Zum Tod von Ariel Scharon: Der Mann, den sie Bulldozer nannten

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Ariel Scharon (2005): Zeit seines Leben galt Israels Ex-Regierungschef als "Bulldozer", kurz vor seinem Gehirnschlag im Januar 2006 allerdings hatte er sich in einen wendigen Bulldozer verwandelt

(Foto: AFP)

Ariel Scharon spaltete: als Patron der jüdischen Siedler, Ideengeber des Trennwalls, Mitschuldiger an den Massakern von Sabra und Schatila und als Provokateur der zweiten Intifada. Allerdings setzte er auch den Rückzug aus dem Gazastreifen durch. Frieden mit den Palästinensern erreichte er nicht, aber er fand Frieden mit sich selbst.

Ein Nachruf von Thorsten Schmitz

Die Nachricht über Ariel Scharons dramatischen Gesundheitszustand war noch keine zwei Stunden alt, als Leser der israelischen Tageszeitung Haaretz ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Manche wünschten ihm auf der Internetseite des Blattes "Gute Besserung". Manche aber schrieben hasserfüllt: "Noch immer haben die Siedler vom Gazastreifen keine neuen Häuser" und "Am Leben soll er bleiben, noch ein bisschen, um noch ein bisschen mehr zu leiden". So ging es Scharon auch zu Lebzeiten: In seiner Heimat wurde er vergöttert oder gehasst. Kalt ließ er niemanden.

Nun ist Ariel Scharon gestorben, nach unglaublichen acht Jahren im Koma. Die Ärzte hätten sein Leben nach dem Nierenversagen erneut künstlich verlängern und ihn an Dialysegeräte anschließen können. Aber Scharons Söhne Gilad und Omri waren schließlich einverstanden, ihren 85 Jahre alten Vater nur noch passiv zu behandeln.

Vor einem Jahr noch sorgte Scharon für positive Schlagzeilen. Er reagierte auf klassische Musik und auf Stimmen von Familienmitgliedern, das hatte ein Team von Gehirnspezialisten festgestellt. Gleichzeitig aber hat die Kritik im Lande nie nachgelassen: Dass ein Mensch, der eigentlich nicht mehr lebt, acht Jahre lang einen ganzen Apparat von Ärzten und Pflegern auf Trab hält, ein Krankenhauszimmer belegt und den Staat jedes Jahr eine halbe Million Euro kostet.

Zeit seines Lebens galt Ariel Scharon als "Bulldozer". Kurz vor seinem Gehirnschlag im Januar 2006 allerdings hatte er sich in einen wendigen Bulldozer verwandelt - indem er den Gazastreifen von jüdischen Siedlern räumen ließ. Scharon galt stets als Vater der jüdischen Siedler, doch im Sommer 2005 ließ der Vater seine Kinder im Stich und zog 8000 Siedler aus dem Gazastreifen ab.

Sein Erbe ist der Trennwall

Der Abzug aus dem Gazastreifen war Scharons Lebensprojekt. Er verließ dafür seine Partei, den rechten Likud, gründete eine neue, Kadima, und überraschte die ganze Welt mit seinem Wendemanöver. Auch der Mauerbau im Westjordanland war Scharons Idee. Dahinter steckte ein simpler Plan, der bis heute Folgen zeitigt: Scharon hat nie an einen Frieden mit den Palästinensern geglaubt. Gazastreifenabzug und Mauerbau hatten nur den Zweck, sich von den Palästinensern abzuwenden, ihnen den Rücken zuzukehren.

Acht Jahre lag Ariel Scharon, mit kurzen Unterbrechungen, im Scheba-Krankenhaus von Tel Haschomer östlich von Tel Aviv in einem leichten Koma, er hat selbständig geatmet und wurde per Magensonde ernährt. Gewicht soll er nicht verloren haben. Ob das stimmt, ließ sich schwer überprüfen. Kein einziges Foto des berühmten Patienten ist in acht Jahren an die Öffentlichkeit gelangt, sein Krankenzimmer wurde Tag und Nacht bewacht.

In den vergangenen Jahren ist Ariel Scharon in Vergessenheit geraten, Kriege, Gaza-Einmärsche, Entführungen, Anschläge haben die Schlagzeilen beherrscht. Kein Politiker nach David Ben-Gurion hat Israels geografische Grenzen derart nachhaltig gezeichnet. Sein Erbe ist der Trennwall, ein in Beton gegossenes Eingeständnis, dass mit den Palästinensern kein Staat zu machen sei.

Verantwortlich für den Rückzug aus dem Gazastreifen

Beim Rückzug aus dem Gazastreifen nahm er sogar das Un-Wort "Besatzung" in den Mund, das eigentlich den Linken in Israel vorbehalten ist. Mit seiner Wandlung vom Bulldozer zum Pragmatiker hat Scharon auch die Herzen der Israelis erobert, die ihn verachtet haben. Plötzlich schien Scharon richtig verbunden: Das Amt des Regierungschefs und die Verantwortung für ein ganzes Volk hatten ihn sanfter gemacht. Frieden für Israel hat er nicht erzielt, aber einen Frieden zumindest: Den mit sich selbst.

In all den Jahrzehnten, in denen der 85 Jahre alte Ariel Scharon die israelische Politik dominierte, als Armeegeneral, als Außen-, Wohnungsbau- und Verteidigungsminister, als siedlerfreundlicher Likud-Parteichef oder zuletzt als Premierminister, war ihm eine Unangreifbarkeit zu eigen. Er ließ sich nicht aus der Politik verdrängen, obwohl ihm eine Untersuchungskommission in den achtziger Jahren eine Mitschuld an den Massakern in den im Libanon gelegenen palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila attestiert und ihm die weitere Ausübung des Amts untersagt hatte.

Auch irritierten ihn nicht die empörten Reaktionen westlicher Staatschefs, als er sich weigerte, Palästinenserpräsident Jassir Arafat die Hand zu schütteln. Und es brachte ihn nicht aus der Fassung, als ihm im Sommer 2005 eine Mehrheit seiner politischen Genossen im Likud die Gefolgschaft verwehrte und ihn mit Misstrauensanträgen torpedierte. Wie überhaupt der Gaza-Rückzugsplan und das dadurch ausgelöste politische Erdbeben Scharon rein äußerlich nichts anhaben konnten.

Die Farm als Refugium

Ariel Scharon während des Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973 mit dem damaligen Generalstabschef Haim Barlev

Der leicht verletzte Ariel Scharon während des Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973 mit dem damaligen Generalstabschef Haim Barlev.

(Foto: AFP)

Scheinbar ohne größere Gefühlsregungen verließ Scharon den von ihm 1973 mit gegründeten Likud und schuf eine neue Partei, "Kadima" (Vorwärts). In ihr wollte er seine Vorstellungen von Israels Zukunft verwirklichen. Die Zukunft sah er so: Raus aus Gaza, rein ins Westjordanland. Scharon wollte mit dem Abzug internationalen Druck abbauen - und gleichzeitig die jüdischen Siedlungen im Westjordanland in Blöcke zusammenlegen und vergrößern.

Regiert hat Scharon von Jerusalem aus, seinen Schutzschild verstärkte er zuhause auf seiner Schikmim-Farm in der Negev-Wüste. Die größte private Farm in Israel, auf der Rinder und Schafe gezüchtet und Obst und Gemüse für den Export produziert werden, war sein Refugium, sein Lebenselixier. Hier lebt Scharons ältester Sohn Gilad mit dessen Frau und den zwei Kindern, der jüngere Sohn Omri wohnt als Single in Tel Aviv. Auf dem riesigen Areal ließ Scharon seine zweite Ehefrau Lily begraben. Sie starb 1998 an Krebs, plötzlich war er allein, wieder allein. Zuvor war Scharon mit Lilys Schwester Margalit verheiratet gewesen, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

Die Farm unweit der von palästinensischen Kurzstreckenraketen heimgesuchten Stadt Sderot war auch ein Ort, an dem Scharon sich mit Ideologie betankt hat. Besucher nahm er mit auf eine Tour in seinem Jeep, lässig gekleidet in Jeans und Karohemd, gefolgt von einem Geländewagen voller bewaffneter Bodyguards. In den Orangenhainen pflückte er Früchte und diktierte Journalisten in den Stenoblock: "Das ist für mich Zionismus: Das Land zu bestellen, es zu besitzen."

Gegenüber der Tageszeitung Haaretz wurde Scharon seinem Ruf gerecht, kein Intellektueller zu sein: "Um ehrlich zu sein, ich verstehe mehr von Weizen und Olivenbäumen als von Politik." In seinem ganzen Leben hat er nicht einmal ein Wort mit den Schriftstellern Amos Oz oder Tom Segev gewechselt. Der Star-Kommentator Nachum Barnea sagt: "Ich bin mir nicht sicher, ob Scharon das Amt des Premierministers wirklich Spaß gemacht hat. Aber wenn er auf die Menge an potentiellen Anwärtern geschaut hat, hat er plötzlich wieder sehr viel Spaß an seiner Aufgabe bekommen."

Die Provokation am Tempelberg

Der Wechsel vom Oppositionspolitiker, der jahrzehntelang die Wahrheit für sich zurechtgebogen hat, zum Regierungschef verlief schleichend. Zeit seines Lebens hat Scharon, unzufrieden mit allen und allem, seine Spielkameraden, seine Armeekollegen, seine politischen Gefolgsleute, ausländische Politiker und vor allem die Medien angeblafft, belogen, gegen sie intrigiert. "Seine menschlichen Eigenschaften sind nicht das hervorstechendste Merkmal", hat der frühere US-Außenminister Henry Kissinger einmal über Scharon gesagt. Staatsgründer Ben-Gurion wird mit dem berühmten Satz zitiert: "Wenn Scharon doch bloß davon geheilt würde, stets die Unwahrheit zu sagen."

Den Gipfel der Unpopularität erzielte Scharon am 28. September 2000, als er, geschützt von einer Armada von mehreren Hundert Polizisten und Grenzschutzbeamten, auf der Esplanade des Tempelbergs spazieren ging - auf jenem Ort, der Muslimen heilig ist, nicht Juden. Die provokante Visite zwischen Felsendom und Al-Aksa-Moschee, die den Palästinensern und Jassir Arafat einen Vorwand für ihre zweite Intifada lieferte, verhalf Scharon zum höchsten Regierungsamt. Jenem Mann also, der das Friedensabkommen von Oslo als Verbrechen bezeichnet und jüdische Siedler noch 1998 dazu aufgerufen hatte: "Besetzt alle Hügel!" Das war der alte Scharon, der "Bulldozer".

Tatsächlich aber traute Scharon weder Arafat noch seinem glücklosen Nachfolger Machmud Abbas zu, die palästinensischen Terrorgruppen aufzulösen. Also überraschte Scharon die Welt (und sein Volk). Erst vorsichtig sprach er davon, dass die Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat besäßen. Später dann nahm er erstmals das Wort "Besatzung" in den Mund und konkretisierte seine Vorstellungen von einem Palästinenserstaat (die mit den Wünschen der Palästinenser allerdings nicht in Übereinstimmung zu bringen waren). Mit dem Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen löste Scharon ein politisches Erdbeben und bei den Palästinensern große Irritationen aus. Das war der neue Scharon.

Zu Reportern hat Scharon einmal gesagt: "Im Nahen Osten kann man Worten nicht trauen. Die Region ist ein Imperium voller Lügen. Das einzige, was hier zählt, ist Aktion." Dieser Prämisse folgend, hat Scharon Gaza räumen und den Zaun errichten lassen. Er wollte die Grenzen zu den Palästinensern bestimmen, ohne deren Einwilligung. Er wollte ihnen ein in Kantone zerstückeltes Palästina überlassen.

Denn Scharon, der gewendete Bulldozer, war auch - ein großer Pessimist. Ein Jahr vor seinem Schlaganfall gab er der New York Times einen sehr aufschlussreichen Einblick in sein ansonsten verschlossenes Herz: "Die Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten und Jordanien sind Verträge zwischen Staatschefs, keine Friedensabkommen zwischen Völkern und Nationen. Die arabische Welt ist noch nicht bereit, das Recht der Juden auf einen israelischen Staat in dieser Region anzuerkennen. Und ich bezweifle, dass sie es jemals sein werden."

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