Zuwanderung:Flüchtlingskrise: Merkel ringt mit den Kraftmeiern

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Kanzlerin Angela Merkel ringt in der Flüchtlingskrise nicht nur mit anderen europäischen Staaten. (Foto: AFP)

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wechselt in einen neuen Modus. Nach Entsetzen und Empörung könnte nun Ernsthaftigkeit folgen. Trotzdem steht Kanzlerin Merkel weiter alleine da.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Politisch lebt Angela Merkel derzeit von der Hand in den Mund. Das Ergebnis des EU-Gipfels in Sachen Flüchtlingspolitik ist nicht üppig, aber doch gut genug, um vorerst den Weg weiterzugehen, den die Kanzlerin sich vorgenommen hat. Eine Zwischenbilanz hatte sie für diesen Gipfel angekündigt. Wie sich nun herausstellt, ist deren bedeutendste Erkenntnis ein neuer Termin für die nächste Zwischenbilanz: Anfang März soll ein Sonderrat der EU mit der Türkei bewerten, ob die Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik funktioniert. Etwas mehr Zeit ist mithin ein kleiner Erfolg, den Merkel von diesem Gipfel mitbringt.

Auch gemessen an der Isolation in der Europäischen Union, die Merkel vor dem Gipfel vielfach zugeschrieben wurde, steht die Kanzlerin nun doch ein wenig besser da. Die meisten europäischen Partner folgen ihr zwar keineswegs mit Begeisterung - Merkel schleppt sie hinter sich her. Sie will, dass die anderen Staats- und Regierungschefs die Kooperation mit der Türkei, die Merkel seit Wochen alleine vorantreibt, wenigstens einmal ernsthaft in Augenschein nehmen. Sie muss dafür freilich an einige Kraftmeier und Zäunebauer in der EU hinreden, als sollten sie zum Schnupperkurs Yoga gehen.

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wechselt mit diesem Gipfel in einen neuen Modus. Den Phasen des Entsetzens über den Zustrom und der Empörung über die Deutschen könnte nun die Phase der Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung folgen. Es ist unbestreitbar, dass Merkel in den vergangenen Wochen auch durch eigene Fehler vereinsamte - aber die Kanzlerin war eine Isolierte unter Isolierten. Denn auf die Flüchtlingswelle reagierte praktisch jedes EU-Land mit dem Rückzug auf eigene Interessen, getrieben von der Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten. Die aber unterscheiden sich nicht nur zwischen Deutschland, Frankreich oder Polen, sondern auch zwischen Schweden und Griechenland, ja sogar zwischen ähnlichen Nachbarn wie Slowenien und Kroatien. Ein jeder kämpfte für sich allein - der ungeschriebene Artikel eins der europäischen Charta ist in solchen Phasen das Sankt-Florians-Prinzip.

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Nur eine Lösung bot das nicht. Die EU muss eben immer erst in den Abgrund schauen, um auf den Gedanken zu kommen, dass man gemeinsam womöglich doch mehr erreichen kann. Das war in der Griechenland-Krise nicht anders. Wobei genau diese Krise auch Anschauungsmaterial bietet für die Rentabilität steter Bemühungen um den Konsens: Wer die Schwierigkeiten Griechenlands mit dem Flüchtlingszuzug jetzt beklagt, stelle sich nur mal vor, derselbe Ansturm hätte das Land in einem Post-Grexit-Taumel getroffen, irgendwo zwischen Drachme und Desaster.

Der Versuch einer neuen Gemeinsamkeit ist mitnichten eine Garantie dafür, dass Europa die Flüchtlingskrise doch noch auf andere Weise als mit totaler Abschottung bewältigt. Bis jetzt liegt nur eine abstrakte Absichtserklärung der 28 Staaten vor, Merkels europäisch-türkischen Ansatz abzuwägen. In zwei Wochen kann es, je nach Flüchtlingszahlen auf der Balkanroute, schon wieder vorbei sein mit der Einigkeit. Auf dem Weg von Syrien nach Europa erwarten nicht nur jeden Flüchtling enorme Risiken - auch politisch sieht das nicht anders aus.

Die Lage in Syrien hat Merkel jüngst mit "unverändert deprimierend" fast noch schönfärberisch beschrieben. Der Tisch, auf dem die außen- und innenpolitischen Probleme der Türkei sich häufen, ist so überladen wie sonst nur die Buffets in türkischen Hotels. Griechenland kämpft, die Balkanstaaten ächzen, Österreich reduziert die Zahl der Flüchtlinge mit Zwangsmitteln. Freilich, bei aller Kritik an Wien: 80 Asylanträge pro Tag machen immer noch knapp 30 000 im Jahr. Wenn jedes europäische Land, das die Flüchtlingsaufnahme bisher komplett verweigert, sich entsprechend seiner Einwohnerzahl so verhielte wie Österreich selbst jetzt, da es die Aufnahme von Flüchtlingen reduziert, wäre das Flüchtlingsproblem entschärft.

Die Kanzlerin hat in Brüssel in der ihr eigenen Diktion gesagt, "dass die Dringlichkeit, schneller zu werden, absolut gegeben ist". Auf Deutsch heißt das: Der Druck bleibt gewaltig. Die Regierungen auf dem Balkan erwarten ein Ende der Ungewissheit, wie viele Flüchtlinge noch durch ihre Länder ziehen - erst gen Norden, bei immer neuen Grenzschließungen womöglich auch wieder gen Süden oder letztlich kreuz und quer. Und es ist auch nachvollziehbar, dass andere Staaten, bevor sie die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen überhaupt prüfen, die Sicherheit haben wollen, dass nicht unzählige Illegale noch obendrauf kommen.

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Auch der innenpolitische Druck auf die Kanzlerin hat mit diesem Gipfel nicht nachgelassen. Für einen Stimmungsumschwung, der das Protestpotenzial bei den drei Landtagswahlen im März noch spürbar reduzieren könnte, kommt der nächste Gipfel zu spät. Merkels Macht ist nicht gefährdet, aber egal, ob die CDU oder die SPD besonders in Mitleidenschaft gezogen wird - die Spannungen in der großen Koalition nehmen zu, wenn eine von beiden Parteien besonders heftig büßen muss.

Merkel hat es zwischen Aleppo und Berlin mit Kollegen aller Kategorien zu tun: mit Verbrechern wie Syriens Präsident Assad, schießwütigen Autokraten wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan, unentschlossenen Ausscheidern wie Barack Obama, armen Schluckern wie Alexis Tsipras, Wankelmütigen wie Werner Faymann - und dann noch einem politisch und von parteiinterner Konkurrenz getriebenen Horst Seehofer. Der CSU-Vorsitzende hat den Gipfel moderat kommentiert.

Seehofer, dem es an politischem Gespür nicht fehlt, dürfte wissen, dass er mit dem Wort von der "Herrschaft des Unrechts" den Bogen überspannt hat. Nun soll auf einen EU-Gipfel, vor dem er sich tagelang ganz diszipliniert verhalten hatte, gleich der nächste Gipfel folgen. Wenn er dessen Erfolg nicht gefährden will, wird er sich weiter zurückhalten müssen. So hätte Merkel mit dem Gipfel in Brüssel an dieser Front daheim sogar eine Verschnaufpause erhalten.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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