18. Station: Seychellen:Das gekaufte Gedächtnis

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Wie kann man sich auf den letzten Kilometern einer Weltreise noch Welt aneignen? Indem man sich anschafft, was einem bleiben soll: Souvenirs

Klaus Podak

Man gewinnt nicht nur, man verliert auch auf Reisen. Und kann dabei doch noch etwas gewinnen. So kam beispielsweise im heißen, schnellen, quirligen Colombo der Fotoapparat abhanden - geklaut von einem liebenswerten Taxifahrer.

Kurs auf die Seychellen (Foto: Foto: Podak)

Er war wunderbar hilfsbereit. Wir fuhren kühn wie Stuntmen in seinem offenen, rikschaähnlichen Gefährt durch die brausende Stadt. Wir hielten kurz an einer Art Drogerie. Er versprach, während eines schnellen Einkaufs die Stofftasche mit dem Fotoapparat darin sorgsam zu behüten. Tat das auch. Und erklärte nach der Rückkehr in sein Auto - wir waren mittlerweile Freunde, nach den zwei Stunden rasanter Fahrt -, er habe inzwischen ein paar erfrischende Früchte zu den Sachen in der Tasche dazugetan.

Hatte er auch. Nur war nach einer weiteren Stunde dröhnenden Rasens und einem sentimentalen Abschied der Taxifahrer weg und der Fotoapparat aus der Tasche auch. Die wirklich erfrischenden Früchte hatten das Verschwinden bis zum Augenblick der Wahrheit gewichtsmäßig genau ausgeglichen. Auch so kann Reisen Leben lehren.

So kann es auch gehen mit der Welterkenntnis auf einer Weltreise: Wieder ein Teilchen nützlicher Einsicht eingesammelt. Schmerzlich, zugegeben. Der Taxifahrer war ein Künstler.

Wie eignet man sich Welt an?

Wie eignet sich ein Reisender, ein Weltreisender, der mehr als vier Monate ohne Pause damit beschäftigt ist, die Welt eigentlich an, die er umrundet? Die Colombo-Variante sollte dabei eine Ausnahme sein. Das Bilderknipsen und seine weltweit gegenwärtige Verfeinerung, das Videobänderbelichten, bergen die nur schwer zu bewältigenden Tücken nachträglicher Unidentifizierbarkeit: Wo war das denn, was wir da haben, verdammt nochmal? Was ist da eigentlich zu sehen?

Sonnenaufgang, Sonnenuntergang? Tempel oder Kirche? Villa oder Hütte? Monument oder Museum? Eingeborener oder Mitpassagier? Oder war da einfach ein Anblick, der uns berührt hat? Aber wann? Auf welchem Meer? Welchem Kontinent? Gerade die schönsten optischen Erinnerungsstützen knicken leicht ein. Aufgeben wollen wir ihr wachsendes Chaos allerdings auch nicht.

Tagebuchschreiben? Fast alle Weltumrunder, hörte man anfangs, wollten das brav und konsequent durchziehen. Die leeren Hefte lagen bereit. Kaum jemand schreibt noch nach mehr als vier Monaten. Wohltuende Faulheit hatte die schönsten Vorsätze sacht unterminiert und verfliegen lassen.

Königsweg Kaufen

Bleibt der Königsweg aller Reisenden: das Kaufen. Kaufen ist - neben dem Faulenzen - die wichtigste Betätigung kreuzfahrender Welteroberer. Kaufen umschließt viele Vorteile, die fast alle ihre Ursprünge in negativen, scheinbar negativen Besonderheiten haben. Dem Kaufen sind gleichsam natürliche Grenzen gesetzt, die seine allzu exzessive Ausbreitung verhindern.

Man braucht erstens Geld, das auch dem gut Betuchten nicht völlig unbeschränkt zur Verfügung steht. Zweitens aber, mindestens so wichtig wie Valuta, braucht man unbedingt Platz. Nicht nur in den Kabinen, wo das Erworbene gehortet und geordnet werden muss. Man braucht Koffer, Taschen, Seesäcke, anderes, um am Ende die Erinnerungsstücke heil nach Hause bringen zu können. Deshalb besteht in kleiner werdenden Abständen ein wichtiger Kaufentschluss darin, eines dieser Behältnisse zusätzlich irgendwo günstig zu erwerben.

Konsequenzen, die sich aus der wachsenden Behälterzahl an Bord ergeben, haben wir früher bereits angedeutet. Die Probleme werden deutlicher sichtbar, je näher das Ende der Reise rückt: kein Monat mehr auf See. Alles muss verfrachtet werden.

Der Akt des Einverleibens

Doch auch dies entschwindet ins Profane, wenn wir uns einer kleinen Philosophie des Kaufens auf einer Weltreise zuwenden. Wir wollten die weite Welt kennen lernen, wollen das noch immer. Die archaische Form des Kennenlernens und Aneignens ist erst einmal das Einverleiben. Man eignet sich Welt an, fremde wie eigene, indem man sie aufisst.

Sie wird zu einem Teil des Essers. Das ist auch eine Erklärung dafür, warum das Essen auf Reisen so ungeheuer wichtig ist. Jeder Italien-Urlauber kennt das. An Bord ist Essen in allen Varianten Dauerthema. Es gibt Mitreisende, die charakterisieren ihnen vorher unbekannte Weltgegenden virtuos allein mit Hilfe ihrer Geschmacksnerven. Kann ziemlich spannend sein, wenn ein Gourmet der Speisen und der Wörter am Werk ist. Aber auch dem Essen sind natürliche Grenzen gesetzt. Außerdem verschwindet es beim Genuss.

Die Kaufen-Lösung

Abgrenzung: begrenztes Schiff, endloses Meer (Foto: Foto: Podak)

Zu einem sozusagen nicht verschwindenden Essen führt aber das Kaufen. Kaufend eignet sich der Reisende ein Stückchen Welt an, das nun seines ist, in seinem Besitz bleiben kann. Es ist möglich, sich über das Kaufen selbst zu definieren, sich darzustellen, sich den anderen zu präsentieren: Seht her, diese Maske, dieses Kleid, dieses Hemd, diese Statue, dieses Bild habe ich zu meinem Eigentum gemacht - so bin ich nun einmal.

Ich bin, was ich gekauft habe. Und umgekehrt: Sage mir, was du gekauft hast - und ich ahne, wer du bist. Welt und Ich verschmelzen im Kauf, dokumentieren die Besonderheit ihrer Beziehung in der innigen Gemeinschaft mit dem Gekauften. Nach einem heftigen Einkaufsgang durch asiatische Märkte wird laut überlegt, wo in der Wohnung zu Hause und wie das Mitgebrachte von der erweiterten Welterfahrung künden soll.

Buddhas und Elefanten

Natürlich gibt es überall, wo ein Kreuzfahrtschiff wie die MS Deutschland anlegt, Andenkenschrott für Touristen in rauen Mengen. Ihm entkommt keiner ganz. Allerdings sind die Menge und Variationsbreite der Buddhas und Elefanten im asiatischen Großraum schon umwerfend.

Fassungslos, manchmal amüsiert steht der Reisende vor den Produkten menschlichen Witzes, subtiler Handwerkskunst, maschineller Massenproduktion, die aus einer Gestalt, der des Buddhas, der des Elefanten, alles herausholen oder in sie hineinlegen, was noch an verspieltesten, verrücktesten Assoziationen sich damit verbinden lässt. Man vermutete das zwar vor der Reise schon. Die Durchführungsexzesse aber waren durch keine Phantasie-Anstrengungen vorwegzunehmen. Schwierig, sich da zurechtzufinden, das eigene Weltverhältnis in den buddhaesken und elefantösen Formen, Farben und Skurrilitäten zu finden und kaufend auszudrücken.

Unvorstellbare Schildkröten

Ein Tier allerdings bereitete Überraschungen anderer Art, bewahrte in seinem Wesen Ruhe und Gediegenheit durch alle Verzerrungen hindurch, die auch ihm im Namen des Tourismus angetan wurden. Dauerhaft eroberte es unsere Sympathie. Es ist die Schildkröte. Unvorstellbar vor dieser Reise, wo und wie überall Schildkrötendarstellungen zu finden sind.

Bereits auf der kleinen Meuterer-Insel Pitcairn fing das unauffällig an. Ein hübsches Exemplar aus polierten Holz stach ins Auge - und musste mit. Das war der harmlose Anfang einer hochgradigen Infektion. Plötzlich tauchten überall liebenswerte Schildkröten auf, aus Holz, aus Muscheln, aus Knochen, aus Stein, gar aus Silber geschmiedete. Jede mit stark ausgeprägtem anderen Charakter: weise, muffig, schlau, listig, hochmütig, gelassen - die Liste ist noch lange nicht vollständig. Jeder Hafen, jedes Land, jede Stadt, jede Insel spricht ihre eigene Schildkrötensprache.

Und als in den Gewässern des Indischen Ozeans die Erinnerung an ein altes Mythologem sich meldete, da geriet die Krankheit auf einen Höhepunkt. Es geht dabei um die Lösung des Problems, was denn die Beständigkeit, also Zuverlässigkeit der Welt bewirke. Berichtet wird, ein indischer Denker habe erklärt, die Welt ruhe sicher auf einem Elefanten. Und der Elefant? Der habe sicheren Stand gefunden auf dem Panzer einer riesigen Schildkröte. Worauf die freilich ruhe, das wisse er nicht. Die Schildkröte sei der letzte ihm bekannte Grund.

Das Weltreisetier

Das muss einen Weltreisenden bezaubern. Die vielfältige Welt, die er zu sehen und zu begreifen versucht, hilflos oft, ist, ein schönes Bild, sicher gegründet auf einer Schildkröte.

Dann lief die MS Deutschland die Seychellen an. Am südlichen Ende dieser Inselgruppe gibt es ein Eiland namens Aldabra (das wir aus Fahrplangründen nicht mehr erreichen konnten). Dort leben - das schworen Schildkröten-Fachleute in Victoria, der Seychellen-Hauptstadt - 150.000 Schildkröten friedlich zusammen. Ein kleines Buch konnte man in Victoria kaufen, in dem die Geschichten berühmter Schildkröten (jede mit Namen) gesammelt sind. Nun war auf einmal alles klar: Das Weltreisetier schlechthin ist die Schildkröte.

Botschafter von 150.000

Und dann noch dies. Victoria hat einen kleinen, wunderbaren Botanischen Garten. Zehn der Aldabra-Schildkröten leben dort in einem hübschen Gehege, als Botschafter der 150.000 anderen. Der Besuch - Pflichtveranstaltung nunmehr - zog sich über fünf Stunden hin. Wir haben uns sehr ruhig, sehr gut unterhalten.

Die Gastgeschenke, Äpfel aus den Kellern der MS Deutschland, wurden wohlwollend aufgenommen. Fotos waren nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Zum Glück gab es außer der geklauten Colombo-Kamera noch eine zweite. So konnte es zu einem ganz und gar gelungenen Festtag dieser Weltreise kommen.

Noch etwas ist erwähnenswert. Die Suche nach einem ruhenden Pol im Weltengewirr führte durch die unübersehbare Vielfalt der Schildkröten-Nachbildungen wieder hin zu lebendigen Wesen. Die werden wir nun nicht mehr vergessen, wenn wir daheim unsere Erinnerungen sortieren und zusammenfassen. Das Wappentier dieser Welt ist gefunden.

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