Alt werden auf Okinawa:Morgen ist auch noch ein Tag

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Auf der Insel Okinawa sind die Greise die Attraktion: Nirgendwo sonst in Japan werden so viele Menschen so alt wie hier. Und das hat Gründe.

M. Tempel

Es ist kurz vor vier Uhr nachmittags in dem kleinen japanischen Bergdorf Ogimi auf der Insel Okinawa. Auf dem grauen Sandplatz am Ortsrand, dort, wo die Mandarinenplantagen beginnen, die sich steil den Berghang hinaufziehen, fegt ein alter Mann mit einem Reisigbesen die Blätter zur Seite.

Fitte Seniorin: Auch die 100 Jahre alte Matsu lebt auf Okinawa. (Foto: Foto:)

Sumiko Tairo schlendert die schmale Straße herunter, den Krocket-Schläger über der Schulter. Sie steigt die vier Stufen zum Platz hoch und wechselt ein paar Worte mit dem Mann, der zwei kleine, u-förmige Tore und den hölzernen Zielpflock in den Boden treibt. Ihren Schläger lehnt sie an eine alte, hellblau gestrichene Holzhütte. Sie setzt sich auf einen Baumstamm, der am Rand des Spielfelds liegt und als Bank dient.

Vormittags aufs Feld, nachmittags aufs Spielfeld

Den Vormittag über hatte Sumiko noch auf dem Feld gearbeitet, das Unkraut in ihrem Gemüsebeet gejätet, die reifen Auberginen geerntet und nach den Mandarinenbäumen gesehen. Jetzt hat sie Gummistiefel, braune Arbeitskleidung und Strohhut mit weißen Joggingschuhen, weißer Trainingshose, weißem Kapuzenshirt mit hochgekrempelten Ärmeln und weißer Baseballkappe vertauscht.

Die Armbanduhr mit dem flexiblen Metallband trägt sie am linken Unterarm, kurz unterhalb des Ellbogens. Ihre schwarzen Augen glitzern schelmisch unter der Schirmmütze, und wenn sie lacht, leuchtet ihr faltenreiches Gesicht.

Sumiko lacht gern. Sie ist 90 Jahre alt. Ihr Mann ist vor acht Jahren im Alter von 86 Jahren gestorben. Sie hat sechs Kinder, 16 Enkel und 17 Urenkel. Sumiko spielt liebend gern Gateball, wie sie Krocket hier nennen. Das hält sie in Form. Und mental ist sie mit sich im Reinen: "Am besten ist es, wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat", sagt sie.

Inzwischen treffen auch die anderen Spieler ein. Mariko schiebt ihren Rollstuhl, auf dem ihr Schläger liegt, an den Straßenrand. Sie geht säbelbeinig, in karierten Hosen, und schwankt wie ein Seemann beim ersten Landgang nach langer Reise. Als sie den Platz betritt, benutzt sie den Schläger als Krückstock. Ihr ganzer Stolz sind ihre Krocket-Schuhe aus rotem Leder mit weißen Stoff-Applikationen der Marke Sunnyday. Mariko ist 104 Jahre alt.

Gespielt wird, wie immer, Männer gegen Frauen. Heute sind sie zu siebt, die Frauen sind in der Unterzahl, drei gegen vier. Insgesamt stehen fast 700 Jahre auf dem Platz. Die Mitspieler, die gerade nicht dran sind, sitzen in einer Reihe auf der Holzbank neben dem Schuppen und rauchen gemütlich Zigaretten.

Lesen Sie weiter, warum die Menschen auf Okinawa so alt werden.

Unwillkürlich sucht das Auge des Zuschauers nach dem Kamerateam, das hier einen Werbefilm für die Tabakindustrie dreht. Schließlich ist in Zeiten des Rauchverbots der Cowboy auf dem Mustang längst ebenso Vergangenheit wie das Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Da hätte Longevity, das lange Leben, doch eine ganz andere Qualität als Reklamebotschaft, selbst oder gerade im Zeitalter der ewigen Jugend.

Auch diese Dame ist mit 85 Jahren noch berufstätig. (Foto: Foto: AFP)

In Ogimi, wo die Menschen so alt werden wie nirgendwo sonst in Japan, fände die Raucherlobby reichlich Motive, die Alkohol- und Autobranche gleich mit. Eine 107-Jährige etwa, die früher mit einem Handwagen über die Insel zog und Fische verkaufte. Und von der heute noch gern erzählt wird, dass sie mehr Awamori-Schnaps vertrug als die meisten Männer.

Und weil es keinen besonders guten öffentlichen Nahverkehr auf der Insel gibt, sitzen die Alten von Ogimi in aller Regel auch noch selbst am Steuer ihrer Wagen. Die Alten von Ogimi sind - neben dem spektakulären Aquarium von Churaumi - die Attraktion Okinawas. Im Gegensatz zum Fischtank muss man für das Reservat der Senioren keinen Eintritt bezahlen. Der offizielle Slogan lautet: "Am schönsten ist es doch, gesund zu sterben."

Für die Alten-Wohlfahrt in Ogimi ist Keiko Shimabukoro zuständig. In ihrer aktuellen Statistik führt sie 3417 Einwohner, 30,5 Prozent davon haben den 60. Geburtstag schon gefeiert. Der älteste Bürger ist 109 Jahre alt, die älteste Bürgerin 107, insgesamt leben 15 Hundertjährige im Dorf.

Intakte Großfamilien

Neben der gesunden Ernährung - Optiker und Zahnärzte verdienen hier keine Reichtümer - sind soziale Faktoren und die Arbeit auf den Feldern die Gründe für das Altenphänomen. Die Großfamilie ist noch intakt. Wer in Ogimi keine Arbeit hat, wird mitversorgt. Waisenkinder werden von den Nachbarn aufgezogen. Für die Menschen hier ist ihre soziale Verantwortung eine Selbstverständlichkeit.

Und sie arbeiten hart, vorwiegend auf den Feldern und in den Plantagen der Siquasa-Mandarinenbäume. Dazu treiben sie viel Sport. Einer der Höhepunkte des Jahres ist das Sportfest für alle, die mehr als 65 Lenze zählen. Es gibt eine spezielle Wertung für Familien, die mit drei Generationen an den Start gehen.

Zeit spielt meistens keine Rolle

Das ist dann auch einer der wenigen Anlässe in Ogimi, an denen die Zeit eine wichtige Rolle spielt. Ansonsten nehmen die Menschen, was Pünktlichkeit und Einstellung betrifft, eine eindeutig spanische Haltung ein. In der Ruhe liegt ihre Kraft. Und morgen ist schließlich auch noch ein Tag.

Wenn die Alten nicht arbeiten oder Krocket spielen, treffen sie sich gern bei Emi no mise, in Emis Laden, der ein Restaurant ist. Emi hat zum Thema Ernährung bereits mehrere Bücher verfasst und gilt als Expertin.

Auf der nächsten Seite geht es um die spezielle Ernährung in Ogimi.

Man sitzt bei ihr auf der überdachten Terrasse, die versteckt hinter subtropischen Bäumen und Sträuchern liegt, an Holztischen unter Neonröhren. Die Ventilatoren surren. An den Wänden hängen Plakate mit den Abbildungen von Gerichten auf Tellern - und von alten Menschen. In einem Holzregal stehen Beutel mit Tee, Algen und Gewürzen.

Ganz oben sitzt eine weiße Plastikkatze mit roten Ohren, die Glück bringen soll, und hebt eine Tatze. In einem Glaskasten sind zwei Puppen an einem Tisch zu sehen, die ein altes Paar darstellen. Daneben gibt es im Regal Tongeschirr und Muscheln. Das alles sind Souvenirs. Das Radio, das zwischen Tassen und Tellern steht, allerdings nicht, es gehört Emi.

Das Mittagessen serviert sie in Plastikboxen mit verschiedenen Fächern. Es befinden sich darin: Bambussprossen, Tapiokabällchen, Algentofu, Algensalat, Sardinen, gekochter Rettich, eingelegter Rettich, Seetang, Schweinefleisch, Reis mit Hirse, eingelegtes Gemüse, Gurken, Tofu und Nüsse, Papaya, gekochter Thunfisch, Tintenfisch, Tempura.

Das Dessert besteht aus zwei Kugeln Eis. Die grüne ist aus Gemüse hergestellt, die pinkfarbene aus Drachenfrucht. Vor dem Essen wird Kräutertee mit Kurkuma zum Entgiften der Leber serviert. Den Tee kann man auch während des Essens trinken. Oder Wasser. Oder ein Bier.

Sojasauce und Salz fehlen

Die obligatorische Sojasoße zum Würzen fehlt hier ebenso wie Salz. Man isst weitgehend salzlos. Mehr als neun Gramm davon nimmt pro Tag angeblich niemand zu sich. Wenigstens nicht die Alten. Bei den Jungen ist das anders. Die sind bereits amerikanisiert, sagen ihre Großeltern, zumindest, was die Ernährung betrifft. Cheeseburger und Cola statt Algentofu und Tee - das senkt die Lebenserwartung drastisch, wie bereits jetzt statistisch nachweisbar ist. Die Amerikanisierung endet allerdings spätestens dort, wo die Sprache beginnt.

Kaum ein Japaner spricht oder versteht Englisch. Auf Okinawa, von dessen Gesamtfläche von 1180 Quadratkilometern immerhin elf Prozent dem US-Militär gehören, wird die Sprache der einstigen Siegermacht ignoriert. Das mag in der Vergangenheit begründet liegen, schließlich erzählt die Geschichte Okinawas von einer der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs.

Lesen Sie weiter, warum Okinawa so anders ist als der Rest von Japan.

Der Widerstand der Japaner war hier so groß, dass er angeblich den Ausschlag für die Entscheidung der Amerikaner gab, die Atombombe einzusetzen.

Das Schloss von Naha, einst Sitz der Könige von Ryukyu und des japanischen Oberkommandos, wurde 1945 zerstört und erst von 1972 an wieder aufgebaut. In die Tiefgarage im Burgberg passen auch sämtliche Touristenbusse, Parkwächter in Uniform sorgen mit Trillerpfeifen für reibungslose Ein- und Ausfahrt.

Okinawa pflegt seine Besonderheiten

Okinawa ist anders als das restliche Japan. Das liegt zum einen an der geographischen Lage, weit weg von den Hauptinseln in subtropischen Breitengraden, zum anderen an der Tatsache, dass auf der Insel von 1429 bis 1879 die Könige von Ryukyu herrschten.

Noch immer wird auf der Insel ein eigener Dialekt gesprochen, den man im übrigen Land nicht versteht. Doch auch der ist im Aussterben begriffen, ebenso wie die hohe Lebenserwartung und die Korallen draußen an den Riffen bedroht sind.

Sehr lebendig dagegen ist die Religion, die ebenfalls anders ist als die sonst im Land verbreitete Mischung aus Shintoismus und Buddhismus. Im ehemaligen Königreich ist nach wie vor der Ahnenkult bestimmend. Sehr offensichtlich, denn die Gräber, Mausoleen im Bonsai-Format, sind vielerorts neben den Straßen zu sehen. Oft sehen sie aus wie die Nachbildung weiblicher Geschlechtsteile, dem Gedanken folgend, dass man hierdurch die Erde betritt - und sie wieder so verlässt.

Kriegsfilme und Karate

Nähme man die Kinoerfolge als Maßstab für den Bekanntheitsgrad, würde Okinawa wohl immer noch wegen der Kriegsfilme wie "Die Hölle von Okinawa" aus dem Jahr 1950 genannt. Oder auch wegen "Karate Kid II - Entscheidung in Okinawa" von 1986. Immerhin gilt die Insel als Wiege der Karate-Kampfkunst. Quentin Tarantino schickt Uma Thurman in "Kill Bill" zu einem Waffenmeister auf die Insel, der ihr das Schwert für ihren blutigen Rachefeldzug schmiedet.

Krocket-Spielerin Sumiko, die auf der gut zwei Flugstunden entfernten Hauptinsel Honshu 30 Jahre lang in einer Spinnerei gearbeitet hat, in der während des Krieges Waffen hergestellt wurden, kennt weder den Film noch einen Schwertschmied. Sie beherrscht kein Karate, sie macht nur jeden Morgen zehn Minuten Gymnastik. Für sie ist jetzt nur die nächste Kugel des Gegners wichtig, die sie mit ihrem Schläger beseitigen kann. Wie immer um vier Uhr nachmittags in Ogimi.

© SZ vom 8.1.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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