Zur Lage der Nation:Die deutsche Sehnsucht

Die Deutschen hätten durchaus Anlass, gelassen zu sein - doch sie sind es nicht. 2010 hat sich auf ganz unterschiedliche Weise eine grundsätzliche Unzufriedenheit manifestiert, besonderes Kennzeichen: der Wunsch nach einem anderen Politikstil.

Nico Fried

In der milden Stimmung eines Jahreswechsels kann man es auch mal so sehen: Gut, dass es Guido Westerwelle gibt. Ein Land, das nur mit Politikern wie ihm oder auch Horst Seehofer oder vielleicht noch Sigmar Gabriel zu hadern hat, ist ein glückliches Land. Die sprunghaften drei sind die politischen Verlierer 2010, aber die Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, ist doch größer als die Wirkung, die sie entfalten. Das sieht man schon daran, dass der Schaden, den sie tatsächlich anrichten, ihre Parteien stets härter trifft als das Gemeinwesen.

Demonstrators protest against the proposed demolition of the historical Stuttgart train station

Zoff um den Bahnhof: In Stuttgart rebellierte 2010 das Volk, Politsenior Heiner Geißler musste schlichten.

(Foto: Alex Domanski/Reuters)

Es gibt Schlimmeres. In Italien unterwirft ein Ministerpräsident das Wohl eines ganzen Landes seinen Bedürfnissen, den geschäftlichen wie den libidinösen. In den Niederlanden toleriert mittlerweile ein Mann die Minderheitsregierung, dessen Toleranz zumindest stark in Zweifel steht. In Ungarn maßregelt ein Regierungschef, der künftig sogar für Europa spricht, die Medien mit fragwürdigen Methoden. Nein, es ist wahrlich nicht alles gut hier in Deutschland. Aber manches ist gar nicht so schlecht.

Trotzdem steht Ende 2010 das Land besser da als seine Politiker. Das ist bemerkenswert nach einem Jahr, in dem die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten so gut wie überwunden wurde. Griechenland, Spanien, Portugal und Irland kämpfen dagegen an, im Strudel ihrer Verschuldung an Souveränität einzubüßen. Großbritannien und Frankreich müssen Veränderungen beginnen, die Deutschland größtenteils hinter sich hat. Die Politik hierzulande aber hängt im Ansehen hinter ihren Ergebnissen zurück, jedenfalls wenn man akzeptiert, dass die rot-grünen Reformen vor der Krise und mehrere Rettungsschirme, das Kurzarbeitergeld, vielleicht sogar die Abwrackprämie die Erholung erleichtert haben.

Deutschland ist ein ziemlich stabiles Land in unruhiger Umgebung. Die Wiedervereinigung wird selbst in der Linkspartei mittlerweile als Gewinn empfunden, während man in Belgien fürchten muss, dass das Land nicht als ein Staat erhalten bleibt. Keine Fraktion im Bundestag zweifelt am Klimawandel, womit die Deutschen doch schon weiter sind als die Amerikaner. Dafür gibt es wahrscheinlich kein anderes Land, in dem ausgerechnet eine Steuer-Erleichterung so akribisch kritisiert wird wie die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels - wobei genau daran gut zu sehen ist, dass nicht jede Dummheit mit einer Unterwanderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gleichzusetzen ist.

Die Deutschen hätten also durchaus Anlass, gelassen zu sein. Aber allem Anschein nach sind sie es nicht. 2010 hat sich auf ganz unterschiedliche Weise eine grundsätzliche Unzufriedenheit manifestiert. Den Gegnern von Stuttgart 21 gelang es, ihren Protest zu einer generellen Demonstration bürgerlicher Frustration gegen Entscheidungsprozesse an sich zu stilisieren. 15 Jahre lang hat man sie angeblich ignoriert. Und das Buch eines ehemaligen Berliner Finanzsenators wurde von all jenen gefeiert, die der Politik vorhalten, vor den Problemen die Augen zu verschließen. Was dem einen sein Planfeststellungsverfahren, ist dem anderen sein Kopftuch-Mädchen. 1,2 Millionen Käufer bilden nun das, was gerne die schweigende Mehrheit genannt wird.

So unterschiedlich die Anlässe des Protests, so erstaunlich sind doch manche Parallelen. Die Käufer von Thilo Sarrazins Buch wie auch die Demonstranten in den Stuttgarter Bäumen trieb eine wirkliche oder auch nur gefühlte persönliche Betroffenheit. Der eine bangt um den Südflügel, der andere um die Leitkultur. Vor allem knüpften sie die Hoffnung, dass ihre subjektive Not gelindert werde, an ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit einer bemerkenswerten Gemeinsamkeit: Sowohl Thilo Sarrazin als auch Heiner Geißler verdanken ihre Beachtung maßgeblich dem Umstand, dass sie einst zum Establishment gehörten - ehe sie sich davon abgrenzten. Es verleiht dem merkwürdigen Missmut an der Politik offenbar eine besondere Note, wenn er sich auf Autoritäten berufen kann, die sich im Betrieb auskennen, ohne zu sehr mit ihm identifiziert zu werden.

Diffuser Wunsch nach einem anderen Politstil

Die Attraktivität des irgendwie anderen Politikers war überhaupt ein besonderes Merkmal des Jahres 2010. Bei allen Unterschieden zwischen den Personen begegneten doch Thilo Sarrazin, Heiner Geißler, aber auch Joachim Gauck und letztlich auch Karl-Theodor zu Guttenberg dem Wunsch nach einem anderen Stil der Politik. Wie diffus der ist, offenbart schon die Vorstellung, alle vier müssten zusammen eine Partei gründen.

Genau im Umgang mit ihrer Popularität endet aber auch die Gemeinsamkeit. Sarrazin hat mit seiner Provokation vor allem ein Geschäft gemacht. Joachim Gauck erhielt keine Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Bundespräsident zu beweisen. Heiner Geißlers Verdienst aber besteht darin, dass er sein Ansehen dazu nutzte, den Bahnhofsstreit in geordnete Bahnen zurückzuführen. Der Schlichter war ausreichend eitel, seine späte Popularität zu genießen, aber auch verantwortlich genug, sich nicht über andere zu erheben. So kann man die Politik mit den Bürgern versöhnen, wo es denn nötig ist.

Wie weit die Verantwortungsethik eines Karl-Theodor zu Guttenberg reicht, weiß man noch nicht. Beim Afghanistan-Einsatz hat er seine Popularität genutzt, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Das führt zu der paradoxen Lage, dass eine Mehrheit der Deutschen diesen Krieg ablehnt, den Mann aber, der ihn in hohem Maß mit zu verantworten hat, mit noch viel größerer Mehrheit gut findet. Zugleich baut der Minister sein Ressort zu einem Familienbetrieb um und verschafft seiner Frau eine mediale Legitimation, die sie politisch nicht hat.

Politische Popularität ist ein wertvolles Gut. Sie honoriert durchaus auch eine gewisse unaufgeregte Zielstrebigkeit, wovon 2010 vor allem Frauen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen oder Hannelore Kraft profitierten, während Guido Westerwelle ins Bodenlose stürzte. Noch mehr aber schätzen die Bürger, wenn einer plötzlich ganz anders als andere erscheint. Frank-Walter Steinmeiers Deutschland-Plan war 2009 bei der Wahl 23 Prozent wert. Eine Nierenspende aber machte ihn zu einem der beliebtesten Politiker im Land.

Das Jahr 2011 wiederum wird erst einmal denen gehören, die all die Gaucks, Guttenbergs und Geißlers erst so besonders wirken lassen. Bei vier Landtagswahlen bis März treten Leute an, die in der Politik manches zustande bringen, aber bestimmt keine lässige Ausstrahlung. Unter Kandidaten wie Olaf Scholz, Stefan Mappus oder den Kontrahenten in Sachsen-Anhalt, deren Namen man schon mal vergessen kann, geht einer wie Kurt Beck fast als Charismatiker durch.

Trotzdem ist eben nur dann ein Staat zu machen, wenn es auch diese Leute gibt. Wenn die Bürger von der Politik wieder stärker eingebunden werden wollen, böte sich als Gegengeschäft an, dass sie auch ihre Politiker wieder ernster nehmen. Demokratie ist Arbeit, ist Planfeststellungsverfahren, ist Vermittlungsausschuss. Das ist wahrlich nicht immer faszinierend. Aber es gibt Schlimmeres.

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