Straße für das Kaisertal:"20 Jahre zu spät"

Bisher konnten die Bewohner ihr Kaisertal in Tirol nur mühsam zu Fuß erreichen. Nun jubeln sie über einen Autotunnel - doch Naturschützer sind entsetzt.

Heiner Effern

"20 Jahre zu spät" - das ist alles, was Jakob Leitner zu diesem Thema sagt. Gedankenverloren schaut der 78 Jahre alte Seniorchef vom Zottenhof das Tal hinauf, in eine phantastische Landschaft zwischen Zahmen und Wilden Kaiser.

Straße für das Kaisertal: Wanderer gehen auf einem Weg in der Nähe des Berggasthofes Pfandlhof im Kaisertal bei Kufstein in Tirol.

Wanderer gehen auf einem Weg in der Nähe des Berggasthofes Pfandlhof im Kaisertal bei Kufstein in Tirol.

(Foto: Foto: ddp)

20 lange Jahre waren der Gebirgsbauer und die 34 anderen Talbewohner vom Rest Tirols abgeschnitten. Doch nun bekommt das Kaisertal - das letzte dauerhaft bewohnte Gebirgstal Österreichs, das nur zu Fuß erreichbar ist - eine eigene Zufahrtsstraße. Endlich.

Ein paar hundert Meter oberhalb des Zottenhofes klafft hinter einem Erdwall bereits ein großes Loch im Berg. Mitte März haben Tunnelgräber hier den Fels durchstoßen. Bisher müssen die Kaisertaler knapp 300 Stufen über die Sparchenstiege ins Inntal hinab- und nach Hause wieder heraufsteigen.

Das dauert etwa eine Viertelstunde. Die einzige technische Verkehrsanbindung zur Außenwelt ist eine Materialseilbahn, die zweimal in der Woche Einkäufe und andere Waren nach oben bringt. "Das war nicht mehr hinnehmbar, hier haben früher mehr als 60 Menschen gewohnt. Das Tal entvölkert sich", sagt der Ebbser Bürgermeister Josef Ritzer, zu dessen Kommune das Kaisertal gehört.

Mehr als sechs Millionen Euro wird die Gemeinde für die Straße ausgeben, 75 Prozent davon erhofft sich Ritzer als Zuschuss vom Land Tirol.

Mit gelben Gummistiefeln stapft der Bürgermeister durch den Schlamm im Tunnel. Den Ausgang blockieren Polier Reinhard Helfer und seine Mitarbeiter mit dem Spritzbüffel, einer riesigen Maschine, die Beton an die Wände sprüht. Seit Mitte Oktober arbeiten mehrere Teams jeden Tag rund um die Uhr.

Für eine Sprengung, die sie drei Meter vorwärts bringt, müssen die Mineure 100 Löcher bohren, in denen sie den Sprengstoff deponieren. Besonders schwierig machen den Bau zwei Voraussetzungen: eine Kurve im Berg mit einem Radius von nur 70 Metern und eine durchgängige Steigung von mehr als zwölf Prozent.

Sechs Meter beträgt die Höhe vom Boden bis zum First des Tunnels, in dem eine Fahrbahn mit dreieinhalb Meter Breite, ein Gehweg und verschiedene Leitungen unterkommen sollen. "Wenn man durch ist, löst sich eine große Anspannung. Die fünf Monate habe ich jede Nacht das Handy neben dem Bett liegen gehabt", sagt Hannes Mauracher, der die Bauaufsicht für die Gemeinde Ebbs und das Land Tirol innehat.

Wie alle anderen Bauleute und viele Bewohner des Kaisertals hat er im Gasthaus Veitenhof kräftig gefeiert, als der Tunnel nach oben gegraben war. "Jeder ist froh. Es ist für alle eine große Erleichterung, wenn die Straße fertig ist", sagt Wirtin Annelies Staffner. Sie fürchtet nicht, dass das Kaisertal seinen Reiz für die vielen Wanderer, die zu einem großen Teil aus Deutschland kommen, verlieren wird.

Würde das eintreten, wäre das für das gesamte Tal eine Katastrophe: Einzig mit der Gastronomie lässt sich hier Geld verdienen. Denn die einzige Alternative, die Landwirtschaft, wird in den steilen Hängen meist nur noch als Nebenberuf betrieben.

Auch Bernhard, der Sohn von Jakob Leitner, hat eine Arbeitsstelle im Tal. Täglich geht er mit Tochter Sarah, 8, die Stiegen hinab, bei strömendem Regen ebenso wie bei Schnee. "Das ist richtig blöd", sagt das jüngste Kind im Tal. Ihre Mutter Ursula findet das auch und erklärt, warum sie sich so unendlich auf die Straße freut. "Die Sarah hatte Brechdurchfall, und wir mussten zum Arzt."

Das Kind quälte sich zu Fuß die Treppe hinab und wieder hinauf, klagte ständig über Schwindel und Übelkeit. "Da könntest du selbst schon mitweinen, und dann machen dich entgegen kommende Touristen auch noch blöd an, was du mit deinem Kind machst." Doch nicht nur die Sonderfälle machen das Leben beschwerlich.

"20 Jahre zu spät"

"Wenn man ins Kino will, muss man eine zweite Garnitur Kleider mitnehmen und dann in Dunkelheit wieder den Berg hinauf." Wer beim Einkaufen einen Kasten Wasser vergisst, muss tagelang auf Nachschub warten.

"Es ist eine Frechheit, dass die, die draußen wohnen, über uns bestimmen wollen." Damit meint Ursula Leitner die Gegner der Erschließung, die nicht aus dem Tal stammen. Der Deutsche und der Österreichische Alpenverein fürchten, dass der Autoverkehr den Charakter des Tals komplett verändern wird.

Umweltschützer sind gegen die Straße

"Der motorisierte Verkehr könnte das Kaisertal überrollen", sagt Peter Haßlacher, Leiter des Bereichs Umweltschutz im ÖAV. Die Versicherungen der Gemeinde und der Anwohner, man werde mit einer Schranke und dazugehörenden Chipkarten strikt jedes überflüssige Auto fernhalten, sehen die Bergsteigerverbände misstrauisch.

"In vergleichbaren Fällen hat es oft eine wundersame Schlüsselvermehrung gegeben", sagt sein Kollege im DAV, Franz Speer. Den Umwelt-Experten wäre eine Seilbahn mit einer Fahrkabine, die auch Kinder bedienen könnten, lieber gewesen.

Damit konnten sie aber bei den Kaisertalern und auch bei den Ebbser Lokalpolitikern keine Freunde gewinnen. "Die Zentralen des ÖAV und DAV glauben, dass die Menschen sich hier noch mit Rauchzeichen unterhalten und dass man das erhalten muss", sagt Bürgermeister Ritzer. Wie schon vorher beantragten die Kaisertaler 1996 und zwei Jahre darauf wieder einmal den Bau einer Straße.

Das Land Tirol untersuchte sieben Varianten zur Erschließung: drei Wegrouten, zwei Seilbahnen und zwei Tunnels. "Die jetzt umgesetzte war die wirtschaftlichste und umweltverträglichste", sagt Bürgermeister Ritzer. Man werde das Portal des Tunnels gut verstecken und am weiterführenden Weg durchs Tal ändere sich nichts. "Der wird nicht geteert oder ausgebaut."

In der Tat gibt es im Kaisertal schon jetzt PKW-Verkehr: Die meisten Familien besitzen ein Auto am Berg, das sie je nach Größe mit einer Seilwinde oder in der Materialseilbahn heraufgebracht haben und für Fahrten vom Haus bis zur Stiege nützen, und eines im Tal.

Jakob Leitner und seine Frau Cilli gehen auch noch mit ihren knapp 80 Jahren jeden Sonntag den Weg hinunter zur Messe und nachher ins Gasthaus. Der Jakob, den seine muntere Frau schließlich doch noch zum Reden bringt, ist schließlich ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Nun werden sie sich bei schlechtem Wetter künftig mit dem Auto hinunterfahren lassen.

Und noch einen Wunsch haben sie: Einmal den Sohn bei einem Auftritt mit seinem Chor hören. Bisher war der nächtliche Rückweg zu beschwerlich.

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