Zum Tod von Egon Bahr:Verwegener Vordenker eines besseren Europas

Im Krieg schoss Egon Bahr Bomber vom Himmel, später ließ er sich von Kennedy zu der Entspannungspolitik inspirieren, die Europas Geschichte veränderte. Über einen Mann, in dem Willy Brandt vielleicht seinen einzigen Freund sah.

Nachruf von Thorsten Denkler, Berlin

Der Tag, an dem Egon Bahr die Tränen kommen, ist der 6. Mai 1974. Einen Tag zuvor hatte Willy Brandt seinen engsten Parteifreunden gesagt, dass er als Kanzler zurücktreten würde - sein enger Mitarbeiter Günter Guillaume war als DDR-Spion enttarnt worden. Nun kommt die SPD-Fraktion in ihrem Sitzungsaal in Bonn zusammen. Es ist eng, die Stimmung angespannt. Fraktionschef Herbert Wehner erklärt die Lage. Willy Brandt kommt herein. Fotografen und Kameraleute umringen ihn. Wehner unterbricht seine Rede. Dann sagt er jene Sätze, die Bahr die Zornestränen in die Augen schießen lassen. (In diesem Video ab Minute 41:03)

"Die Fraktion! Grüßt! Willy Brandt", peitscht Wehner hervor. Und fährt fort: "Sie grüßt in ihm den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und steht hinter ihm, komme, was da will! Wir fühlen Schmerz über das Ereignis, Respekt vor der Entscheidung und Liebe zur Persönlichkeit und zur Politik Willy Brandts miteinander!"

In der Erinnerung von Egon Bahr wird sich diese Sequenz später verkürzen auf: "Du weißt, wir lieben dich."

"Heuchelei", nannte Bahr das später. In seinen Augen nutzte Wehner die Affäre um Guillaume, um Brandt zum Rücktritt zu zwingen. Der DDR-Geheimdienst hatte es geschafft, Guillaume in den engsten Mitarbeiterstab Brandts einzuschleusen. Wehner und auch der damalige Außenminister Walter Scheel (FDP) sollen weit vor Willy Brandt davon Kenntnis erhalten haben.

Brandt bietet den Job an, Journalist Bahr sagt sofort ja

Die Tränen von Egon Bahr zeigen: Brandt ist nicht denkbar ohne Bahr. Und Bahr nicht ohne Brandt. Der eine, Bahr, war der Stratege, der Konzeptionist. Brandt, der Kanzler, war der Mann, der "mehr Intuition im Hintern hatte als andere im Kopf", wie Bahr über seinen Chef sagte.

Die Geschichte dieser historischen Zusammenarbeit beginnt weit vor Brandts Kanzlerschaft. Nach gut drei erfolgreichen Jahren im Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin suchte Brandt 1960 einen neuen Pressechef. Er wurde auf Egon Bahr aufmerksam, einen Journalisten, der für den RIAS aus der Bundeshauptstadt Bonn berichtete. Als ihm Brandt das Angebot unterbreitete, hatte Bahr bereits zwei weitere Jobs in Aussicht: Er sollte unter Henri Nannen stellvertretender Chefredakteur des Stern werden und das Auswärtige Amt wollte ihn in den diplomatischen Dienst holen.

Themenpaket Willy Brandt

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, mit seinem Senatspressechef Egon Bahr im Dezember 1963.

(Foto: dpa)

Bahr verhandelte nicht. Er sagte sofort ja. Er wollte Politik nicht länger beschreiben. Er wollte gestalten. An der Seite Brandts schien ihm das möglich. Er konnte nicht ahnen, wohin ihn das führen würde.

Ein Jahr später bewarb sich Brandt erstmals um das Amt des Bundeskanzlers. Er verlor gegen Adenauer. 1965 versuchte er es erneut gegen Ludwig Erhard. Wieder verlor er.

1969 probierte Brandt es wieder. Wieder lag die SPD hinter der Union. Aber Brandt hatte diesmal die FDP auf seiner Seite, die nach vier Jahren Großer Koalition regieren wollte. Brandt wurde gegen den Willen seines Parteifreunds Herbert Wehner zum Bundeskanzler gewählt, der lieber die Große Koalition fortgeführt hätte. Die Zeit für das Gespann Brandt/Bahr war gekommen.

Die Ära Brandt wird vor allem mit einem verbunden bleiben: der neuen Ostpolitik. Wenn Brandt ihr Erbauer war, dann war Bahr ihr Architekt.

Den Anfang nahm diese geschichtsentscheidende Politik in der Rede des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy an der Freien Universität in Berlin im Juni 1963. Darin machte Kennedy klar: Ein einiges Europa, ein wiedervereinigtes Deutschland werde es nur mit der Sowjetunion geben können. Nicht aber gegen sie.

Bahr muss das elektrisiert haben. Kaum einen Monat später sollte er eine Rede Brandts an der evangelischen Akademie in Tutzing mit einem eigenen Vortrag flankieren. Brandt und Bahr haben lange an diesem Auftritt gefeilt, sie wollten etwas völlig Neues wagen. Und Brandt sollte es verkünden.

Fehde mit Wehner, Häme aus Ost-Berlin

Es war nicht Bahrs Absicht, Brandt die Schau zu stehlen. Aber nach den beiden Reden blieben vor allem Bahrs Worte in den Köpfen zurück: "Wandel durch Annäherung". Ein geradezu revolutionäres Diktum.

Die militärischen Blöcke der Nato-Staaten und des Warschauer Paktes standen sich in den 1960er Jahren hochgerüstet gegenüber. Es war noch kein Jahr her, dass die Kuba-Krise die Welt beinahe in einen Atomkrieg gestürzt hätte.

In dieser weltpolitischen Lage war der Gedanke kühn, nein, verwegen, einen "Wandel durch Annäherung" erzeugen zu wollen. Und ihm begegnete umso größeres Misstrauen. Wehner nannte den außenpolitischen Strategiewechsel "Bahr-en Unsinn".

Dahinter steckte womöglich mehr als nur ein anderes außenpolitisches Verständnis. Bahr nannte Wehner zuletzt einen "Verräter". Wehner habe mit seinem alten Freund Erich Honecker verabredet, dass die beiden deutschen Staaten friedlich nebeneinander koexistieren sollten. Eine Wiedervereinigung sei weder in Honeckers noch in Wehners Kopf vorgesehen gewesen. Die neue Ostpolitik hatte da keinen Platz.

Bahr und Brandt ließen sich nicht aufhalten. Bahr reiste nach Moskau. Monatelang lotete er die Chancen für Verhandlungen aus. Der Empfang war nicht gerade freundlich, der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin begegnete Bahr mit einem frostigen: "Ich höre." DDR-Außenminister Otto Winzer nannte Bahrs Reise-Diplomatie verächtlich eine "Aggression auf Filzlatschen".

In der Heimat war es nicht besser. Als Vaterlandsverräter mussten sich Brandt und Bahr beschimpfen lassen. Nach und nach wechselten sogar einzelne Abgeordnete von SPD und FDP zur CDU.

Im August 1970 feierte Chefunterhändler Bahr den ersten Erfolg. Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion einigten sich auf den Moskau-Vertrag. Darin verpflichteten sich beide Seiten, den Frieden zu wahren und den Entspannungsprozess zu fördern. Dazu gehörte auch, die bestehenden Grenzen zu respektieren. Von den deutschen Konservativen wurde mit besonderem Missmut aufgenommen, dass die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Polen und der DDR als unverletzlich eingestuft wurde.

Es folgte der Warschauer Vertrag von 1970, der die Beziehungen zu Polen auf eine neue Grundlage stellte. Kurz vor der Unterzeichnung kniete Brandt überraschend vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos nieder; sie ist eine der großen Gesten in der Geschichte der Bundesrepublik.

Wenig später wurde noch das Transitabkommen mit der DDR unterzeichnet, das weitgehend ungehinderten Autoverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik ermöglichte.

Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) überzeugte das alles nicht. 1972 glaubte er, genug Stimmen für einen Sturz Brandts beisammen zu haben. Er irrte sich.

Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum hatten Brandt und Bahr in der Bevölkerung mehr Unterstützung für ihre Politik als je zuvor. Brandt, der Mann mit der Intuition, nutzte die Stunde und veranlasste Neuwahlen. Die Bundestagwahl im selben Jahr wurde zu einer Abstimmung über Brandts Ostpolitik. Die Rechnung ging auf: Brandt errang mit 45,8 Prozent den höchsten Sieg der SPD. Die Sozialdemokraten wurden erstmals stärkste Kraft im Bundestag.

Geschlagen war der Kampf um die Ostpolitik damit nicht. Bahr wurde nach der Wahl zum Minister für besondere Aufgaben befördert. Er handelte als solcher noch den Grundlagenvertrag mit der DDR aus, in dem erstmals das Binnenverhältnis beider deutscher Staaten geregelt wurde.

In der sozialliberalen Koalition aber gärte es weiter. Wehner und Honecker hielten engen Kontakt. Längst wusste Wehner von dem Spion in Brandts Umfeld. So erinnerte sich später zumindest Bahr. Wehner sagte Brandt aber nichts. Stattdessen mokierte er sich öffentlich über den Kanzler, als dieser 1973 nach Moskau reiste: "Der Herr badet gerne lau." Auch aus der DDR drang nichts über ihren Top-Spion nach Moskau. Bis Guillaume aufflog. Und Brandt zurücktrat.

Unterzeichnung des Grundlagenvertrags in Ost-Berlin, 1972

Unterzeichnung des Grundlagenvertrags in Ost-Berlin 1972: der bundesdeutsche Staatssekretär Egon Bahr (vorne links) und sein DDR-Amtskollege Michael Kohl (vorne rechts) nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages am 21. Dezember 1972 im Ostberliner Ministerratsgebäude.

(Foto: DPA)

Brandt bleibt sein Chef

Finanzminister Helmut Schmidt wurde sein Nachfolger. Schmidt machte Bahr zum Entwicklungshilfeminister. Mit der Wahl 1976 schied Bahr aus der Bundesregierung aus. Er blieb noch bis 1990 Abgeordneter des Bundestages. Von 1976 bis 1981 war er Bundesgeschäftsführer der SPD. Willy Brandt - bis 1987 Vorsitzender der SPD - blieb sein Chef.

Nach dem Tod von Willy Brandt 1992 blieb Bahr der Diener seines Herrn. Im besten, im freundschaftlichen Sinne. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, das Erbe des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers zu wahren. Auf dem Sterbebett hat Brandts Sohn Lars den Vater gefragt, welche Freunde er habe. "Egon", soll Brandt da nur gesagt haben.

Es war für Bahr die höchste Auszeichnung, die ihm je wiederfahren ist.

Bahr ist ein Kind des Krieges. Zur Welt kam er in Thüringen. Mit 20 Jahren ging er 1942 zur Wehrmacht. Bevor er wegen seiner jüdischen Großmutter die Uniform ablegen musste, schoss Bahr Bomber vom Himmel. Er tötete wohl auch Menschen - und wunderte sich anschließend über sein eigenes Triumphgefühl. Auch deswegen suchte er den Frieden. Diese Suche ist seine Hauptmotivation, in die SPD einzutreten. "Ich wollte mithelfen, dass der Frieden bleibt", sagte er einmal.

Es ist ihm gelungen.

Egon Bahr starb in der vergangenen Nacht im Alter von 93 Jahren.

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