 65 Jahre alt. Studien belegen, dass der Kleingarten "zu einem sehr attraktiven Tätigkeitsfeld im Rentenalter" geworden ist.

Duisburgs ältester Kleingartenverein "Gut Grün Bergbau" im Thyssen-geprägten Viertel Duisburg-Obermarxloh bietet seinen Mitgliedern zusätzlich zur Gartenarbeit ein Rundum-Bespaßungsprogramm: Jeden Tag trifft sich eine Gruppe zum Basteln, Stricken und zum Fußball spielen oder gucken im Vereinshaus bei Wirtin Gitti, die bei ganz wichtigen Spielen Vereins-Freibier ausschenkt.

"Bevor man in Rente geht, muss man sich ein Hobby suchen. Ich hatte schon als Kind ein besonderes Interesse für die Natur", sagt Wilfried, der Vorsitzende. Er und seine Frau verbringen im Sommer jeden Tag und viele Nächte in der "Hütte" - wie die Laube hier im Ruhrpott heißt.

"Das ist die schönste Zeit, nur manchmal fahre ich kurz in die Wohnung, um mich vom Garten zu erholen", sagt Gisela. Die Arbeit im Garten sei zwar anstrengend, halte aber fit. Bestes Beispiel: Herbert. Mit seinen 92 Jahren ist er vier Jahre älter als die Gartenanlage. Als er sein erstes Grabeland pachtete, war das alles andere als eine erholsame Freizeitbeschäftigung: "Als ich 1936 geheiratet habe, brauchte ich dringend ein Stück Erde, um die Familie irgendwie durchzubringen", sagt Herbert.

Das Interesse an den Paradiesen in Großstadtnähe schwindet. Besonders in Berlin und in den neuen Bundesländern ist die Nachfrage gesunken. Viele Familien ziehen lieber gleich in ein eigenes Häuschen ins Grüne. Im Vergleich dazu sind die Wartelisten im Ruhrpott auch heute noch lang. 14 Bewerber warten auf eine freie Parzelle in "Gut Grün Bergbau". Die Assoziation des Kleingartens mit dem Ruhrpott ist also nicht so abwegig: Bochum kann selbst von Grönemeyer nicht ohne die Taube in der Laube besungen werden, und wenn das Polizeipräsidium Dortmund einen Sommerkrimi veröffentlicht, spielt der Mord im Rosenbeet einer Kleingartenanlage - wo auch sonst?

Leipzig, Hauptstadt der Gartenfreunde

Doch die wirklichen Wurzeln der Gartenfreunde liegen gleich in zweifacher Hinsicht in Leipzig, der Hauptstadt der Gartenfreunde. Hier gibt es die erste Kleingartenanlage und den ersten Kleingartenverein, was zum Glück nicht das gleiche ist, denn sonst könnten sich heute nicht zwei Vereine damit brüsten, der Urknall der Kleingartenbewegung gewesen zu sein. Die erste Anlage war 1932 der Armengarten "Johannistal" , das Modell aller Armen- und Arbeitergärten in Deutschland.

Obwohl das Konzept des ersten Kleingartenvereins weniger verbreitet ist, wurde er viel berühmter - als Verein "Dr.Schreber". Gründer war nicht der Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber, der heute wegen seiner stramm-autoritären Erziehungsschriften umstritten ist. Der war längst tot, als der Lehrer Ernst Innocenz Hausschild 1864 befand, dass Kinder eine sinnvolle Beschäftigung an der frischen Luft gebrauchen könnten. Weil Hausschild diese Forderung in Dr. Schrebers Schriften gelesen hatte, benannte er seine Gärten nach diesem.

Garten hinter Glas

Die Kinder verloren bald das Interesse an ihren pädagogischen Beeten, und den Eltern gefiel das abgelegte Spielzeug der Kinder so gut, dass sie es zum eigenen Freizeitspaß machten. Die meist gutbürgerlichen Schrebergärtner, zu denen unter anderem Brockhaus-Verleger und reiche Juweliere gehörten, stifteten ein repräsentatives Vereinshaus, in dem heute das Deutsche Kleingärtnermuseum und die Kneipe "Schrebers" untergebracht sind. Vom einstigen proletarischen Überlebensgarten zeugen heute nur noch Informationstafeln. Die spießig-kleinbürgerliche Gartenvariante hat sich durchgesetzt.

In Glasvitrinen gehütet wird die Kleingarten-Geschichte erst seit der Wende, zu DDR-Zeiten moderte das Dr.Schreber-Vereinshaus vor sich hin. Denn das bürgerliche Kleingarten-Idyll war Walter Ulbricht von Anfang an suspekt. Deswegen griff er persönlich ein, als sich die DDR-Kleingärtner 1948 zu einer Vereinigung zusammenschließen wollten. Gegründet wurde sie 1959 aber doch, denn offizielle Organisationen kann der Staat besser kontrollieren. Immerhin hatte die DDR mit mehr als 2,6 Millionen Wochenendgrundstücken und mehr als 85.000 Kleingärten die größte Kleingartendichte der Welt.

"Hier hatte man wenigstens seine Ruhe vor der Politik", erzählt Wolfgang, ein Kleingärtner aus Leipzig. Dass sich in den Kleingärten Oppositionelle getroffen haben sollen, kann Wolfgang nicht glauben: "Bei uns nicht. Wissen sie, die Leute, die da montags auf die Straße gegangen sind, die haben das nicht hier im Garten ausgeheckt. Das waren solche Katastrophen-Touristen wie die in Genua."Politik passt nicht ins Paradies. Früher war natürlich die Welt besser: Damals seien die Kleingärtner eine Gemeinschaft gewesen. Jeder habe für den anderen irgendwas irgendwie organisieren können. "Heute geht man in den Baumarkt, da braucht man einander gar nicht mehr."

Nicht alle trauern der Gemeinschaft so hinterher wie Wolfgang. Viele ärgern sich vor allem, dass den Kleingärtnern seit der Wende ein gutes Geschäft entgeht: Die DDR kaufte den Kleingärtnern Obst und Gemüse ab, und die Kleingärtner konnten eben dieses Obst im Laden billiger wieder zurückkaufen. Wolfgangs gleichnamiger Kleingartenfreund glaubt vielmehr, dass die Vereine jetzt erst recht eine Renaissance erleben könnten: "Es gibt so viele, die jetzt arbeitslos sind und von der Politik die Schnauze voll haben. Die finden wenigstens im Schrebergarten noch eine Rückzugsmöglichkeit, eine kleine, heile Welt."

INFORMATIONEN:

Der Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e.V. ist der Dachverband aller deutschen Kleingartenvereine, Steinerstraße 52,53225 Bonn, Tel.:0228/4730 36.

Das Deutsche Kleingärtnermuseum in Leipzig ist Dienstag bis Donnerstag von 10 bis 16 Uhr geöffnet, Aachener Straße 7, Tel: 0341/2111194.

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