Avignon in Frankreich:Wenn eine ganze Stadt zur Bühne wird

Theater total in der Provence: Immer im Juli, zur Festivalzeit, verschwimmen in Avignon Fiktion und Realität zu einer großen Komödie.

Von Stefan Fischer

Eine ganze Stadt als Bühne: Schon die Päpste haben Avignon wie ein großes Theater bespielt, als sie im 14. Jahrhundert von der Stadt an der Rhône aus ihren Kirchenstaat regiert haben. Der trutzige Papstpalast, die vielen Klöster und Kirchen, die Plätze davor: Dort haben sie ihr großes Schauspiel aufführen lassen, ihr Welterklärungstheater - eine gekonnte Mischung aus raffinierter Illusion und realer Machtdemonstration. Nachlesen kann man das schön und süffig bei Francesco Petrarca, dem dieser Zauber von Herzen zuwider war.

Heute sind an die Stelle der Kirchenmänner weltliche Schauspieler, Regisseure und Narren getreten, die zumindest während des Festival d'Avignon für drei Wochen im Juli die Stadt innerhalb der mittelalterlichen Mauern zur Bühne machen. Wiederum waren es fremde Herren, voran der Theaterregisseur Jean Vilar, die 1947 die Stadt okkupiert haben, diesmal kamen sie aus Paris und nicht aus Rom. Vilar hat das Festival d'Avignon gegründet. Die Idee dahinter: Wenn das Pariser Theaterpublikum in die Ferien ans Mittelmeer reist, muss ihnen das Theater, müssen ihnen die Schauspieler hinterher. Das Festival wurde schnell ein großer Erfolg, auch weil Jean Vilar frühzeitig das touristische Potenzial der Kultur genutzt hat. Hart gesottene Liebhaber besuchen es, die nicht einmal in der Sommerpause ohne Theater sein wollen und von denen etliche die Gelegenheit nutzen, innerhalb weniger Tage ein halbes Dutzend Aufführungen und mehr zu besuchen; aber auch viele Menschen, die sich in den Ferien einmal solch ein Event gönnen.

Zu dem theatralen Tollhaus, in das sich Avignon inzwischen im Juli stets verwandelt, wurde die Stadt spätestens ab 1966, als sich neben dem ursprünglichen In- noch das Off-Festival etabliert hat: Anfangs Hunderte, inzwischen mehr als tausend Inszenierungen der freien Theaterszene werden hier aufgeführt. In Kleinsttheatern, Hinterhöfen und Kellern, in Garagen, Ladengeschäften und sogar unter den steinernen Bögen des Pont Edouard Daladier, der Brücke, die über die beiden Arme der Rhône führt.

Der frühere Intendant Bernard Faivre d'Arcier bezeichnet das Festival d'Avignon gerne als "Lokomotive, an die sich das Off-Festival mit seinen vielen Waggons dranhängt". Auf diese Waggons wiederum springen Straßenmusikanten, Jongleure, Pantomimen auf. Und so entkommt man derzeit dem Theater nicht, wenn man in Avignon ist. Selbst wenn man keine der Aufführungen besucht.

Sehr gut beobachten lässt sich das um den Papstpalast herum, der auch in der Gegenwart das Zentrum des Trubels ist: In dem größeren der beiden Innenhöfe, dem Cour d'Honneur, findet die Eröffnungspremiere des Festivals statt und dann fast jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit eine Aufführung. Tagsüber gehört der Platz davor Clowns und Sängern, Breakdancern und Puppenspielern. Sie sind weder Teil des In- noch des Off-Festivals, sie sind einfach da, suchen sich auf der Straße ein Publikum, sei es hier oder auf der Place de l'Horloge oder in der Rue de la Bonneterie, und nehmen ein, was ihnen die Menschen in ihre Hüte spendieren.

Die Off-Ensembles hingegen wollen Eintrittskarten verkaufen. So wie die fünf jungen Belgier der Compagnie Akro Percu. Sie trommeln im wahrsten Sinne des Worts für ihre Produktion, eine Percussions-Nummer. Das heißt, gerade machen sie Pause, im Schatten eines Hauses an der Rückseite des Papstpalastes gleich gegenüber des Théâtre Rouge Gorge, in dem sie am Abend auftreten werden.

Zur Ruhe kommt die Stadt nur in den frühen Morgenstunden

"Wir sind im Vorteil", sagt Adélaïde Dandoy aus dem Quintett, "denn wir haben Bierkisten dabei." Die sind zwar leer, aber sie taugen als Trommeln, und jetzt, in der Pause, auch als Hocker. Vor dem Théâtre Rouge Gorge stehen gerade viele Menschen Schlange, die Karten möchten für eine andere musikalische Aufführung. Aber diese Leute kommen nicht von selbst. Die freien Gruppen müssen um sie werben. "Nur Handzettel verteilen reicht nicht", sagt Dandoy. Sie und die vier Jungs von Akro Percu trommeln.

Andere singen oder spielen Mini-Szenen von Molière und Beckett. Viele kostümieren sich aufwendig, andere ziehen sich aus, cruisen mit Retro-Motorrädern durch die Gassen oder tragen ihre Requisiten spazieren, etwa einen Sarg. Hauptsache auffallen. "Avignon ist ein großes Schaufenster", sagt Adélaïde Dandoy: Das Off-Festival ist auch eine Art Theatermesse. In Frankreich gibt es keine Stadttheater wie in Deutschland. So reisen etliche Kulturdezernenten nach Avignon und wählen dort Theaterproduktionen freier Gruppen für ihre Kulturzentren aus.

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Gemeinsam bauen die Theaterleute auch an einer gigantischen Kulisse: Die gesamte Innenstadt ist mit den Plakaten für ihre Aufführungen zugehängt. Hauswände, Absperrgitter, Laternenmasten, Mülleimer werden zu Litfaßsäulen. Angel, die ihren Nachnamen nicht nennen will, weil es immer wieder auch Ärger gibt mit Leuten, die keine Plakate an ihre Balkone gebunden bekommen möchten, verdient damit ihr Geld: Gemeinsam mit einem Kollegen plakatiert sie im Auftrag von mehr als 60 Produktionen. Und weil die Pappen immer wieder abgerissen oder überhängt werden, sind die beiden das gesamte Festival über im Einsatz.

Zur Ruhe kommt die Stadt nur in den frühen Morgenstunden. Sobald die Cafés und Restaurants öffnen, werden sie von Theaterleuten frei Haus mit Papiertischdecken beliefert, auf denen die Spielpläne einzelner Off-Theater abgedruckt sind. Vor zehn Uhr vormittags bereits beginnen die ersten Aufführungen, die letzten starten kurz vor Mitternacht. Es gibt Jahre, in denen kann man drei verschiedene Inszenierungen desselben Stückes sehen. Nicht zuletzt diese Allgegenwart des Theaters - räumlich wie zeitlich - macht das Festival in Avignon besonders im Vergleich zu den meisten anderen der inzwischen kaum noch zu zählenden sommerlichen Kulturevents in Europa. Wer nichts ahnend als Tagestourist in die Stadt kommt, wird sofort aufgesogen von diesem Schauspiel.

Spricht man mit Bewohnern, so sind manche auch gehörig genervt davon, wie laut und überlaufen ihre Stadt im Juli ist. Doch Avignon profitiert massiv von dem Festival, voran die Gastronomie und Hotellerie, aber auch die vielen Läden machen gute Geschäfte. Sehr präsent ist die Vereinigung der Rhône-Winzer, die Besucher sollen schließlich nicht nur kulturelle Erinnerungen nach Hause mitnehmen.

Unterschätzen darf man auch die gesellschaftliche Rolle des Festivals nicht. Die Provence ist eine der drei Hochburgen des Front National im Land, der etwa im nahegelegenen Orange jahrelang den Bürgermeister gestellt hat und wo vor Jahren einmal Bücher dunkelhäutiger Autoren aus der Stadtbibliothek aussortiert worden sind. Der FN ist hier, anders als im Norden, nicht die Partei der Abgehängten, sondern die vieler Arrivierter. In Avignon jedoch feiert der tolerante Teil der Gesellschaft, zum Kulturbürgertum gesellen sich allerhand Nonkonformisten, die mit ihrer Lebensart der Stadt ihren Stempel aufdrücken.

Bemerkenswert ist die Unbeschwertheit in der Stadt. Neu sind seit einigen Jahren die Taschenkontrollen am Einlass der In-Festival-Spielstätten, ganz selten sieht man Schwerbewaffnete patrouillieren. Kaum wahrnehmbare und auch eher nur kosmetische Sicherheitsmaßnahmen sind das, rund um den ersten Jahrestag des Lkw-Anschlags im nahen Nizza. In gewisser Weise schützt sich das Festival selbst durch seine schiere Größe. Weil ohnehin kein Durchkommen wäre, darf von Mittag an kein Auto mehr in die von einem 4,3 Kilometer langen Mauerring umschlossene Altstadt hinein. Eine absolute Garantie ist das nicht, und vor Messerstechern kann man sich ohnehin nicht schützen.

Es wirkt allerdings so, als wären die Menschen viel zu beschäftigt mit der Suche nach guten, lustigen, spannenden Aufführungen, als dass sie Zeit hätten, sich Sorgen zu machen. Zur Festivalzeit ist Avignon anstrengend - und ansteckend.

Reiseinformationen

Anreise: Mit dem Zug über Lyon. Avignon verfügt über einen TGV-Bahnhof. Mit dem Flugzeug nach Marseille und von dort mit dem Mietwagen in etwas mehr als einer Stunde nach Avignon.

Unterkunft: In Avignon gibt es Hotels aller Sterne-Kategorien. Auf der Ile de la Barthelasse befinden sich drei Campingplätze. Zur Festivalzeit empfiehlt es sich, weit im voraus zu buchen.

Weitere Auskünfte: Das Festival d'Avignon dauert noch bis 26. Juli, www.festival-avignon.com, das Off-Festival bis 30. Juli, www.avignonleoff.com Fremdenverkehrsamt: Office de Tourisme d'Avignon, 41, Tours Jean Jahres, 84000 Avignon, Telefon: 0033 / 432 74 32 74, E-Mail: officetourisme@avignon-tourisme.com, www.avignon-tourisme.com

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