Baltikum:Das unsichtbare Dorf

Einst Schlachtfeld, dann Sperrgebiet, heute ein Ort für Gäste: Estlands Inseln ziehen Kurgäste und Rucksackreisende gleichermaßen an.

Michael Nienaber

Auf den ersten Blick ist es nicht zu sehen. Zwischen Birken und Kiefern wuchert dichtes Wacholdergestrüpp. Umwachsen von Gräsern und Glockenblumen schlummern Findlinge im warmen Sonnenlicht. Durch die Luft schwirren Insekten. Vom Himmel schreien Möwen herab. Ein kleiner Sandweg führt durch den Wald zum Meer und zu den Wurzeln von Toivo Ast. Hier am südwestlichen Zipfel der estnischen Insel Saaremaa, soll es einmal gestanden haben: das Dorf Hindu.

Estland; Nienaber

Stille und Ruhe prägen das abendliche Bad in der Ostsee.

(Foto: Foto: Nienaber)

"Das Haus meiner Großeltern muss ungefähr hier gewesen sein", sagt Toivo Ast und zeigt in die Wildnis. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, wie einige ältere Bäume eine deutliche Linie bilden. Offenbar die frühere Grundstücksgrenze. Vereinzelt zeugen Steinbrocken von einem Fundament. Toivo Ast erzählt von einer Kirche und einer Mühle. Nichts davon ist mehr da. Das Dorf ist unsichtbar. Deutlich zu sehen sind nur die Schützengräben.

Leidvolle Geschichte

Saaremaa ist die größte der rund 1500 Inseln Estlands. Im Zweiten Weltkrieg war Saaremaa schwer umkämpft: Nachdem im Molotov-Ribbentrop-Pakt Russen und Deutsche Europa in zwei Einflusssphären unter sich aufgeteilt hatten, fiel die Rote Armee nach Kriegsausbruch in die baltischen Staaten ein. Innerhalb eines Jahres wurden mehr als 10.000 Esten ermordet oder deportiert.

Als die Wehrmacht die Sowjetunion angriff, betrachteten viele Balten die einmarschierenden Nazis als Befreier. Doch auch unter deutscher Besatzung starben mehr als 5000 Esten in Arbeits- und Vernichtungslagern.

Das unsichtbare Dorf

1944 eroberten die Sowjets Estland zurück. Während der Rückzugsgefechte auf Saaremaa und der Nachbarinsel Hiiumaa verloren abermals Tausende ihr Leben. Auf dem Soldatenfriedhof der Inselhauptstadt Kuressaare liegen heute Esten neben Russen und Deutschen.

Estland; Nienaber

Die Windmühlen zeugen von der landwirtschaftlich geprägten Vergangenheit der estnischen Inseln.

(Foto: Foto: Nienaber)

Die bessere Geschichte

¸¸Für die Militärs war Estland stets ein gutes Land, nur für die Esten war es das lange Zeit nicht", sagt Toivo Ast mit einem Lächeln. Dann entschuldigt er sich, dass er schon wieder über Krieg und Politik spricht. Er wolle eigentlich nicht so viel über das Vergangene reden.

Denn die Gegenwart und noch mehr die Zukunft scheinen für Estland eine viel bessere Geschichte erzählen zu wollen. Der rasche Wandel zur Marktwirtschaft, der Nato-Beitritt und die Rückkehr in die europäische Staatengemeinschaft sind da nur die großen neben den vielen kleinen Kapiteln, die zusammen die Geschichte eines gewaltigen Umbruchs erzählen.

Jeden Tag scheint sich Estland neu zu finden und bisweilen auch zu erfinden. Mit einer jungen Regierung etwa, die durch E-Government eine papierlose Verwaltung verwirklicht und jedem Bürger per Gesetz freien Zugang zum Internet ermöglicht. Oder mit einem Korruptionsminister in Brüssel, der als Vizepräsident der EU-Kommission den neuen Beitrittsländern eine stärkere Stimme geben will. Mit der Hauptstadt Tallinn, deren aufregendes Nachtleben junge Menschen aus ganz Europa anzieht. Oder mit den Kurhotels und Schlammbädern, die nun, bitteschön, viele freundliche, vor allem aber zahlungskräftige Touristen nach Saaremaa locken mögen.

Wenig Arbeit, viel Diskriminierung

Denn Arbeit gibt es hier draußen wenig. Immer mehr Esten verlassen die Inseln, um in den Städten des Festlands eine Beschäftigung zu suchen. Jeder Dritte wohnt bereits in Tallinn, in dessen Trabantenstädten die einst aus anderen Sowjetrepubliken zwangsumgesiedelten Industriearbeiter heute in Armut leben. Die Diskriminierung der russischen Minderheit war eines der großen Hindernisse Estlands vor der Aufnahme in die Europäische Union.

¸¸Jahrzehnte mussten wir mit angezogener Handbremse fahren", erklärt Toivo Ast während der Autofahrt im silbernen Mercedes. Draußen rauscht die estnische Insellandschaft vorbei. Aus den Lautsprechern klingt leise Musik. Die deutschen Fischerchöre singen über das weite Meer, das Schicksal und die Liebe.

Ab und zu taucht in der Ferne eine Siedlung bunter Holzhäuser auf. Die einen sind rot, die anderen gelb gestrichen. Die Fensterrahmen strahlen im matten Weiß. Gleich muss Bullerbü kommen. Astrid Lindgren scheint hier so viel näher zu sein als Stalin oder Lenin.

Tatsächlich haben auch schon Schweden und Dänen die estnischen Inseln besetzt und ihre kulturellen Spuren hinterlassen. Noch früher zogen deutsche Kreuzritter durch die baltischen Staaten. Sie errichteten steinerne Bischofsburgen und verbreiteten ihren Glauben. Esten und Deutsche verbinde also nicht nur die jüngere Geschichte, meint Toivo Ast.

Das unsichtbare Dorf

Unter zwei Flaschen Wodka ging nichts

Den Stillstand hat Toivo Ast lange erlebt. Er wuchs in der Sowjetzeit auf und organisierte aus Moskau Ersatzteile für die Maschinen seiner Produktionsgenossenschaft. Als Manager des Mangels lernte er schnell, mit den russischen Kollegen zu verhandeln. Unter zwei Flaschen Wodka ging da meist gar nichts. ¸¸Das war zwar nicht gut für die Leber, aber gut für die Kolchose." Die estnischen Inseln selbst waren in dieser Zeit militärisches Sperrgebiet - wegen der Fluchtmöglichkeit ins nah gelegene Skandinavien.

Im jüngst eröffneten Besatzungsmuseum von Tallinn steht eines dieser Holzruderboote, mit denen einigen Esten anfangs noch die Flucht in den Westen gelang. Dann wurden die Inseln abgeriegelt. Kein Fremder durfte mehr ohne Sondergenehmigung Saaremaa oder Hiiumaa besuchen.

Doch der Bann von damals ist der Segen von heute: Während auf dem Festland die sowjetische Industrialisierung Mensch und Natur unterjochte, blieben Estlands Inseln nahezu unberührt.

Tiefe Wälder, kleine Krater

Nun ziehen Saaremaa und Hiiumaa, aber auch die kleineren Nachbarinseln wie Muhu und Vormsi immer mehr Kururlauber und Rucksackreisende an. Sie entdecken die tiefen Wälder und wilden Blumenwiesen, die einsamen Strände und alten Leuchttürme, die hölzernen Windmühlen und kleinen Meteoritenkrater.

Und natürlich die Schlammbäder. Schon im 19. Jahrhundert fanden die Esten heraus, wie wohltuend und heilend ihr Gemisch aus Mineralwasser und Küstenmatsch auf den menschlichen Körper wirken kann. Aus ganz Russland und Skandinavien pilgerten geschwächte Adelige und kranke Kaufleute in die estnischen Kurorte, um sich ausgiebig im Schlamm zu räkeln und es sich gut gehen zu lassen.

An die lukrative Tradition knüpfen die Inselbewohner nun an. Zwischen Yachthafen und Bischofsburg haben in Kuressaare mehrere Spa- und Kurhotels eröffnet. Sie bieten Schlammbäder, Massagen und diverse weitere Therapien an.

Den Erholungsurlaub am stillen Meer leistet sich vor allem die neue Oberschicht Estlands: Die jungen Unternehmer jetten von Tallinn auf die Insel - manchmal nur fürs Wochenende. Der Flug nach Kuressaare dauert gerade mal eine halbe Stunde. Ansonsten sind die Inseln nur mit der Autofähre zu erreichen. Irgendwann soll eine Brücke die Insel mit dem Festland verbinden.

Das unsichtbare Dorf

Hoffnungen ans Ausland

Aus dem Ausland kommen bisher vor allem skandinavische Gäste, die sich zu den deutlich niedrigeren Preisen massieren und kurieren lassen. Die großen Kreuzfahrtschiffe mit Briten und Amerikanern schippern an Saaremaa bislang vorbei, weil sie nicht anlegen können. Ein tieferes Hafenbecken, das zunächst von der regionalen Grünen Partei blockiert wurde, kann nun doch im Norden der Insel ausgehoben werden.

Die Bedenken der Umweltschützer versteht Toivo Ast nicht. Er freut sich über jeden Besucher und über einige noch ein bisschen mehr: Anfang der 1990er hatte er zu Hindu recherchiert und Dokumente über das Dorf seiner Eltern zusammengetragen. Mit Briefen und Fotografien, die er sich teilweise auch aus Deutschland zuschicken ließ, rekonstruierte er die damalige Dorfgemeinschaft und spürte einige der Nachfahren auf. Die Hindu-Nachkommen leben heute verstreut in Estland, Österreich, Frankreich und Deutschland. Ein Ehepaar hat es bis nach New Jersey verschlagen.

Helme von gefallenen Soldaten

Einmal im Jahr lädt Toivo Ast sie zu einem Sommerfest ins unsichtbare Dorf ein. Es kommen nicht immer alle. Denen, die kommen, zeigt er dann die versteckten Baumlinien, die überwucherten Fundamente und auch sein kleines Denkmal. In einem Schützengraben im Wald hatte Toivo Ast Helme gefallener Soldaten gefunden. Er arrangierte sie zu einem Friedensmahnmal. In einem der Helme ist noch das Einschussloch zu sehen.

In Kuressaare schlendern derweilen die Urlauber durch den Schlossgarten und trinken im Kurhaus Kaffee. Auf dem Markt verkaufen alte Damen frisch geschnittene Blumen und je nach Jahreszeit Kirschen, Blaubeeren und Pfifferlinge. Vor der Feuerwache hüpfen Kinder auf dem Gehweg.

Die Mädchen schmeißen Steinchen auf vorgemalte Kästchen und springen auf ihnen umher. Sie spielen ¸¸Himmel und Hölle" - allerdings in einer leicht abgewandelten Form. Im untersten Feld steht das Wort ¸¸Eesti". Die Kinder hüpfen los, springen über die Zahlen dem obersten Kasten entgegen, wo umringt von gelben Sternen das zweite Wort leuchtet: ¸¸Euroopa".

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