Beinahe-Zusammenstöße in den USA:Gefährliche Nähe

In den USA ist die Zahl der Fälle dramatisch gestiegen, in denen der Sicherheitsabstand zwischen Flugzeugen nicht eingehalten wurde. Ein Grund dafür: Nicht alle Lotsen halten sich an die Richtlinien - und geben dies an ihre Nachfolger weiter.

Katja Schnitzler

Kurz vor sieben Uhr morgens ist am Flughafen von Minneapolis, USA, Schichtwechsel im Tower - das kostet hundert Menschen beinahe das Leben. Während im September vergangenen Jahres noch der Lotse aus der Frühschicht seinen Kollegen einwies, stießen fast eine Frachtmaschine und ein Airbus 320 von US Airways mit 95 Passagieren an Bord zusammen.

Die beiden Flugzeuge sollten zeitgleich von den parallelen Startbahnen abheben, dann beide nach links schwenken - doch die Frachtmaschine flog geradeaus weiter. Aber nicht der Lotse warnte die Piloten, die die jeweils andere Maschine wegen tiefhängender Wolken nicht sehen konnten. Im letzten Moment schlug das Warngerät an Bord des Airbus Alarm, der Pilot zog den Passagierflieger abrupt nach oben - und hörte den Lärm des Propellerfliegers direkt unter sich. Die Ermittler der Federal Aviation Administration (FAA) gehen davon aus, dass die Flugzeuge nur noch höchstens 15 Meter voneinander entfernt waren, zitiert die Washington Post aus den Untersuchungsunterlagen. In der Vertikalen muss zwischen Flugzeugen eigentlich 300 Meter Raum bleiben.

Im Landeanflug ist ein Abstand in der Horizontalen von knapp sechs Kilometern, sonst von bis zu 15 Kilometern vorgeschrieben. In den USA häufen sich nun Fälle, in denen dieser Sicherheitsabstand zu gering war: Offiziell wurden im vergangenen Jahr 51 Prozent mehr Unterschreitungen als im Jahr zuvor gemeldet, nämlich 1870. Davon waren 44 wirklich kritische Beinahe-Kollisionen.

In einem internen Papier, das der Washington Post vorliegt, beklagt der Leiter der zuständigen Luftkontrolle von Washington D.C., dass Richtlinien nach Gutdünken mal mehr, mal weniger umgesetzt würden - und dieses alltägliche Fehlverhalten auch an junge Fluglotsen weitergegeben werde, die von älteren Lotsen eingewiesen werden. In den USA steht ein Generationenwechsel an, da die zahlreichen in den 1980er Jahren eingestellten Flugüberwacher nun in Rente gehen.

Mit dem neuen "Air Traffic Safety Action Program" soll die Sicherheit in der Luft unter anderem erhöht werden, indem Lotsen übergeordnete Stellen über Fehler informieren können, ohne Strafen befürchten zu müssen. Zugleich soll das Radar der Luftkontrolle mit moderner GPS-Technik ergänzt werden - doch dies ist laut der Washington Post wegen hoher Kosten ins Stocken geraten.

Noch eine weitere Gefahr hat die FAA demnach ausgemacht: In Tests haben die Notfallwarngeräte an Bord den Kontakt zu den Flugzeugen in der Umgebung verloren - zum Teil mehr als 40 Sekunden lang. Bis der Fehler behoben wird, können sich die Airlines aber laut Washington Post bis zu vier Jahre lang Zeit lassen. Der Deutschen Flugsicherung (DFS) sind derartige Probleme mit dem Notfallalarm noch nicht gemeldet worden.

Auch über Deutschland kommt es vor, dass der Sicherheitsabstand zwischen den Flugzeugen unterschritten wird.

Flugsicherheit in Deutschland

258 Mal war dies im Jahr 2009 der Fall, weniger oft als im Jahr zuvor, allerdings war in der Krisenzeit die Zahl der Flüge gesunken. Dramatisch nahe waren sich die Maschinen aber nur selten gekommen: Sieben Fälle wurden als höchst kritisch eingestuft, im Jahr 1995 waren es noch 23, im Jahr 1985 sogar 48 Beinahe-Zusammenstöße.

"Wir haben in Deutschland nicht nur Starts und Landungen, sondern auch sehr viele Überflüge und damit einen der verkehrsreichsten Lufträume weltweit", erläutert eine DFS-Sprecherin. Mit besserer Technik würden inzwischen selbst minimale Unterschreitungen der Sicherheitsabstände registriert - und diese kämen ob des hohen Flugverkehrs immer wieder vor.

Der Luftraum über Deutschland gelte dennoch als sehr sicher, "so dass auch andere Länder ihre Lotsen von uns ausbilden lassen". Eineinhalb Jahre lernt der angehende Fluglotse erst an der DFS-Akademie und übt in Simulatoren, dann trainiert er weitere eineinhalb Jahre in dem Sektor des Luftraums, in dem er später arbeiten soll. Wer danach wechseln will, muss sich stets wieder in den neuen Sektor mit seinen speziellen Anforderungen einarbeiten.

Den Anfängern steht immer ein erfahrener Lotse zur Seite, der notfalls eingreift, "aber nicht jeder Lotse darf ausbilden, sondern nur speziell dafür trainierte nach einem festen Lehrkatalog".

Selbst unter strenger Aufsicht kann es jedoch zu höchst gefährlichen Situationen kommen, wie in der Schweiz im Juni 2009: Nördlich des Flughafens Zürich waren fast zwei Passagiermaschinen zusammengestoßen, weil eine Flugverkehrsleiterin in der Ausbildung und ihr Coach aneinander vorbeiredeten: Die Lotsin hatte einem Air-France-Flugzeug starken Sinkflug befohlen - doch hatte sie übersehen, dass es damit auf Kollisionskurs mit einer Ryanair-Maschine ging.

Der Ausbilder hatte die Order der angehenden Lotsin nicht gehört und befahl nun seinerseits den Air-France-Piloten steilen Sinkflug, erhielt keine Antwort - und wies das zweite Flugzeug an, steil nach unten auszuweichen, so dass die Flieger auf Konfliktkurs blieben, doch glücklicherweise dennoch aneinander vorbeiflogen. "Diese schwer nachvollziehbare Entscheidung muss der in kürzester Zeit entstandenen Stressituation zugeschrieben werden", zitiert die Neue Zürcher Zeitung aus dem Bericht des Büros für Flugunfalluntersuchungen.

Um selbst in solch gefährlichen Situationen einen klaren Kopf zu behalten, müssen Fluglotsen einige Voraussetzungen erfüllen: Stressresistenz, die Fähigkeit zum Multitasking und zum vorausschauenden Planen, Teamfähigkeit und räumliches Vorstellungsvermögen - und ein großes Verantwortungsbewusstsein. "Diese Kombination zu finden, ist sehr schwierig", so die Sprecherin der Deutschen Flugsicherung. Diese rekrutiert jedes Jahr die DFS etwa 180 Lotsen, die sie aus 6000 Bewerbern auswählt.

Die ausgebildeten Fluglotsen würden mit den hohen Anforderungen ihres Berufes in Deutschland nicht allein gelassen: Nach traumatischen Ereignissen wie Beinahe-Zusammenstößen, aber auch, wenn sich der Lotse dem Stress nicht mehr gewachsen fühlt, kann er sich an psychologisch geschulte Kollegen wenden - wenn gewünscht anonym. "Die Angst der Lotsen, gleich als Risikofaktor zu gelten, ist groß", berichtet die DFS-Sprecherin. Die geschulten Kollegen könnten dann helfen, wieder die dringend benötigte Sicherheit bei der Arbeit im Kontrollzentrum zu gewinnen.

Darüberhinaus existiert wie nun auch in den USA ein vertrauliches Meldesystem, um mögliche Sicherheitslücken in den Kontrollzentren und im Arbeitsalltag der Lotsen aufzudecken. Damit diese auch beim Schichtwechsel alle Flugzeuge noch auf dem Schirm haben.

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