Zweite Amtszeit für US-Präsident Obama:Wenn der Rassismus lebt

Barack Obama, Amerikas erster schwarzer Präsident, wird zum zweiten Mal im Amt vereidigt. Allerdings fragen sich Amerikaner aller Hautfarben: Hat in den USA wirklich eine Zeit begonnen, in der Rasse belanglos ist? Und was hat Obama eigentlich sonst für seine "Brüder" und "Schwestern" getan?

Nicolas Richter, Washington

Auf seinen langen Fahrten durch die Südstaaten hat er sie immer dabeigehabt, er nannte sie seine Reisebibel. Sie war in schwarzes Leder eingeschlagen, und wenn sich Martin Luther King, der Pastor und Bürgerrechtler, nach Mut sehnte oder Inspiration brauchte, nahm er seine Bibel zur Hand. Als er 1968 ermordet wurde, war sie ziemlich abgenutzt. Sie erzählt nun nicht nur von Moses und Jesus, sondern auch vom friedlichen Widerstand in Amerika, der größtes Unrecht überwunden hat.

Am Montag wird Präsident Barack Obama auf den Stufen des Kapitols zum zweiten Mal den Amtseid sprechen, und er wird seine linke Hand auf zwei Bibeln legen: Eine benutzte Präsident Abraham Lincoln, die andere Martin Luther King. Dessen Familie teilte mit, dass er tief bewegt wäre, würde er dies noch erleben. Ein seltener Zufall des Kalenders will es, dass am Montag auch "Martin Luther King Day" ist, der Nationalfeiertag zu seinen Ehren.

2013 ist ohnehin voller wichtiger Tage, besonders für die Schwarzen: Vor 150 Jahren erklärte Lincoln alle Sklaven des Landes zu freien Menschen; vor 50 Jahren rief King zum Marsch nach Washington, der das gesetzliche Ende von Rassentrennung und Wahlschikanen gegen Schwarze einleitete. Obama schließlich vollendet als erster schwarzer Präsident des Landes, was Lincoln und King begonnen haben: Er symbolisiert die volle Gleichberechtigung der Schwarzen in einem Land, das diese Menschen so lange wie Sachen behandelt hat.

Allerdings fragen sich Amerikaner aller Hautfarben: Hat in den USA wirklich eine Zeit begonnen, in der Rasse belanglos ist? Und was hat Obama - von der Symbolik abgesehen - eigentlich sonst für seine "Brüder" und "Schwestern" getan?

Aus Sicht einiger Kritiker zementiert Obamas Präsidentschaft die Benachteiligung der Schwarzen. Es sei der Niedergang der politischen Vision, vorrangig gegen die Ungleichheit der Rassen anzukämpfen, klagt Professor Fredrick Harris. "Es ist eine Tragödie, dass die schwarzen Eliten diesen Niedergang dulden", findet der Gelehrte der Columbia University. "Sie sehen ihn als den Preis für den Stolz und die Zufriedenheit darüber, eine schwarze Familie im Weißen Haus zu haben."

Der Stolz war auch beim zweiten Wahlsieg riesig. Obama hat zwar nur 93 Prozent der schwarzen Stimmen bekommen, also zwei Punkte weniger als beim ersten Mal. Aber es blieb doch große Genugtuung. Vier Jahre lang hatten die Republikaner Obama geschmäht; er sei unfähig, ein Sozialist oder Kenianer oder alles zusammen, und oft war der Rassismus nur knapp verhüllt.

Deshalb war auch die Symbolik der Wiederwahl enorm. Das Volk wählte ihn diesmal nicht als unbekannten Hoffnungsträger, nicht aus Versehen, sondern in Kenntnis seiner Bilanz. Zwar hätte es auch von Normalität gekündet, ihn wieder abzuwählen. Die Freude der Schwarzen über die zweite Amtszeit aber offenbarte, wie wichtig es ihnen ist, dass Obama nicht nur der erste schwarze Präsident ist, sondern auch der erste wiedergewählte schwarze Präsident.

"Praktisch jeder schwarze Parlamentarier in der Opposition"

Allerdings ist Rasse deswegen noch lange keine überwundene Kategorie. Der Erfolg von Colin Powell, Condoleezza Rice, Eric Holder oder jungen Twitter-Politikern wie Corey Booker aus New Jersey mag dies zwar nahelegen, ebenso die große Zahl schwarzer Politiker, die für die letzte Kongresswahl aufgestellt wurden. Doch noch immer sind Schwarze im Vergleich zu Weißen in dieser Gesellschaft eher arm, ungebildet, arbeitslos, fettleibig, gefangen oder polizeilicher Willkür ausgesetzt.

Auch der Rassismus stirbt nicht. Nach einer Studie der Agentur AP und der Stanford University reden 51 Prozent der Amerikaner ausdrücklich negativ über Schwarze. Der Anteil erreicht sogar 56 Prozent, wenn man unterschwelligen Rassismus dazurechnet. Zu Beginn von Obamas Präsidentschaft lagen beide Werte noch bei 48 Prozent. Der Wissenschaftler David Bositis vom Joint Center für afro-amerikanische Studien spricht sogar von einer Re-Segregation der Südstaaten. Dort beherrschen die Republikaner alle Landesparlamente, während fast alle gewählten Schwarzen zu den Demokraten gehörten: "Das bedeutet, dass im Süden praktisch jeder schwarze Parlamentarier in der Opposition sitzt."

Neue Kontroversen haben daran erinnert, wie groß Vorurteile, Missachtung und Empfindlichkeiten zwischen Schwarzen und Weißen sind. Im Juli 2009 wurde der schwarze Professor Henry Louis Gates festgenommen, als er in sein Haus gelangen wollte, weil ein weißer Polizist ihn für einen Einbrecher gehalten hatte. Obama versuchte die landesweite Debatte am Ende bei einem "Bier-Gipfel" mit den Beteiligten im Weißen Hausen zu entschärfen. Obama hatte der Polizei keinen Rassismus unterstellt, bezeichnete die Festnahme aber als töricht, woraufhin ihn rechte Meinungsmacher einen Rassisten nannten.

Wenig später rief der Abgeordnete Joe Wilson "Sie lügen!", als Obama im Kongress seine Gesundheitsreform erläuterte. Eine Respektlosigkeit, die sich Wilson nach Meinung etlicher Beobachter gegenüber einem weißen Staatschef nicht erlaubt hätte. Obama reagierte abermals mit höchster Zurückhaltung und verzichtete darauf, Wilson Rassismus zu unterstellen.

Der erste schwarze Präsident geht dem heiklen Thema aus dem Weg. Als Präsident des ganzen Volkes hält er sich in dieser Frage für befangen. "Er verhält sich, als wäre seine Wahl allein schon Wandel genug gewesen, als müsse er sich nun mit Rasse nicht weiter beschäftigen", schrieb die Kolumnistin Maureen Dowd. Während Präsident Bill Clinton noch eine Debatte über die Beziehung zwischen Schwarz und Weiß anstieß, scheint Obama dazu nicht in der Lage zu sein. "Er vermeidet es, sich der Rassenfrage zu stellen", bemerkt auch Professor Randall Kennedy, "und er betont damit seine zentrale, zugleich aber unterdrückte und paradoxe Anwesenheit in der politischen Kultur der USA."

"King hat die Mauern eingerissen, und Barack ist über die Brücke gelaufen"

Schwarze Kritiker des Präsidenten wie die Professoren Kennedy oder Harris erkennen an, dass sich Obama - mehr als es Mitt Romney je getan hätte - um Ärmere kümmert, die es nur mit großer Mühe nach oben schaffen, dagegen sehr leicht nach unten, in Obdachlosigkeit, Sucht, Gewalt oder Gefängnis. Eine Schicht, in der Schwarze noch immer überdurchschnittlich vertreten sind, und die Obama nicht aufgeben will. Dafür sprechen die Krankenversicherung für alle, Universitätsstipendien, aber auch das Konjunkturpaket, das eine Krise gemildert hat, unter der die Schwarzen besonders leiden. Doch all diesen Anliegen ist gemeinsam, dass Obama sie "rassenneutral" hält.

Als der Präsident 2010 nach der hohen Arbeitslosigkeit unter Schwarzen gefragt wurde, wich er aus: "Eine Welle hebt alle Boote an", sagte er über einen erhofften Aufschwung. Doch manche Schwarze meinen inzwischen, dass ihr Präsident ihnen statt bloßer Symbolik jetzt auch Substanz bieten und sich speziell für ihren Fortschritt einsetzen sollte. "Da die Welle für manche stärker gestiegen ist als für andere, sollten wir jetzt versuchen, die Boote loszukriegen, die hängengeblieben sind", sagte jüngst Benjamin Todd Jealous, Präsident der Schwarzen-Organisation NAACP.

Anders als Martin Luther King hat sich Obama - zumindest in seiner Zeit als Senator und Präsident - kaum oder gar nicht für "die Schwarzen" eingesetzt. Aber King war eben auch nie Präsident des Landes, er wurde nie in ein Amt gewählt; er kämpfte für eine ausgegrenzte Gruppe. Als Held der einen war er die Hassfigur der anderen. Obama möchte der Präsident aller sein.

Weil die meisten Schwarzen dies anerkennen, sehen sie Obama noch immer überwiegend als Lichtgestalt, obwohl er ihnen gegenüber so distanziert ist. Clarence B. Jones, Kings einstiger Vertrauter, der die "I have a dream"-Rede mitverfasst hat, sieht einen Zauber darin, dass Obama seinen zweiten Amtseid am Martin Luther King Day leistet. Er wünscht sich, dass Obama am Montag innehält, zum King-Memorial hinüberblickt und sagt: "Martin, das ist für dich."

Auch der Pastor und Politiker Jesse Jackson sieht die Leben Kings und Obamas miteinander verbunden: "King hat die Mauern eingerissen, und Barack ist über die Brücke gelaufen. Die Steine der kaputten Wände haben diese Brücke geformt." Aber auch er verlangt echte Gleichberechtigung. Um im Bild zu bleiben, müsste man aus den Steinen der Brücke nun ein Haus bauen, in dem sich auch die Schwarzen als Teil der Familie fühlen.

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