Ballermann am Berg:"Butzi, Butzi, gemma Betti, Betti!"

Massen im Hochgebirge: Mehr Lifte, mehr Kunstschnee, größere Skigebiete, mehr Gaudi, Bier, Lärm und Musik: Zwei Millionen Gäste pro Winter feiern in Sölden eine Party im Schnee.

Titus Arnu

Auf der Gampe-Alm brechen sich drei Schwestern fast die Zungen. Es ist drei Uhr nachmittags, die Terrasse ist voller Après-Ski-Gäste, und die Sonne versinkt gerade spektakulär hinter dem Gaislachkogel. Es riecht nach Bier, Glühwein und Apfelstrudel. Katharina, Christine und Veronika Schicho stimmen den Rehgehege-Song an. Der Refrain geht so: "Rehgehegewegepflegeschrägesägesong all night long!"

Die Schicho-Schwestern nennen sich "Dornrosen", sie wurden von der Marketing-Abteilung des Ötztaler Tourismusbüros dafür angeheuert, eine Saison lang immer wieder den Rehgehegesong auf Almen, an Schirmbars und in Après-Ski-Buden zu trällern, damit der "offizielle Sölden-Song 2010/11" zu einem Hammer-Hütten-Kracher wird, so wie "Anton aus Tirol", "Hölle, Hölle, Hölle" oder "Schifoan".

Das ist eher unwahrscheinlich, denn selbst im nüchternen Zustand würde es kaum einer schaffen, den Zungenbrecher-Song unfallfrei mitzugröhlen. Macht nix, noch ein Schnapserl, und jetzt alle zusammen: "A Reh is no Bock, a Bock no Reh, jetzt übersetz ma diesen Song ins Englischeeee!" Juchhe. Die russischen, holländischen und tschechischen Touristen an den Nachbartischen prosten sich zu und sind begeistert von dem fidelen Trio.

Willkommen in Sölden, dem "Hotspot der Alpen" (Eigenwerbung). Hier erscheint einem alles lustiger, größer, wilder als in anderen Skigebieten. Während tiefer gelegene Orte mit Schneemangel zu kämpfen haben, sind hier 150 Pistenkilometer präpariert; der Großteil des Gebiets liegt oberhalb der Baumgrenze. Sölden ist ein perfekt durchorganisiertes Massen-Vergnügungszentrum, vom Abholautomaten für die im Internet bestellten Lifttickets über den offiziellen Sölden-Song bis zur allwöchentlichen Sölden-Party mit Livemusik in der "Fun-Zone" am Giggijoch. Die Lifte auf dem Rettenbach- und Tiefenbachgletscher laufen von Mitte September bis Mitte Mai.

Ob die Zahl der Skifahrer aktuell steigt oder stagniert, können die Fachleute nicht beantworten; eine entsprechende Untersuchung der Sporthochschule Köln wird Ende Januar veröffentlicht. Gleichwohl setzen Sölden und viele andere Alpen-Orte auf den Boom in den Tourismuszentren - trotz Klimawandels und Gletscherschmelze. Denn in Österreich hängt jeder zehnte Arbeitsplatz vom Tourismus ab, und auch in der Schweiz leben Zehntausende von ihren Gästen und dem Schnee.

Weil aber der altmodische Skifahrer, dem es vor allem um den Sport geht, möglicherweise die Nase voll hat vom zunehmenden Halligalli im Hochgebirge, rüsten sich die Wintersportgebiete für neue Zielgruppen - coole Snowboarder, reiche Russen, hippe Jugend-Cliquen. An Sölden lässt sich diese Entwicklung beispielhaft beobachten.

"Bierhimml" statt Schafzucht

Die ganze Region hat sich im Lauf der vergangenen 50 Jahre von einem abgelegenen, bitterarmen Hochtal in eine riesige "Fun-Zone" verwandelt. So wie Ischgl hat sich Sölden einen Ruf als wilde Party-Hochburg erarbeitet, die einschlägigen Spaß- und Saufzentren nennen sich Bierhimml, Blabla oder Hasenhütte.

Früher verdienten die Menschen hier mühsam ihr Geld mit Schafzucht und Käseherstellung, nun kommen Massen von Touristen aus der ganzen Welt. Vor allem bei Osteuropäern wird der "Hotspot" immer beliebter. Mehr als zwei Millionen Übernachtungen pro Jahr werden in Sölden gezählt, genauso viele wie in Salzburg, nur Wien verzeichnet mehr Besucher. Die Gemeinde hat 3900 Einwohner.

Fast jeder von ihnen hat mit dem Tourismus zu tun. Die meisten Einheimischen sind für den weiteren Ausbau des Skigebietes, vereinzelt werden aber auch kritische Stimmen laut.

Eine Lift-Verbindung zum Gletscherskigebiet im benachbarten Pitztal sei bereits "angedacht", sagt Jakob Falkner, Marketingleiter der Söldener Bergbahnen. Neue Seilbahnen über noch unberührte Gletscher? In Tirol offenbar kein Problem, die entsprechenden Naturschutzgesetze werden zur Zeit "evaluiert", heißt es flott. Der österreichische und der deutsche Alpenverein haben Protest gegen das Projekt eingelegt und 40.000 Unterschriften gesammelt.

"Im Ötztal, wo das höchste Dörfchen Europas liegen soll, hoffe ich, wieder hoffen zu können", notierte der für Bergromantik anfällige schwäbische Schriftsteller Max Eyth im Jahr 1888, "es zieht doch alles nach oben, wenn es hier unten zu toll wird." Mittlerweile haben einige Einwohner aber das Gefühl, dass es eher oben zu toll wird.

Die ersten Gästebetten des Ötztals waren im Jahr 1926 sechs Strohlager in Hochgurgl, heutzutage gibt es Fünf-Sterne-Hotels mit Penthouse-Suiten. Seit 1948 der erste Sessellift in Betrieb ging, wurde das Tal nach und nach in ein luxuriös ausgestattetes Ski-Industriegebiet umfunktioniert. Bauland kostet so viel wie in der Frankfurter Innenstadt. 40 Sportläden existieren im Ort, eine absurde Zahl.

Mit der Rolltreppe zur Seilbahn

"Ich würde ein paar Sportgeschäfte abreißen lassen," sagt ein Mädchen aus Sölden in der Videoinstallation "Vielstimmig", die im "Erbe Kulturraum" der Raiffeisenbank zu sehen ist. Diese selbstkritische Ausstellung lässt auch Skeptiker zu Wort kommen, die einen Total-Ausverkauf des Tals befürchten. "Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde hier alles auf den Kopf gestellt", sagt einer von ihnen, "die Entwicklung ging vielleicht zu schnell."

"Sölden spielt jetzt in der Champions League", sagt Dominik Linser, Marketingleiter des neu eröffneten Hotels Bergland, "und damit das so bleibt, müssen wir weiter investieren." Linser war früher Bar-Chef im legendären "Ötzi-Keller", wo DJ Ötzi senior auflegte und DJ Ötzi junior mit "Anton aus Tirol" groß rauskam. Linser weiß, dass man kaum leichter Geld verdienen kann als mit Après-Ski, aber er findet, dass Sölden neue Ideen braucht, wie man den Tourismus qualitativ verändert.

Das überlegt man sich auch bei der Liftgesellschaft. "Hauptthema für den Gast ist der Komfort," sagt Walter Siegele, Geschäftsführer der Söldener Bergbahnen. Rolltreppen führen vom Parkplatz zum Einstieg der Seilbahn. Warteschlangen gibt es nicht, denn die neue Gaislachkogelbahn hat eine Förderleistung von 3600 Skifahrern pro Stunde - mehr als jede andere Bahn dieses Typs weltweit.

34 Liftanlagen können theoretisch maximal 72.000 Personen pro Stunde hinauf transportieren. Die Skifahrer-Dichte sei dennoch nicht so hoch wie andernorts, erklärt Siegele, der Durchschnitts-Wert liege bei 50 Skifahrern pro Hektar, in Sölden aber bei 35 - weil das Gebiet so weitläufig ist.

"Technisch sind wir noch lange nicht am Limit", sagt Seilbahner Siegele, "aber der Gast braucht ja auch Ruhephasen." Es ist aber gar nicht so einfach, ein ruhiges Plätzchen in der turbulenten "Fun Zone" zu finden. Die Gipfelplattform des Gaislachkogels, von der aus man bis nach Italien sieht, ist für eine Firmenveranstaltung gesperrt. Am Tiefenbachferner rasen monströse Sport-Coupés von BMW auf einer gewalzten Schneefläche im Kreis herum - das nennt sich Winterfahrtraining und macht ziemlich viel Lärm.

Mit dem neuen Zentrum-Shuttle, einem im Fachjargon "People Mover" genannten Schrägaufzug, geht es gegen Abend zurück in die Ortsmitte. Die Kabine summt sanft bergab, eine vollautomatische "Niveau-Regelung" gleicht das Gefälle der Strecke aus. Unten wird an der Schirmbar, im Bierhimml, im Irish Pub und in den Table-Dance-Bars Mirage und Rodelhütte munter weitergebechert.

Die "Dornrosen" sind jetzt auch ganz unten angekommen, in der Großraum-Disco Bierhimml singen sie wieder ihren unaussprechlichen Song. Die Leute klatschen und tanzen, egal, wie gaga der Text ist: "Butzi, Butzi, Butzi, gemma heimi, heimi, heimi, gemma Betti, Betti, Betti!"

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