Zivilcourage:Aufstehen gegen die Übermacht des Egoismus

Wie steht es um die Zivilgesellschaft in diesem Land? Der Rücktritt des Tröglitzer Bürgermeisters Markus Nierth zeigt: Gemeinschaft braucht Menschen, die nicht nur an sich denken. Doch die werden immer weniger.

Von Cornelius Pollmer

Es tritt zurück: der Bürgermeister einer winzigen Gemeinde in einem Bundesland, für das sich kaum jemand interessiert. Es tritt auf: die Öffentlichkeit, wuchtig und bundesweit. Sie zeigt Verständnis für Markus Nierth als Person, sie ist zugleich entsetzt über die Umstände seiner Demission - Nierth trat zurück, weil er sich wie ein "alleinrotierender Motor" fühlte, er fühlte sich verlassen in seinem Kampf gegen Rechtsextreme.

Was, bitte, lässt sich daraus lernen? Ganz bestimmt mehr als nur die Tatsache, dass Tröglitz im Burgenlandkreis, Sachsen-Anhalt, nun einen neuen Bürgermeister braucht.

Der Rücktritt Nierths ist eine reale Tragödie, aber er bleibt formal betrachtet zunächst ein Einzelfall. Das Interesse an diesem Einzelfall aber ist grundsätzlich und dies zu Recht, es ist getragen von einer bedeutsamen Frage: Wie steht es um die Zivilgesellschaft in diesem Land? Wer da gleich wieder pauschal unterscheiden will, zwischen Osten und Westen, zwischen Kröpfchen und Töpfchen, der unterschätzt das Problem.

Die Zivilgesellschaft des Ostens scheint weniger wehrhaft zu sein

Ja, die Zivilgesellschaft des Ostens scheint weniger wehrhaft zu sein als die im Westen. Es gibt nachvollziehbare Gründe dafür. Dem Osten ist vor einem Vierteljahrhundert erst ein anderes Land übergestülpt worden. Es folgten herausfordernde Jahre, und wer sein komplettes Leben neu organisieren muss, der kommt nicht als Erstes auf die Idee, ein Begegnungscafé zu eröffnen oder sich für den Gemeinderat aufstellen zu lassen. Der Osten hat also weiterhin Nachholbedarf, das stimmt. Das eigentliche Problem aber berührt die Gesellschaft in Ost und West gleichermaßen.

Die Übermacht des Egoismus verändert die Gesellschaft, das ist das Kernproblem. Nicht nur der Soziologe Heinz Bude hat einen "Optimierungswahn" ausgemacht, der schon in der Schule das Ideal des "gewieften Egotaktikers" lehrt, der an den Staat und das Leben später am lautesten eine sehr konkrete Frage stellt: Was ist hier für mich drin? Gegen diese Frage ist nichts einzuwenden, solange in ihrem Schatten nicht eine andere völlig außer Acht gerät: Worin kann mein Beitrag bestehen?

Persönliches Wohlergehen ist für viele in einem unnötig überwältigendem Maß wichtiger als das Wohlergehen der Gemeinschaft. Selbst das wäre noch kein Problem, erhielte der beschämend kleine Teil der Gesellschaft, der für mehr eintritt als nur sich selbst, ein wenig mehr Anerkennung. Der günstigste Fall aber ist de facto der, dass Ehrenamtliche ihre Arbeit einfach machen, ausgestattet mit dem stillen Mandat einer sattsamen Mehrheit. Der ungünstige Fall sieht dann so aus, dass diese Menschen bedrängt werden wie Markus Nierth und dass sie den Zorn auch derer auszuhalten haben, die für die Gemeinschaft nie einen Finger krümmten.

Als clever und erfolgreich gilt also, wer sein Ich voranbringt

Als clever und erfolgreich gilt, wer das meiste für sich herausholt: beim Workout, bei der Steuer oder beim Online-Preisvergleich für den neuen Laserdrucker. Als clever und erfolgreich gilt also, wer sein Ich voranbringt. Gemeinschaft aber braucht Menschen, die an mehr denken, sie braucht Ich-plus-x-Menschen. Die Anerkennung für diese Menschen erschöpft sich oft in der Verleihung einer Ehrennadel und einem gelegentlichen "Toll machst du das!" (in dessen Subtext gerne auch ein "Würde ich ja nicht machen" versteckt ist).

Wer sich vom Rücktritt Markus Nierths betroffen fühlt und wer denkt, dass so etwas nicht passieren darf, der sollte daraus im Idealfall einen Handlungsimpuls in eigener Sache ableiten. Die Alternative möchte man sich lieber nicht ausmalen: Wenn Menschen wie Markus Nierth sich eines Tages nicht mehr um die Gesellschaft kümmern, dann "kümmern" sich darum federführend jene, die ihn jetzt verdrängt haben.

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