Auf der Insel Chiloé in Patagonien:Beim Fährmann der Seelen

Chile Patagonien Chiloe

Die "Mole der Seelen" auf Chiloé

(Foto: Schöpp)

Auf der Insel Chiloé im Westen Patagoniens endet die Welt. Man kommt trotzdem noch weiter - wenn man den Weg kennt. Und sich nicht vor dem Fährmann fürchtet, der hier die Seelen der Verstorbenen abholen soll.

Von Sebastian Schoepp

Weiter westlich wohnen als Don Orlando kann man kaum. Don Orlando hat ein hellgelb gestrichenes Holzhaus mit Gemüsegarten, Gänsen, Hühnern und Brombeersträuchern an der Punta Pirulil. Die liegt am Westrand der grünen Insel Chiloé im Westen Patagoniens. Chiloé ist die Insel der "schwarzen Stürme und der schwarzen Erde", hat Bruce Chatwin mal geschrieben. Die Stürme waren ein Grund, warum der Weg zu Don Orlando bis vor Kurzem sehr beschwerlich war.

Man musste die Ebbe und ruhiges Wetter abwarten, bis man die Felsen hinter dem Holzdorf Cucao auf dem steinharten Sandstrand bis nach Punta Pirulil umkurven konnte. Aber jetzt gibt es die Schotterstraße durch die Berge, was Don Orlando sehr begrüßt. Nicht nur, weil für ihn der Weg zum Einkaufen oder zum Arzt nach Cucao weniger umständlich ist. Es kommt auch mal Besuch.

Am Fenster hat Don Orlando einen Schaukelstuhl stehen. Auf dem, sagt er, sitzt er am liebsten und blickt auf den Ozean. Dort leben Wale und schwarz-weiße Commerson-Delfine, Humboldt-Pinguine, Mähnenrobben, Seebären und Magellan-Riesendampfschiffenten, ja, die heißen wirklich so.

Das nächste Gestade ist von Don Orlandos Fenster aus gesehen Neuseeland, knappe 8600 Kilometer Wasser liegen dazwischen. Irgendwo da draußen, an der Datumsgrenze, hört der Westen auf, und es beginnt das, was Europäer den Fernen Osten nennen. Man kann schon ins Grübeln kommen, hier am Ende der Welt. Wo will man von hier aus noch hin?

Don Orlando hat da einen Vorschlag: Der Eingang ins Paradies sei nicht weit, ihn zu sehen, koste nur ein paar Pesos. Dafür händigt er einem den Schlüssel aus zum Tor an seinem alten Grundstück oben in den Bergen an der Küste, wo er ein paar Kühe und Pferde hält. Er deutet auf die in Gischt und Dunst gehüllten Klippen. "Dort oben liegt die Mole der Seelen." Von Don Orlandos Haus sind es etwa drei Stunden zu Fuß.

Vor dem Aufbruch ins Reich der chilotischen Mythologie zeigt Don Orlando den Besuchern aber noch die gute Stube, wo die Wände voll hängen mit gemusterten Fellen. Jedem Artenschützer würde es die Sprache verschlagen. Aber Don Orlando sieht das anders, er hat ja auch eine Art zu schützen: seine Schafe. Das Leben auf Chiloé ist hart, jeder muss sehen, wie er klarkommt in den langen Wintern und nassen Sommern. Also erlegt Don Orlando Darwinfuchs und chilenische Waldkatze, eine Art Bonsai-Leopard, bevor sie seine Tiere erlegen.

Unterhalb der Felle hat Don Orlando Fundstücke gestapelt, auf die er noch stolzer ist: versteinerte Krebse, Schnecken und andere Fossilien, den Gehörgang eines Wals und was man sonst so findet in der Bucht vor seinem Fenster, wo ein kupferfarbener Fluss in den Pazifik mündet.

Wir brechen auf und überqueren den Fluss auf einer löchrigen Holzbrücke. An seiner Mündung stehen die Pfannen, mit denen Don Orlandos Söhne am Strand Gold aus dem Sand waschen. Am Boden wachsen grobkörnige, hellrote Sanderdbeeren. Der Weg führt bergauf in den Nebelwald mit all der regenfeuchten Flora der südlichen Hemisphäre, knorrigen Tepu-Bäumen, rötlichen, vom Wind gebogenen Arrayanen, chilenischer Myrte, patagonischer Zeder, Araukarien, Coihue-Scheinbuchen, australischer Haselnuss und Mammutblättern, deren Stiel rhabarberartig schmeckt.

Hier oben leben die letzten Huilliche, Chiloés Ureinwohner, deren Vorfahren in der Abgeschiedenheit die Landnahme durch spanische Kolonisten und chilenische Siedler überlebt haben.

Die Huilliche haben eine eigene Version, wie es vom Ende der Welt aus weitergeht. Dort wartet Tempilcahue, der Fährmann, auf die Seelen, die ins Paradies wollen. Ihr Heulen und Zetern mischt sich mit dem Getöse des Winds in den Klippen. Um den Toten die Abreise zu erleichtern, hat ein Künstler mit dem Namen Chumono ihnen auf Orlandos Grundstück eine Rampe aus Holz gebaut - die Mole der Seelen. Sie führt ins Nichts auf den Pazifik hinaus.

Sprungbrett ins Paradies

Das Sprungbrett ins Paradies sozusagen, und das Ziel der Wanderung. Wehe dem, der zum Scherz den Fährmann ruft, versichern die Huilliche, der Unglückliche stirbt binnen eines Jahres. Die Mole der Seelen ist bei Esoterikern beliebt, manche meditieren, manche brechen in Tränen aus, andere fühlen ihre Seele übers Wasser wabern.

Wie dem auch sei: Don Orlando hat das Kunstwerk auf seinem Grund und Boden ein hübsches Zubrot eingebracht. Manche Wanderer kommen auch, um hier oben Tiere zu beobachten, die es teils nur auf Chiloé gibt: Rostfußkauz, Pudus, die kleinsten Hirsche der Welt, außerdem flinke Beuteltiere, die hier Bergäffchen heißen, oder die chilenische Opossummaus. Die Vegetationsgeschichte des Urwalds, in dem sie leben, reicht bis in den prähistorischen Südkontinent Gondwana zurück, wegen der isolierten Lage westlich der Anden konnten sich viele Arten halten.

Das faszinierte schon Charles Darwin, der Chiloé 1834 besuchte. Während sein Kapitän Robert Fitzroy das patagonische Festland vermaß, vertrieb der Forscher sich die Zeit, indem er Notizen machte von der Insel. Ein einziger großer Wald sei das, aber mit einer fürs Auge angenehmen Variation von Grüntönen, nur "das Klima ist im Winter entsetzlich und im Sommer nur unwesentlich besser", schrieb Darwin. Das verwundert, da ihm als Engländer der ständige Wechsel aus Sprühregen und stechender Sonne eigentlich vertraut vorgekommen sein müsste.

Chiloé in Patagonien Chile SZ-Karte

SZ-Karte zu Chiloé

(Foto: SZ Grafik)

"Die Einwohner scheinen zu drei Viertel indianisches Blut zu haben", notierte Darwin weiter. Obwohl es genug zu essen gebe, seien die Leute bettelarm, denn Arbeit zum Geldverdienen gebe es eigentlich keine. "Bei unserer Ankunft dachten und hofften die Insulaner, wir wären eine Vorhut der Spanier, die gekommen seien, um Chiloé der patriotischen Regierung Chiles wieder zu entreißen." In der Tat hatten die Chiloten im Unabhängigkeitskrieg zur spanischen Kolonialmacht gehalten. Ihre letzte Festung fiel erst acht Jahre nach der Unabhängigkeit 1826.

Der junge Staat bestrafte Chiloé mit Isolation. Noch zu Zeiten der Pinochet-Diktatur, 1973 bis 1990, wurden Regimegegner hierher verbannt, wovon Isabel Allendes 2012 erschienener Roman "Mayas Tagebuch" handelt.

Doch wie so oft wandelte sich der Nachteil zum Vorteil. Die schrullige Urwüchsigkeit, die fast betonfreie und mit Unesco-Prädikat geadelte Holzarchitektur mit den bunten Kirchen begründeten Chiloés touristische Anziehungskraft. 2012 reihte die New York Times die Insel unter die 45 Ziele ein, die man noch schnell besuchen solle. "Bis vor Kurzem gehörte Chiloé den Chiloten fast alleine", heißt es da. Doch Chiles Präsident Sebastian Piñera wolle die Insel mit dem Rest der Welt teilen, er hat dort selbst ein Grundstück.

Die Regierung verordnete ihr eine eilige Entwicklung: Ein Flughafen bei der Kleinstadt Ancud wurde kürzlich eröffnet, eine Brücke über den Sund von Chacao soll die Insel bald mit dem Festland verbinden. Das wird kritisiert von den Zivilisationsmüden, die sich auf Chiloé zurückgezogen haben. Es wimmelt von Aussteigern aus der Hauptstadt Santiago, die dem Stress der neoliberalen Wachstumsgesellschaft entflohen sind.

Sie eröffnen kleine Hotels, pflegen Pinguinkolonien, werden Wanderführer oder verleihen Kajaks - so wie Fernando Claude, dessen rotgetünchte Ferienhütten aus Holz den versunkenen Wald von Chepu präsidieren, der beim großen Erdbeben 1960 vom nahen Meer überflutet wurde.

Partyschiff voller Geister

Claude und seine Frau wollen autark leben, Sonne und Wind liefern die Energie. Nur der Strom der Elektroöfen für verwöhnte Touristen kommt aus dem normalen Netz. Der versunkene Wald zu Füßen ihres Feriendorfs ist eine bizarre Auenlandschaft, in der 128 Vogelarten leben und man neben Fischottern und Bibern paddeln kann. In dem klaren Wasser spiegeln sich die Wolken in einer Weise, dass man bald nicht mehr weiß, wo oben aufhört und wo unten anfängt.

Fernando Claude empfiehlt, in der Morgendämmerung hinauszupaddeln, wenn die Strünke im Wasser die Form all der Fabelgestalten anzunehmen scheinen, die die chilotische Mythologie bevölkern: Tentenvilu und Caicaivilu, eine Art Tatzelwurm und eine Riesen-Wasserschlange, die in ständigem Kampf miteinander liegen. Oder die der Pincoya, einer Nixe, die den Weg zu den besten Fischgründen weist.

Chile Chiloe Patagonien

Im Kajak durch die unberührte Auenlandschaft: Lange Zeit war Chiloé isoliert - ein Segen für die Natur.

(Foto: Schoepp)

Oder vielleicht taucht aus dem Dunst gar das Geisterschiff Caleuche auf, das die Seelen der Schiffbrüchigen an Bord nimmt und auf dem ständig gefeiert wird. Weniger lustig wäre die Begegnung mit der Fiura, einer hässlichen Hexe mit riesigem sexuellen Appetit, die ihre Opfer durch Erschöpfung versklavt. Ihr Gegenstück, der Trauco, ist ein enorm potenter Kobold, der in den Wäldern haust und verirrte Jungfrauen schwängert. Manche sagen allerdings, man habe ihn erfunden, um ungewollte Schwangerschaften zu kaschieren.

Die Oberhoheit über den Spuk hat die Versammlung der Brujos, Hexenmeister, die die eigentlichen Herrscher der Insel sein sollen und sich regelmäßig in einer geheimen Höhle nahe dem Dorf Quicavi an der Ostküste versammeln. Historisch ist anzunehmen, dass das Magierparlament eine Art Gegenregierung zur Staatsgewalt darstellte, die das Brujo-Wesen im 19. Jahrhundert durch Massenverhaftungen auszurotten versuchte. Ohne großen Erfolg offenbar.

In Ancud fragen wir den Besitzer einer Imbissbude nach dem Weg nach Quicavi. Keine Chance, sagt der: Außenstehende würden durch eine geheimnisvolle Kraft von der Höhle ferngehalten, gegen die auch der stärkste SUV-Motor nicht ankomme. Und unser Miet-Kleinwagen schon gar nicht. Wir beschließen, es gar nicht erst mit der Magie aufzunehmen und lieber einen Teller Krebse zu bestellen, die fast nirgendwo so frisch und zart aus dem Meer kommen wie hier am Ende der Welt.

Informationen

Anreise: Von Santiago de Chile fliegt LAN nach Puerto Montt oder direkt nach Chiloé und zurück ab rund 500 Euro, www.lan.com. Am Flughafen Puerto Montt sind alle großen Mietwagenketten vertreten.

Unterkunft: Das Palafito-Hostel in Cucao direkt am Nationalpark vereint die landestypische Holzarchitektur mit viel Komfort und Blicken auf den See von Cucao. Dort weiß man auch den Weg zu Don Orlando, www.hostelpalafitocucao.cl

Reisezeit: Auf der Südhalbkugel beginnt jetzt der Winter. Patagonien also am besten ab November einplanen. Ende Dezember ist das Wetter am besten, es ist aber auch am vollsten.

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