Berghütte Capanna Regina Margherita:Auf schmalem Grat

Rings um die Berghütte Capanna Regina Margherita gähnt der Abgrund, ein Fehltritt hätte fatale Folgen. Doch es liegt nicht allein am Standort des höchstgelegenen Schutzhauses der Alpen, dass viele Alpinisten hier Kopfschmerzen bekommen.

Helmut Luther

Dieser Beitrag ist erschienen am 22. September 2011. Wir haben die Übernachtungspreise und Kontaktdaten aktualisiert. Darüber hinaus ist der Text unverändert.

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Die Capanna Regina Margherita auf dem Gipfel der Signalkuppe liegt auf 4559 Metern Höhe und ist die höchst gelegene Hütte der Alpen.

(Foto: Giorgio Tiraboschi)

An Schlaf ist nicht zu denken - was nicht an den üblichen Geräuschen im Matratzenlager eines Schutzhauses liegt. Auch nicht am Gewitter, das seit Stunden draußen vor der Berghütte tobt. Ein heftiger Wind rüttelt am kupfernen Hüttendach, pfeift durch Ritzen im Gebälk und jagt Eiskristalle gegen die Fensterscheiben. Durch den pechschwarzen Nachthimmel zucken Blitze. Unter rasch folgenden Donnerschlägen und orkanartigen Böen scheint die Schutzhütte zu wanken.

Das alles ließe sich mit Stöpseln in den Ohren wegstecken. Aber nicht der Sturm, der im eigenen Inneren wütet: bohrende Kopfschmerzen, das Herz hämmert wie verrückt. Eingewickelt in schwere Wolldecken erhebt man sich unter Panikattacken von seinem Nachtlager, die Lunge lechzt nach Sauerstoff. Es war wohl ein Fehler, zuerst mit der Seilbahn vom Talboden in Alagna bis zur Punta Indren auf knapp 3300 Meter hinaufzugondeln, anschließend in einem Rutsch mehr als 1000 Höhenmeter bis zur Signalkuppe weiterzuwandern, um dort in der Capanna Regina Margherita eine lausige Nacht zu verbringen.

Symptome der Höhenkrankheit

Der Hüttenwirt Giuliano Masoni kennt sich aus mit den Anzeichen einer Höhenkrankheit. "Aber keine Angst, gefährlich würde es erst, wenn noch starker Husten dazu käme, dann herrscht akute Ödemgefahr." Gut die Hälfte der Alpinisten, die die Capanna Regina Margherita erreichen, ohne sich vorher genügend akklimatisiert zu haben, zeigen ähnliche Symptome, schätzt Masoni.

Der schlanke, groß gewachsene Enddreißiger mit einem schwarzen Zehntagebart weiß, was in solchen Fällen zu tun ist. Vor zehn Jahren übernahm er die Schutzhütte als Pächter von der Sektion Varallo des Italienischen Alpenvereines - als Voraussetzung musste er einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen. Meist genüge der Griff zur Notapotheke, wenn Gäste über Beschwerden klagen, erzählt Giuliano Masoni. "Aber zwei bis drei Mal pro Saison muss der Hubschrauber einfliegen."

Auf allen Seiten gähnt der Abgrund

Das ist an diesem Morgen zum Glück nicht nötig. Mit zerknittertem Gesicht stehen die Übernachtungsgäste vor dem Hütteneingang und staunen über das, was Wind und Wetter während der vergangenen Nacht angerichtet haben. Wie mit Zuckerguss verziert kleben an der Außenwand des zweigeschossigen Gebäudes bizarre Muster aus Eis.

Ähnlich einem Adlerhorst thront die Capanna Regina Margherita auf einem schmalen Grat. Ein Fehltritt hätte hier fatale Folgen, auf allen Seiten gähnt der Abgrund. Noch immer weht ein kalter Wind, aber alle Wolken sind fortgeblasen. Der Blick schweift über ein Gipfelmeer mit einem Dutzend schneebedeckter Viertausender. Im Nordwesten ragt die Silhouette des Matterhorns empor, zum Greifen nahe schimmert die Dufourspitze, mit 4634 Metern der höchste Gipfel der Schweiz. Es ist zehn Uhr, tief unten, über den von Spalten zerklüfteten Lysgletscher stapft eine Bergsteigerkarawane bergauf, ameisenklein. Der Mensch ist in der lebensfeindlichen Eisregion nur Eindringling.

Gehüllt in ein Kleid aus Kupfer

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Am Morgen nach dem Sturm: Schnee hat die Hütte wie mit Zuckerguss überzogen.

(Foto: Giorgio Tiraboschi)

Und doch drängte es ihn schon lange, diese fremde Welt zu erobern, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Als der Geistliche Giovanni Gnifetti aus Alagna die Signalkuppe nach drei gescheiterten Versuchen im August 1842 endlich bezwang, packte er seine wissenschaftlichen Instrumente aus. Er hielt den Luftdruck fest, notierte die gemessenen Temperaturen und ballerte mit einer eigens mitgeschleppten Pistole herum, weil er die Wirkung des Echos studieren wollte. Damit begründete der fromme Forscher eine Tradition, die der Italienische Alpenverein als Inhaber der Capanna Regina Margherita bis heute fortführt.

Im Jahr 1893 wurde hier eine zehn Meter lange und knapp vier Meter breite Hütte aus Lärchenholz errichtet. Sie war wie das 1980 eingeweihte Nachfolgegebäude zum Schutz gegen Blitze vollständig in ein Kupferkleid gehüllt. Wie oft in der Geschichte des Alpinismus' spielte das Schielen nach Rekorden bei der Standortwahl eine wichtige Rolle. Außerdem war Eile geboten, denn man wollte den Franzosen zuvorkommen, die am Mont Blanc eine alpine Unterkunft planten.

Das höchste Schutzhaus der Alpen

Die Italiener gingen aus diesem Wettlauf als Sieger hervor, noch heute ist die Capanna das höchste Schutzhaus der Alpen. Von Anfang an mit einem Observatorium ausgestattet, dient die Berghütte zudem als Wetterstation und Forschungslabor, um Erkenntnisse über die Höhenkrankheit zu gewinnen.

Im Obergeschoss zeigt der Hüttenwirt Giuliano Masoni zwei Räume, vollgestopft mit medizinischen Geräten. Doch die Sonden, Fläschchen und Behälter aus Edelstahl stecken alle in ihren Verpackungen. Heuer fänden auf der Capanna Regina Margherita leider keine wissenschaftlichen Untersuchungen statt, sagt Masoni. Die weltweite Konkurrenz sei inzwischen groß. "In Nepal gibt es ein Forschungszentrum auf 5000 Metern. Dort ist es wohl kostengünstiger", erklärt der Pächter das nachlassende Interesse der Wissenschaftler.

Für Sensationen ist der spektakuläre Bau hingegen immer gut. "Künstler wollen ihre Werke ausstellen, und voriges Jahr machte ein französischer Chirurg den Vorschlag, hier eine Schönheitsoperation durchzuführen."

Unter Alpinisten ist der Stützpunkt ohnehin beliebt. Viele hegen den Traum, einmal im Leben einen Viertausender zu erklimmen. Dass am Gipfel der Signalkuppe, mit 4559 Metern die vierthöchste Erhebung im Monte-Rosa-Massiv, eine bewirtschaftete Hütte steht, lässt das Unternehmen relativ einfach erscheinen. Etwa 10 000 Gäste pro Jahr besuchten die Capanna, ein Drittel bleibe über Nacht, erzählt Giuliano Masoni. Viele besteigen am folgenden Tag die Zumstein- oder die Dufourspitze.

Ablösung nach zehn Tagen

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Ähnlich einem Adlerhorst tront die Hütte auf einem schmalen Grat. Zum Schutz gegen Blitze ist sie vollständig von Kupfer umhüllt.

(Foto: Giorgio Tiraboschi)

Für einige bildet die Schutzhütte eine Etappe während der Umrundung des Monte-Rosa-Massivs, die fünf oder sechs Tage beansprucht. Auch bei Skitourengehern erfreut sich die Capanna zunehmender Beliebtheit, allerdings steht von Mitte September bis Anfang Juni nur der spartanisch eingerichtete Winterraum zur Verfügung. Im Sommer finden in den winzigen, holzvertäfelten Kammern 76 Personen Platz. Manchmal wollen dort aber weit mehr erschöpfte Gipfelstürmer nächtigen. "Sie liegen dann im Aufenthaltsraum wie die Ölsardinen unter signierten Fotografien von Reinhold Messner und Riccardo Cassin", sagt Masoni und grinst dabei ein wenig spöttisch.

Vor einigen Jahren wurde ein neuer Dieselgenerator zur Stromerzeugung angeschafft, dessen Abgase zum Beheizen genutzt werden. "Oft wird es hier richtig heiß", sagt der Pächter. In naher Zukunft möchte man auf Biodiesel umsteigen und ganz auf Plastikgeschirr verzichten, da nicht nur sämtliche Lebensmittel per Hubschrauber hinauftransportiert, sondern auch Abfälle und Fäkalien auf diese Weise entsorgt werden müssen.

Ruhephase im Tal nach zehn Tagen

Seinen Arbeitsplatz hält der Hüttenwirt dennoch für den schönsten der Welt. "Wir logieren hier über allem, höher ist nur noch der Himmel." An klaren Nächten könnten er und seine beiden Gehilfen die Lichter von Turin erkennen. Doch die große Stadt, der Trubel, würde ihm überhaupt nicht fehlen. Er habe hier einen Computer mit Internetanschluss, abends würde er manchmal Radio hören. "Wenn man um halb fünf aufstehen muss, um Frühstück zu machen, dann den ganzen Tag im Einsatz ist, hat man kein Bedürfnis mehr nach Unterhaltung."

Nach etwa zehn Tagen wird das dreiköpfige Team ohnehin abgelöst, um nach einer Ruhephase im Tal wieder zum nächsten Turnus anzutreten: Ein zu langer Aufenthalt so hoch am Berg kann auch bei bester Akklimatisierung zu Gesundheitsschäden führen.

Und dann gibt es ja noch ein anderes Problem auf der Capanna Regina Margherita: kein fließendes Wasser. Jeder Tropfen muss mühsam aus Schnee gewonnen werden, der mit Plastikkübeln geholt und auf dem Gasherd in einem großen Metallkessel geschmolzen wird. Da bleibt für Körperpflege wenig übrig. Wieder unten im Dorf, wisse er schon, was seine Freundin als erstes sagen wird: "Du riechst nach Berg", meint Giuliano Masoni. Er würde das jedoch immer als liebevolles Kompliment auffassen.

Informationen

Berghütte Capanna Regina Margherita: Von Alagna aus führt über die Punta Indren der Aufstieg zur Capanna Regina Margherita.

Von Alagna aus führt über die Punta Indren der Aufstieg zur Capanna Regina Margherita.

(Foto: SZ-Grafik)

Anreise: Mit der Bahn über Mailand/Turin bis Varallo Sesia, von dort mit dem Bus nach Alagna, www.bahn.de. www.fsitaliane.it

Zustieg: Der kürzeste Zustieg führt in fünf bis sechs Stunden von Punta Indren über die Gnifettihütte. Notwendig ist eine hochalpine Ausrüstung mit Seil, Steigeisen und Pickel.

Unterkunft: Übernachtung mit Frühstück 60 Euro, Halbpension 90 Euro pro Person. Von Mitte September bis Mitte Mai steht nur der Winterraum zur Verfügung, Tel.: 0039/348/1415490, info@rifugimonterosa.it

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