Berge:Licht und Liebe

Lesezeit: 3 min

Giovanni Segantinis Gemälde haben das Engadin berühmt gemacht. Nun kann man seinen Spuren folgen.

Von Dominik Prantl

Die Kunst hatte noch nie einen leichten Stand in den Bergen, das war schon vor der Annexion der Alpen durch die Spaß- und Spielgesellschaft so. "Ich schreibe dir mit Bleistift, weil ich kein Tintenfass habe", kritzelte der erst in der Pubertät alphabetisierte Maler Giovanni Segantini anno 1889 an seine Frau Bice Bugatti. Den Brief an einen Freund beendete er mit dem Hinweis: "Brauche dringend Geld." Aber einmal Künstler, immer Künstler, koste es was es wolle, und so kämpfte Segantini, von dem keiner ahnte, wie berühmt er werden sollte, weiter daran, Licht ins romantisierte Dunkel der Berge zu bekommen.

Ein gutes Jahrhundert nach seinem Tod hat Segantinis lange brotlose Kunst eine neue Dimension erhalten: Er gilt nicht nur als Erneuerer der Alpenmalerei, sondern funktioniert auch als eine Art Botschafter Graubündens, wo er die letzten fünf Jahre seines Lebens verbrachte. Das ist einigermaßen erstaunlich für einen, der 1858 im damals zu Österreich gehörenden Arco geboren wurde und den niemand so recht als Sohn akzeptieren wollte. Die fürsorgliche Mutter starb früh, der Vater reichte ihn weiter nach Mailand an eine Tochter aus früherer Ehe. Die soll ihren Stiefbruder so sehr gehasst haben, dass sie den Entzug seiner österreichischen Staatsbürgerschaft einfädelte. Es existiert aber auch eine andere Version, wonach sich der rebellische Segantini wegen seiner Scheu vor dem Wehrdienst um jeden Pass brachte. Jedenfalls blieb Segantini Zeit seines Lebens staatenlos. Mit zwölf steckte man ihn in eine Erziehungsanstalt, wo sein Talent erkannt wurde, später schrieb er sich in die Kunstakademie von Mailand ein, lernte Bice Bugatti kennen, mit der er vier Kinder bekam und 1886 ins Oberengadin zog.

"Mittag in den Alpen" aus dem Jahr 1891 ist eines der bekanntesten Gemälde Giovanni Segantinis. (Foto: imago)

Längst haben die Schweizer ihren Segantini adoptiert; ihr Verhältnis zu ihm ist noch inniger als das der Italiener, obwohl auch die ihm eine Dauerausstellung in Arco widmeten. Im Engadin trifft man auf Japaner, die einmal um den halben Erdball geflogen sind, damit sie in Realität einen Blick auf die Landschaft werfen können, die Segantini gemalt hat. Sein Atelier neben seinem einstigen Wohnhaus in Maloja steht Besuchern ebenso offen wie das Museum unweit des Ortskerns von St. Moritz. Dazu bietet die touristische Speisekarte diverse Segantini-Menüs und -Snacks für jeden Geschmack. Es gibt einen zweistündigen Spaziergang auf den Spuren des Malers durch und rund um Maloja, eine viertägige Etappenwanderung von Savognin über Pontresina nach Samedan, und oben auf dem Berg steht die Segantinihütte für den Tagesausflug mit Fernblick.

Erst kürzlich ist in den deutschen Kinos der Film "Giovanni Segantini - Magie des Lichts" des Schweizer Regisseurs Christian Labhart angelaufen, eine Dokumentation, die in ihrer elegischen Erzählform wie das Kontrastprogramm zum hyperaktiven Konsumtourismus wirkt. Und weil die Tourismusorganisation Engadin/St. Moritz und das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Sachen Werbemanöver kaum weniger kreativ sind als Segantini beim Festhalten der Sonnenstrahlen, sind sie prompt eine Partnerschaft mit den Filmvermarktern eingegangen. Man wolle "mit dieser Initiative Kulturfreunde und Berginteressierte in Deutschland gezielt erreichen", heißt es bei Engadin-Tourismus. In der Tat wirken viele von Segantinis späten Werken wie Auftragsarbeiten der Werbeverantwortlichen, frei nach dem Slogan: "Diese Berge. Diese Seen. Dieses Licht!"

(Foto: SZ-Karte)

Natürlich war der Vater von vier Kindern seiner Zeit und damit jedem Werbe-Dreisatz der Tourismusmoderne voraus. Aber als einer, der mit der Kunst auch mal eine Mission für seine Wahlheimat verband, sah er sich durchaus. "Unser Engadin muss in der Welt mehr geschätzt und bekannt werden", erklärte er einmal den Bürgern in Samedan. Für die Weltausstellung 1900 in Paris, diesem "Rendezvous der Intelligenz und des Reichtums", wollte er deshalb malen, "ein gewaltiges Panorama, das die herrlichsten und hervorragendsten Punkte unseres Oberen Engadins darstellen und davon eine künstlerische Zusammenfassung sein soll". Mit Kollegen wie Giovanni Giacometti, Cuno Amiet und Ferdinand Hodler wollte er in einem riesigen Pavillon ein fast 4000 Quadratmeter großes Gemälde der Alpenwelt erstellen. Weil sich dies nicht finanzieren ließ, plante Segantini eine siebenteilige Alpensymphonie, von der er nur das berühmte Alpentriptychon verwirklichte. Die drei Werke "La Vita", "La Natura", "La Morte" - "Werden", "Sein", "Vergehen" - sind im Segantini-Museum in St. Moritz zu sehen.

Doch noch viel schöner ist es, Segantinis Welt in der Umgebung zu erkunden. Der Spaziergang durch Maloja erschließt das Wahrzeichen des Orts, den herrschaftlichen Torre Belvedere. Segantini wollte den Turm zur Künstlerresidenz ausweiten. Der Weg führt über den Friedhof, auf dem der Maler begraben liegt, zur Chiesa Bianca, wo man möglicherweise auf Gioconda Leykauf-Segantini trifft. Die Enkelin des großen Malers sitzt im Garten ihres Sommerhäuschens neben der Kirche. Der Garten wirkt wie ein Kunstprojekt der Natur, Pflanzen wuchern schulterhoch, zwei Bäume verwachsen mit einer Hängematte. Leykauf-Segantini sagt dann Dinge wie: "Ich denke, er hat eine sehr archaische Landschaft vorgefunden." Oder: "Wenn man seine Kunst auf wenige Worte reduzieren würde, dann wären es Licht und Liebe."

Werden. Sein. Vergehen. Zum Schluss also hinauf zur wunderbaren Segantinihütte am Schafberg, wo der Künstler am 28. September 1899 starb, wahrscheinlich an einem Blinddarm-Durchbruch. Als der Tod Giovanni Segantini schon fest im Griff hatte, soll er noch einmal einen Satz von so kitschiger Schönheit gesagt haben, dass er jedem alpinen Tourismusverband zum Leitspruch gereichen würde: "Voglio vedere le mie montagne" - "Ich möchte meine Berge sehen."

© SZ vom 17.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: