Äthiopien:Neu geboren

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Die Feier erinnert auch an Kaiser Fasilides. Er drängte den Katholizismus zurück. In Gondar steht sein Palast. (Foto: Franck Charton/laif)

Seit dem 17. Jahrhundert feiern orthodoxe Christen in Äthiopien das Timkat-Fest, eine Taufe des gesamten Volkes. Doch so selbstverständlich wie früher ist auch hier nichts mehr.

Von Tom Noga

Das Tauffest Jesu beginnt für Tashagar Sartadengar, den alle nur Teshe nennen, früh am Morgen. Er macht sich auf den Weg: von seinem Haus in den Hügeln von Gondar, der früheren äthiopischen Königstadt, hinunter zur Piassa, dem zentralen Platz. Das Wort leitet sich vom italienischen Piazza ab - mit Schreibfehler. Ein Überbleibsel aus den 1930er-Jahren, als das faschistische Italien Äthiopien sechs Jahre lang besetzt hielt. Auch die senfgelben Steinhäuser entlang der Straßen im Zentrum sind noch aus der Besatzungszeit. Ansonsten dominieren in Gondar Holz- und Wellblechhütten. Hirten treiben ihre Ziegen durch die Straßen, Händler bringen ihre Ware auf dem Rücken von Eseln zum Markt, knorrige Männer in schlichten Umhängen lehnen auf Hirtenstäben. Denkt man sich die wenigen Autos weg, das Wirrwarr an Strom- und Funkkabeln, das die Straßen überspannt, und die Unmengen an dreirädrigen Moped-Taxis, dann wähnt man sich im Altertum.

Die Piassa ist nicht viel mehr als ein Parkplatz. Sonst halten hier die Reisebusse, die Gondar mit der 730 Kilometer entfernten Hauptstadt Addis Abeba im Süden verbinden. Und mit den Grenzstädten zum Sudan im Norden. Jetzt aber ist die Piassa voller Menschen, die trommeln, tanzen, singen. Von überall strömen sie herbei, gekleidet in Weiß. Die Frauen in langen, kunstvoll bestickten Gewändern, die Männer in Kaftan und Pluderhose. Das eigentliche Tauffest, "Timkat" auf Amharisch, der Sprache Äthiopiens, beginnt erst um zwei Uhr nachmittags mit einer Prozession zum Bad des Kaisers Fasilides. Aber die Menschen tanzen sich schon jetzt gruppenweise in Stimmung: jeweils einer in der Mitte, die anderen kreisförmig um ihn herum. Ein seltsamer Tanz ist das, bei dem nur die Schultern im Rhythmus der Trommeln vor und zurück zucken.

Das Timkat hat seinen Ursprung im 17. Jahrhundert. Kaiser Sissinios konvertierte unter dem Einfluss der im Land missionierenden Jesuiten zum Katholizismus und erklärte ihn zur Staatsreligion - anstelle des orthodoxen Christentums. Das führte zu Unruhen mit vielen Toten. Dadurch kam sein Sohn Fasilides an die Macht. Er verwies die Jesuiten des Landes und kehrte zur Orthodoxie zurück. Weil dadurch nach orthodoxem Glauben eine neue Taufe des gesamten Volkes erforderlich war, ließ er außerhalb von Gondar ein Bad anlegen. Seit jener Massentaufe wird das Timkat gefeiert. An jedem 19. Januar, in Schaltjahren am 20. Januar. Überall in Äthiopien. Aber in Gondar ist der historische Bezug greifbar. Und nirgends ist die Feier größer; bis zu 10 000 Teilnehmer kommen zum Timkat in die Stadt.

Teshe kehrt bei Freunden ein. Adono, der Hausherr, lebt mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem jüngeren Bruder und dessen Familie in einem Hinterhof. Drei Häuschen gruppieren sich um einen Affenbrotbaum, dazu ein Holzverhau, der als Küche dient. Und ein fensterloses Kabuff mit Loch im Boden - die Toilette. Fließendes Wasser gibt es nicht, zwei Plastiktonnen speichern Regenwasser. Zwei der Häuschen bestehen nur aus einem Schlafraum. Das dritte hat zusätzlich ein Wohnzimmer. Dort hat sich die Familie versammelt, alle sind weiß gekleidet.

Adonos Nichte Jordan kocht Kaffee. Sie röstet Bohnen in einer Pfanne, zerstampft sie dann mit einem Mörser und brüht sie in einem bauchigen Tonkrug auf. Kaffee kommt ursprünglich aus Äthiopien. Und dies ist die traditionelle Zubereitung. Dazu reicht Jordan Popcorn: "So beginnen wir jeden Tag, so bewirten wir Gäste. Und so beginnt für uns die Feier des Timkat. Wir alle lieben dieses Fest", sagt Adono. "Es bringt die ganze Familie zusammen. Wir lachen viel, wir bekommen Besuch. Alle sind glücklich. Und das heilige Wasser gibt uns Kraft. Es wäscht uns rein von Sünden."

Priester tragen Kopien der Bundeslade auf dem Kopf. Das Original soll im Land sein

Die Prozession beginnt. Vorneweg tanzen die jungen Leute. Hinten die Priester in ihren bunten Roben; auf dem Kopf tragen sie einen länglichen Gegenstand, der in kunstvoll verzierte Tücher gewickelt ist. "Das ist der Tabot", erklärt Teshe, eine Nachbildung der Bundeslade der Israeliten. Nach biblischer Darstellung enthielt die Bundeslade unter anderem zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten. Eine Nachbildung der Lade schmückt den Altar jeder orthodoxen Kirche in Äthiopien - allerdings verdeckt.

Der Legende zufolge hat Menelik I., der Begründer des äthiopischen Kaiserhauses, das Original um das Jahr 1000 vor Christus ins Land gebracht. Seine Mutter soll die Königin von Saba gewesen sein, die damals von Aksum aus über weite Teile Äthiopiens und Jemens herrschte, sein Vater Salomon, der weise König der Israeliten. Aufgewachsen in Aksum sei Menelik, kaum volljährig geworden, nach Jerusalem gereist, um sich von seinem Vater in der Kunst des Regierens unterrichten zu lassen. Seit seiner Rückkehr befinde sich die Lade in einer Kapelle neben der Kirche der Heiligen Maria von Zion in Aksum.

Diese Geschichte ist nicht belegt. Die Königin von Saba wird zwar in der Bibel und im Koran erwähnt - ob es sich um eine historische Person handelt, ist umstritten.

Es gibt im Alten Testament keine Nachricht über eine Zerstörung der Bundeslade, auch nicht im Zusammenhang des Berichts von der Plünderung des Tempels durch die Babylonier Anfang des 6. Jahrhunderts vor Christus. Das spurlose Verschwinden der Lade erlaubte die Entstehung der Legende, dass Jeremia sie in einer Höhle versteckt hatte - so steht es im zweiten Buch der Makkabäer. Ob die Bundeslade tatsächlich in Aksum aufbewahrt wird, lässt sich nicht überprüfen: Bis heute darf nur ein auf Lebenszeit zum Wächter ernannter Priester das dort aufbewahrte Kultobjekt unverhüllt sehen.

Die Prozession wälzt sich aus Gondar hinaus. Adono und seine Familie sind längst im Menschengewirr verschwunden. Von überallher strömen weitere Gruppen hinzu. Ein großes, fröhliches Chaos. Unten im Tal ein Exerzierplatz, angelegt während der sozialistischen Militärdiktatur. Das Militär herrschte vom Sturz Haile Selassies im Jahr 1975 bis 1991. Er war der letzte Kaiser Äthiopiens, der sich auf die salomonische Abstammung berief. Seitdem wird Äthiopien von der Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker regiert, einer linken Sammelbewegung. Hinter dem Exerzierplatz ist ein von Steinmauern eingefasstes Gelände. In dessen Mitte steht ein Turm, ebenfalls von Mauern umgeben. Er ragt aus einem Tümpel hervor und ist über eine Brücke zugänglich: das Bad des Fasilides. Auch hier: Menschen über Menschen. Einer der Priester spricht ein Gebet. Dann verschwinden die Tabots im Turm. Die meisten Gläubigen machen sich auf den Heimweg. Aber ein paar Hundert tanzen und singen weiter. Wer nicht mehr kann, legt sich schlafen. Im Freien, gehüllt in weiße Tücher. Gondar liegt auf einer Höhe von 2100 Metern - nachts ist es empfindlich kühl. Auch Jordan, die Nichte Adonos, verbringt hier die Nacht. Zum ersten Mal. Sie ist stolz: "Endlich haben meine Eltern es mir erlaubt. Jetzt kann ich das Timkat so begehen, wie es unsere Tradition vorschreibt."

Die Prozessionen sind bunt, laut und fröhlich - und am Ende nass

Das eigentliche Tauffest beginnt mit einem Gottesdienst im Morgengrauen. Teshe wischt sich die Müdigkeit aus den Augen. Besonders gut hat er nicht geschlafen. Die Priester lesen die Messe im Turm. Man sieht sie nicht, aber man hört sie: Der Gottesdienst wird über Lautsprecher nach draußen übertragen. Immer mehr Gläubige strömen herbei. Noch liegt die Kälte der Nacht über dem Bad des Fasilides. Als die Sonne aufgeht, treten die Priester aus dem Turm. Mittlerweile ist die Anlage voller Menschen. Sie sitzen auf Mauern, drängen sich an den Rand des Wassers. Ein junger Mann hat einen Banyan-Baum erklommen, dessen Äste weit hinein ins Bad reichen. "Er will als Erster im Wasser sein", erläutert Teshe. "Einer der Priester wird eine Kerze schwimmen lassen, in einer Schale aus Tierkot. Wer sie als Erster erreicht, dessen Wünsche gehen in Erfüllung." In seiner Jugend hat Teshe das oft versucht, aber nie geschafft. Er lächelt: "Ich schwimme einfach zu schlecht."

Kaum hat der Priester das Wasser gesegnet, gibt es kein Halten mehr. Von überall springen Menschen hinein, Männer und Frauen. Die einen freiwillig, die anderen werden von der nachrückenden Masse ins Becken geschoben. Es wird gespritzt, geplanscht, geschwommen. Priester erklimmen die Mauern, Wasserschläuche in Händen. Sie richten den Strahl auf die Menge draußen, auf diejenigen, die es nicht hinter die innere Mauer geschafft haben. "Einen Moment bitte", sagt Teshe. Auch er möchte mit dem heiligen Wasser besprenkelt werden. Als er ein paar Minuten später zurückkommt, ist er klitschnass. Und selig: "Ich habe den Segen Jesu empfangen. Jetzt bin ich gereinigt."

Später Nachmittag. Die Tabots sind längst wieder in den Kirchen. Dorthin gebracht in einer Prozession, die so bunt und laut und fröhlich ist, wie jene hinaus zum Bad des Fasilides. Teshe ist bei einer Freundin eingeladen, einer älteren Dame namens Teshager Sertsedingel. Unter den Gästen sind Männer in Lumpen, barfuß und zahnlos. "Timkat heißt teilen", sagt Teshe, "auch mit jenen, die auf der Straße leben." Es gibt geröstete Nüsse und Injera, das äthiopische Fladenbrot. Dazu Hackfleisch in Tomatensoße. Teshe hat seit gestern nichts gegessen. Jetzt nimmt er reichlich, auch von den Getränken. Vor ihm steht ein randvoller Becher mit Tella, selbstgebrautem Hirsebier.

Die Getränke werden von einer jungen Frau serviert. Sie trägt ein langes Kleid - in Schwarz. "Betehali", sagt Teshe, "Teshagers Tochter". Betehali hat sich vom orthodoxen Christentum ab- und einer evangelikalen Gemeinde zugewandt. Mit dem Timkat kann Betehali nichts mehr anfragen: "Ich glaube an die Taufe. Aber wo in der Bibel steht geschrieben, dass wir Jesu Taufe feiern sollen, indem wir tanzen und uns schubsen und betrinken?"

Teshe runzelt die Stirn. Früher waren die Dinge in Äthiopien einfach: Zwei Drittel der Menschen waren orthodoxe Christen, ein Drittel Muslime. Doch seit Freikirchen aus den USA ihre Missionare ins Land schicken, verliert die orthodoxe Kirche mehr und mehr Mitglieder. Heute machen orthodoxe Christen nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung aus. Das kratzt am Selbstverständnis eines Landes, für das die Orthodoxie über Jahrhunderte Staatsreligion war.

"Gut so", sagt Betehali. Als sie vor 15 Jahren zum Protestantismus konvertierte, war das in Gondar ein Skandal. "Die Leute haben mich gehasst, niemand hat mehr mit mir geredet. Meine Eltern haben mich rausgeworfen. Sie dachten, der Hunger würde mich zurücktreiben. Aber ich habe durchgehalten." Heute lebt Betehali in Addis Abeba. Dort, so sagt sie, ist es freier. Mit ihrer Mutter hat sie sich ausgesöhnt. Auch wenn sie weder an den Prozessionen noch am Tauffest selbst teilnimmt, hilft sie bei der Bewirtung des Gäste. "Das bin ich meiner Mutter und ihrem Glauben schuldig."

Das Fest neigt sich dem Ende zu. Betehali ruft sich ein Tuk Tuk, eines der dreirädrigen Moped-Taxis. Sie fliegt noch am selben Abend zurück nach Addis Abeba. Erschöpft lässt sich ihre Mutter auf einen Schemel fallen. Teshe schenkt ihr ein Bier ein. "Ach ja, Betehali...", sagt sie seufzend. "Das war eine schlimme Zeit damals. Jetzt sorge ich mich, weil sie über 30 ist und noch unverheiratet." Sie blickt Teshe an, fragt, ob der Reporter ihre Tochter nicht nach Deutschland mitnehmen möchte. "Besser, sie ist weit weg, als dass ich eines Tages schlimme Dinge über sie höre."

© SZ vom 17.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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