Zweite Amtszeit des US-Präsidenten:Obamas neue Koalition

Mit seinem Eid als US-Präsident an diesem Sonntag beginnt für Barack Obama die zweite Amtszeit. Vor allem Minderheiten und weiße Städter waren es, die dem schwarzen Demokraten zur Wiederwahl verhalfen. Linke Strategen hoffen, diese "Neue Mehrheit" könne Jahrzehnte überdauern. Doch das Beispiel Denver zeigt: Die progressive Allianz ist brüchig.

Christian Wernicke, Denver

Washington DC Prepares For Presidential Inauguration

Barack-Obama-Souveniers in einem Geschenkeladen: Die harte Schlacht um dem US-Präsidenten, nun beginnt seine neue Amtszeit.

(Foto: AFP)

Marjorie Silva träumt groß. Riesengroß sogar. Davon, dass die Creme-Torten und all das feine Gebäck, das die pummelige Konditorin tagtäglich in ihrer Bäckerei anrührt, sie irgendwann reich machen. Und davon, dass Fernando, ihr Sohn, es demnächst aufs College schafft, Marketing studiert und dann die "Azucar Bakery" am öden South Boulevard von Denver zu einem Keks-Konzern ausbaut, mit Filialen überall in Colorado, ja im ganzen Land. "Ich will Millionärin werden, das ist der Plan", sagt Marjorie Silva. Sie lacht, doch sie meint es ernst. Sie glaubt, dass ihr Plan aufgehen wird, so sicher wie der Kuchenteig, der hinten im Ofen gart.

Denn Marjorie glaubt an Amerika. An "meine Chance" und den Mythos, an den sich in den Vereinigten Staaten, zumal in schweren Zeiten wie zuletzt, Millionen Menschen klammern: an den "American Dream". Das treibt diese 38-jährige Latina im Morgengrauen aus dem Bett, das hält sie bis mitternachts auf den Beinen: die Hoffnung, dass es ihren beiden Kindern einmal besser gehen und man es mit viel Fleiß und etwas Glück in diesem Land nach ganz oben schaffen wird.

Sie hat es schon weit gebracht. Vor 13 Jahren kam Marjorie Silva aus Peru mit einem Touristenvisum in Denver an. "Ich hatte meinen dreijährigen Sohn auf dem Arm, im Koffer ein paar Backbleche - und meinen großen Traum", erinnert sie sich. Nun ist sie "La Jefa", steht als Chefin stolz neben schmucken Glasvitrinen im eigenen Café, reicht einer Kundin edlen Espresso über den Tresen. Sicher, sie plagen Schulden. Jeden Monat muss sie 25.000 Dollar Umsatz machen, sonst platzt der Kredit. Egal, die Wände hat Marjorie so streichen lassen, wie sie sich ihre Zukunft ausmalt: rosarot.

Voriges Jahr ist Marjorie Silva Amerikanerin geworden. "Mit allen Schikanen", sagt sie, samt Einbürgerungstest und Treueschwur auf "Stars and Stripes". Endlich. Sie hatte es eilig, im November lauerten die Präsidentschaftswahlen: "Und diesmal wollte ich unbedingt mitentscheiden." Früher hat sich die Bäckerin nie recht für Politik interessiert. "Aber dann kamen der Anschlag von 9/11, die Kriege, die große Rezession. Da habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dass man sich einmischt."

"Auch er hat sich hochgearbeitet"

Seit mehr als vier Jahren wusste sie, für wen sie stimmen würde: "Ich bewundere Barack Obama." Dieser Präsident sorge sich "um die kleinen Leute, um Menschen wie mich - die Republikaner denken doch nur an die Reichen!" Marjorie gerät ins Schwärmen, gibt zu, dass ihr "noch immer die Tränen kommen, sobald ich Obama reden höre". Zuletzt hat sie in der Wahlnacht geweint, vor Glück. Der Aufstieg des schwarzen Mannes macht der Neu-Bürgerin Hoffnung, jeden Tag: "Auch er hat sich hochgearbeitet."

So wie Marjorie Silva denken und fühlen die meisten Latinos im Land. 71 Prozent aller Bürger lateinamerikanischer Abstimmung haben am 6. November 2012 für den Demokraten gestimmt. In Colorado, einem der zehn wahlentscheidenden "Swing States", schätzte eine Analyse den hispanischen Rückhalt für Obama sogar auf 87 Prozent. Und ebenso votierten die anderen Minderheiten massiv links. Dass 93 von 100 Afroamerikanern im nationalen Durchschnitt für den Verbleib des ersten schwarzen Hausherrn im White House stimmten, hatten die Demoskopen erwartet. Ein Schock für Republikaner aber war, dass auch die kleine, schnell wachsende Gruppe der Amerikaner asiatischer Abstammung (Asian-Americans) sich zu 73 Prozent auf Obamas Seite schlug.

Das geballte Votum aller US-Minderheiten wog 2012 schwerer denn je: Seit 1988 hat sich die Stimmkraft des bunten, nicht-weißen Wahlvolks beinahe verdoppelt, von damals 15 auf nunmehr 28 Prozent der Wähler. Dieser Trend wirkt die nächsten Jahrzehnte fort; und die Demokraten möchten lange auf dieser demografischen Welle reiten. Derweil ergreift die Republikaner Panik. In Texas, ihrer Trutzburg, wird es in nur wenigen Jahren mehr Latino-Wähler als "Anglos" (weiße Angelsachsen) geben. Falls der Cowboy-Staat in acht oder zwölf Jahren an die Demokraten fällt, bliebe das Weiße Haus auf lange Sicht für die Grand Old Party unerreichbar.

Marschbefehl: permanente Mobilisierung

Nur, 2012 hatten noch immer sieben von zehn Wählern bleiche Haut. Obama brauchte massenhaft weiße Stimmen, und er fand sie: in Großstädten, unter College-Absolventen, bei Frauen und Jungwählern. An der Wahlurne, so schwärmt Ruy Teixeira vom linken Center for American Progress, traf sich im November ein buntes Bündnis, von dem als Erster der 1968 ermordete Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy geträumt hatte: eine progressive Allianz aller Rassen und Klassen. Teixeira nennt sie "die Obama-Koalition". Oder schlicht "Amerikas neue Mehrheit".

Ruy Teixeira, ein asketischer, kahlköpfiger Intellektueller, beschreibt diese Koalition nicht nur im Nachhinein. Er hat sie seit zehn Jahren skizziert. Und 2011 mit erfunden. Im Sommer des dritten Amtsjahres, da Obama seinen 50. Geburtstag feierte und die Midlife-Krise seiner Präsidentschaft durchlebte, stritten demokratische Politikberater über die richtige Strategie für die Wiederwahl. Viele rieten, der Präsident solle sich seine Stimmen in der Mitte zusammenklauben. Teixeira hingegen wies nach links, rechnete vor, dass sich in wahlentscheidenden Bundesstaaten wie Colorado eine neue, bunte, allemal progressive Mehrheit schmieden ließe. Zerbrechlich zwar, aber doch ein Mosaik zur Macht.

2012 hat es geklappt. Und Teixeira glaubt, seine Obama-Koalition könne noch lange halten, weit über Obamas zweite Amtszeit hinaus. Unter zwei Bedingungen: Erstens müsse der Präsident jetzt seine Versprechen einlösen. Und zweitens müsse Amerikas linkes Bündnis zu einer "dauerhafteren sozialen Bewegung" reifen; nur alle vier Jahre Wahlkampf genüge nicht. Dazu passt die Nachricht vom Freitag, Obama wolle seine Kampagnen-Maschine - samt Datenbank reicher Spender und der Heerschar von Graswurzel-Aktivisten - nun in ein (steuerbefreites) Aktionskomitee verwandeln. Marschbefehl: permanente Mobilisierung.

Ob dies gelingt? Das Beispiel Denver - einer der urbanen Metropolen, in denen Obama und seine Koalition 2012 die Wahl gewannen - zeigt dies. Marjorie Silva etwa fällt dort aus. Die Konditorin winkt ab. Keine Zeit, sie wird all ihre Kraft brauchen, um den Ofen ihre Bäckerei unter Feuer zu halten. Aus Sicht der Kleinunternehmerin ist jetzt erst einmal Obama dran. Sie hat gewählt, nun soll er liefern: mehr Jobs, einen Platz am College für Kinder auch aus bescheidenen Verhältnissen. Und ein neues, großzügigeres US-Einwanderungsrecht. "Das hat er schon vor vier Jahren versprochen", sagt sie, "jetzt müssen endlich Taten folgen." Marjorie hat jahrelang selbst in Angst vor Polizeikontrollen gelebt: "Ich weiß, wie das ist."

Sie spürte, dass Mitt Romney, der als republikanischer Präsidentschaftsaspirant 2011 Ausländer ohne Papiere zur "Selbstdeportation" aufforderte, kein Herz für sie hatte. Aber sie weiß auch, dass unter Obama die Zahl der Ausweisungen illegaler Einwanderer alle Rekorde gebrochen hat. Eltern werden über die Grenze gekarrt, derweil ihre in den USA geborenen Kinder zurückbleiben. Jeder Latino kennt solche Fälle, aus der Nachbarschaft, in der eigenen Familie.

Im Juni 2012 verfügte Obama, alle Deportationen junger Mitbürger für zwei Jahre auszusetzen. Das war ein Wahlgeschenk, das Marjorie zwar beeindruckte. Aber der Kongress blockiert eine wirkliche Reform. Die erklärte Obama-Anhängerin verliert langsam die Geduld: "Es ist eine Schande, Obama muss endlich das Gesetz ändern", sagt sie unduldsam. "Er braucht zu lange."

Das sieht Kathryn Sayre genauso. Die blonde Frau, eine studierte Anglistin, berät High-School-Absolventen bei der Wahl von Beruf und Studium. Sie wohnt in Washington Park, einem Viertel mit kleinen schmucken Bungalows, in denen Denvers gebildete Mittelschicht lebt. Eine demokratische Hochburg. Kathryn, inzwischen 54, nennt sich selbst eine Linke: "Noch nie im Leben habe ich republikanisch gewählt." Vor vielen Jahren hat sie ihrer damals noch kleinen Tochter die Politik simpel so erklärt: "Republikaner denken, du sollst all dein Geld behalten. Demokraten glauben, man muss anderen helfen."

"Hope" und "Change"? - ausgeträumt!

Weiße, gebildete Frauen wie Kathryn haben Obama im November gerettet. Ihre Männer stimmten überwältigend für Romney, derweil die meisten weiblichen College-Absolventen mit heller Haut, die 2008 für Obama votiert hatten, dem Präsidenten treu blieben. Doch die Euphorie von damals ist verflogen. "Hope" und "Change"? - ausgeträumt! Vor vier Jahren zog Kathryn Sayre von Haus zu Haus, um für Obama zu werben. Diesmal tat sie nichts. Keine Spende, kein blaues Werbeschild im Vorgarten. Nur ihre Stimme hat sie ihm geschenkt.

Obamas erste Amtszeit hat Kathryn ernüchtert. Die wirtschaftliche Krise, die politische Blockade der Republikaner hätten den Präsidenten zermürbt: "Er ist müde, ich mache ihm da keinen Vorwurf." Sie spürt es ja an sich selbst. "All das Gerangel in Washington", stöhnt sie, ehe sie nach einer Pause anfügt: "Ich hab' die Nase voll von der Politik!"

Klar, sie hat Obama wiedergewählt. "Wen sonst?" Aber wenn der Demokrat am Montag in Washington den Beginn seiner zweiten Amtszeit feiert, wird sie nicht wie vor vier Jahren gebannt vorm Fernseher hocken. Oder wie 2008 mit linken Freundinnen ein Glas Champagner trinken. Immerhin, dass der Präsident trotz all der Enttäuschung wiedergewählt wurde, deutet Sayre als gutes Omen. Colorado, so glaubt sie, wird dauerhaft demokratisch bleiben. Und die neue progressive Koalition werde halten, auch ohne Obama: "Er hat unsere Träume nicht erfüllt. Aber das zeigt auch: Diese Mehrheit ist nicht an diesen Präsidenten gebunden."

So mancher demokratischer Stratege ist sich da weniger sicher. Craig Hughes zum Beispiel, Obamas oberster Kampagnen-Manager in Colorado, legt die Stirn in Falten, sobald er Ruy Teixeiras These von der Obama-Koalition und der Vision einer dauerhaften linken Mehrheit vernimmt. Dass Hillary Clinton oder Joe Biden anno 2016 automatisch von denselben Kräften zum Sieg getragen würden, sei beileibe nicht ausgemacht.

Der 44-jährige Demokrat weiß, wie viel Aufwand hinter dem Sieg vom November steckte. Obamas Kampagnenapparat, mit 65 Büros und 300 hauptamtlichen Funktionären allein in Colorado, war weitaus größer als noch 2008. Und dreimal so mächtig wie Romneys lokale Truppen. Zudem funktionierte die Wahlkampfzentrale in Chicago professioneller als die Maschinerie der Republikaner. "Sicher, die Trends stehen günstig", sagt der Politberater, "aber jeder Kandidat muss sich seine eigene Koalition neu schaffen."

Hughes hat, unterstützt von präzisesten Wählerdaten aus Obamas Computern in Chicago, 2012 schlicht seinen Auftrag erfüllt: Sieg in Colorado. Alle internen Prognosen stimmten. Es war knapp. Aber es reichte, weil sich 2012 plötzlich eine andere, bisher meist schweigende Minderheit zu Wort meldete: "die Asiaten".

Dass im November mehr Amerikaner asiatischer Abstammung denn je an die Urnen strömten, verdankt Obama Aktivisten wie D. J. Ida. Die kleine, agile Enkelin japanischer Einwanderer mischt sich seit Jahren ein, im Büro der Psychologin hängt eine goldene Tafel an der Wand: "Asian American Hero of Colorado 2012". Im Herbst vorigen Jahres fuhr diese 63 Jahre alte Frau fast täglich nach Thornton, einer Vorstadt im Norden von Denver, wo viele Asiaten wohnen. Sie hat berufliche Termine geschwänzt, ihren Mann versetzt - "ich war Tag und Nacht für Obama auf den Beinen."

Die Koalitionäre sind realistisch geworden

Auch D.J. Ida war oft enttäuscht von Obama. Aber sie befürchtete, die Republikaner würden seine Gesundheitsreform rückgängig machen. Und sie wollte das Vorurteil widerlegen, wonach Asiaten - Amerikas gebildete und erfolgreiche Muster-Minderheit - zu brav sind, um sich Gehör zu verschaffen. "Stolz, puren Stolz" empfindet sie, dass drei Viertel aller Asiaten für Obama votierten: "Dies ist auch unser Sieg, wir haben bewiesen, dass es auf uns ankommt."

D.J. ist ein Energiebündel. Und Optimistin. Obamas Koalition werde fortleben, auch ohne den Namensgeber. Sicher, viele Asiaten hätten auch für den schwarzen Präsidenten gestimmt, weil sie hinter dem erbitterten Widerstand der Republikaner instinktiv auch rassistische Motive vermuteten. "Aber es wäre doch eine Schande, wenn wir einen farbigen Kandidaten bräuchten, nur um für unsere Interessen zu stimmen", sagt sie. Ja, die neue Mehrheit werde fortdauern, auch wenn ihre Mosaikteile einander bis heute kaum kennen. Latinos, Asiaten, Afro-Amerikaner, Studenten, Frauen leben nebeneinander her. "Wir alle ringen für die eigene Sache, uns fehlt schlicht die Zeit, uns zu vernetzen", glaubt D.J. und lächelt: "Zu oft streiten wir um Krümel, statt für einen größeren Kuchen zu kämpfen."

Auch Kevin Hydock, Jungmanager und Demokrat, räumt ein, dass sich die Obama-Koalition selbst fremd sei. Zu seinem Freundeskreis gehören kaum Latinos oder Afroamerikaner, "ich sortiere meine Freunde nicht nach ihrer politischen Orientierung." Der beste Beweis ist seine Frau Deanne, mit der zusammen der Versicherungsangestellte in einer Buchhandlung gerade Deutsch büffelt. Sie ist Republikanerin. Zusammen wollen beide demnächst für drei Jahre nach Hannover ziehen.

Jungwähler unter 30 haben im November zu 60 Prozent für Obama gestimmt. Auch Kevin, 26 Jahre alt, ist Demokrat - "aber ich bin moderat, kein Linker". Die Staatsverschuldung macht ihm Angst. In der Wahlnacht nahm er Obamas Sieg gelassen: "Ich war erleichtert, aber nicht euphorisch." Der Rausch ist also vorbei, Kevin blickt nüchtern auf sein einstiges Idol. Die Begeisterung, die Latinos, Afroamerikaner oder Asiaten für ihren Präsidenten verspüren, wallt in ihm nicht mehr auf. "Vor vier Jahren hatte ich gehofft, Obama sei mehr als ein einfacher Politiker", sagt der junge Mann, "jetzt hoffe ich, dass er einfach ein besserer Präsident wird." Ein normalerer Politiker, "mit weniger Vision und mehr Taten." Obamas Koalitionäre, zumal die Weißen, sind realistisch geworden. Ob sich 2016 der Traum von der neuen, dann schon alten Mehrheit wieder erfüllt? Kevin zögert. Demokrat ist und bleibt er, aber wählen könne er auch anders. "Vielleicht."

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